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Aus Anlass der diesjährigen Verleihung des Kurt-Schwitters-Preises für Bildende Kunst der Niedersächsischen Sparkassenstiftung an das Atelier van Lieshout (AVL) schafft das Künstlerkollektiv im Sprengel Museum Hannover eine neue, mehrere Räume übergreifende Großinstallation unter dem Titel „Der Technokrat“. Die fertige Arbeit wird etwa zehn bereits existierende und circa 14 eigens für das Sprengel Museum Hannover entworfene skulpturale Stücke sowie Zeichnungen und Entwürfe umfassen. Die Ausstellung wird im Rahmen der Preisverleihung am 7. November 2004, 11.15 Uhr, eröffnet. Die Laudatio hält Harald Szeemann.

„Der Technokrat“ thematisiert elementare biologische Prozesse des täglichen Lebens wie Nahrungsaufnahme, Verdauung, Entsorgung und Recycling. Van Lieshout radikalisiert die physiologischen Zwänge, denen ein zur Verdauungsmaschine reduzierter menschlicher Körper unterliegt. Dessen einziger Existenzzweck besteht scheinbar allein in der Produktion von Biogas und der Eingliederung in die biologische Nahrungskette aus Entstehen und Vergehen. Auf humorvolle, teils ironische Weise kommentiert van Lieshout die Stellung des modernen Menschen in einer hoch technisierten Gesellschaft, die nur scheinbar grenzenlose Möglichkeiten und Freiheit garantiert.

Das Atelier van Lieshout (AVL), 1995 von Joep van Lieshout (geboren 1963 in Ravenstein, Niederlande) gegründet, experimentiert mit unkonventionellen Formen künstlerischer Zusammenarbeit. So ist in den letzten Jahren ein stringentes und überaus komplexes Werk entstanden, das an der Schnittstelle von Kunst, Design und Architektur angesiedelt ist. Zahlreiche Einzelausstellungen in wichtigen Museen machten den Künstler Joep van Lieshout und das AVL international bekannt, so z.B. im PS1 in New York, dem Museum für Gegenwartskunst, Zürich, dem Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam und durch Teilnahmen an verschiedenen Biennalen und auf der Expo 2002 in Biel. Einrichtungen von AVL/Joep van Lieshout (von Toilettenanlagen, Bars, Cafeterien bis zu Büromodulen und Eingangsbereichen) finden sich weltweit in Kunst- und Kulturinstituten, Bibliotheken, Theatern und privaten Sammlungen.

Als Grenzgänger überschreitet van Lieshout seit den Anfängen seiner Laufbahn die ehemals autonomen Kategorien des Schönen und des Nützlichen. 2001 erklärte der Künstler sein Atelier am Rotterdamer Hafen zum freien Staat „AVL-Ville“, in dem individuelle Freiheit, Gleichheit und Ehrlichkeit als Werte verankert sind. Zwischen Warenwelt und Avantgarde oszillierend, erfüllen hier Einrichtungen wie mobile Wohnungen, eine Akademie, ein Bauernhof, aber auch Heizungssysteme und Kompostierungstoiletten vitale kommunale und infrastrukturelle Funktionen.

Der Kurt-Schwitters-Preis der Niedersächsischen Sparkassenstiftung wird dieses Jahr zum fünften Mal von einer international besetzten Jury vergeben. Anliegen ist dabei, „… Künstler zu berücksichtigen, deren Werk durch die Berufung auf Kurt Schwitters gekennzeichnet ist und sich durch das Vorwagen in neue Bereiche künstlerischen Gestaltens und künstlerischer Vorstellungen auszeichnet oder deren Werk einen Beitrag zur Verbindung und Integration der künstlerischen Gattungen leistet.“ Der Preis ist mit 25.000 Euro dotiert.

Der Technokrat (Gebrauchsanweisung)

Der Technokrat stellt einen geschlossenen Kreislauf von Nahrung, Alkohol, Exkrementen und Energie dar. In diesem System ist der Mensch nur ein Zahnrad, das ausreichend Rohmaterial zur Erzeugung von nutzbarem Biogas zur Verfügung stellt. Das Biogas wiederum wird für die Zubereitung von Nahrung und Alkohol verwendet, um den Bürger in Funktion zu halten.

Der Technokrat besteht aus 4 Teilen, welche nachfolgend aufgeführt sind. Folgen sie der Anleitung und lernen sie, den Technokrat selbst zu bedienen.

1. Der Bürger Für ein korrektes Funktionieren des Systems werden 1000 Bürger benötigt. Sie werden Platz sparend in Etagenbetten verwahrt. Abhängig vom Vorrat an Bürgern und der Verfügbarkeit von Nahrung kann ihre Lebenserwartung bei Bedarf manipuliert werden. Im täglichen Ablauf sollten folgende Arbeitsschritte durchgeführt werden:

-Kontrolle der Sauberkeit der Bürger -Entfernung, Wiederverwertung und Ersatz von nicht funktionierenden Bürgern -Kontrolle der Rohrleitungen für Fütterung und Exkrement-Absaugung -3 x täglich Verabreichung an die Bürger in der Reihenfolge von: 600 Liter Nahrung vom "Fütterer" -133 Liter Alkohol -600 Liter Wasser -nach der Fütterung erfolgt die Reinigung der Rohrleitungen mittels Druckluft

2. Die Total-Fäkal-Endlösung Bei der Total-Fäkal-Endlösung werden menschliche Exkremente in besessener Weise wiederverwertet. Die Exkremente werden mit Hilfe von Vakuumpumpen aus den Bürgern gesaugt und in 2 Biogas-Reaktoren gepumpt, wo der Auswurf in Folge vermengt und erhitzt wird. Unter diesen speziellen Bedingungen kommt es zur Bildung von Methangas als bakteriellem Abfallstoff. Das Gas wird gereinigt, getrocknet und in einem Gasometer für die spätere Nutzung aufbewahrt: für die Nahrungszubereitung und das Destillieren von Alkohol. Alle Abfallstoffe werden restlos wiederverwertet zu nützlichen Produkten: Gas, Wasser, Kompost.

-regelmäßige Überprüfung der Temperatur und des Säuregrades -Kontrolle der Rohrleitungen und des Wasserstandes der Sicherheitsapparatur -feste Abfallstoffe zum Auto-Komposter und aufbereitetes Klärwasser zum Wasserturm pumpen

3. Der Fütterer Diese Vorrichtung produziert und verabreicht preiswerte Nahrung, welche einen maximalen Ausstoß an Fäkalien erzeugt. -Berechnen des Speiseplans, basierend auf verfügbaren Zutaten und gewünschter Lebenserwartung des Bürgers -Befüllen des Kochers mit Wasser und Öffnen des Dampfventils -Wiegen und Zugeben von Reststoffen aus dem Malz- und Destillierprozess und von sonstigen genießbaren Stoffen -Wiegen, Mahlen und Zugeben von Getreide, Hülsenfrüchten, Blatt-, Wurzel- und Knollengemüse -Wiegen und Zugeben von Ölen und anderen Flüssigkeiten -Mahlen und Zugeben von Fleisch, falls verfügbar -30 min. kochen lassen -Pürieren bis eine glatte, sämige Konsistenz erreicht ist -Einschalten der Zufuhr-Pumpe zur Fütterung der Bürger

4. Der Alkoholator Um den Bürger zufrieden zu halten wird die Verabreichung von Alkohol empfohlen. Die Alkoholherstellung ist ein Prozess in 3 Schritten: Erstens wird eine Pulpe mit hohem Stärke- oder Zuckeranteil hergestellt, zweitens erfolgt die Gärung bis zu einer Lösung mit ca. 15% Alkohol. Letztens dient der Destillierapparat zur Ausfilterung des Substrats und der Steigerung des Alkoholgehalts bis zu 96%.

Pulpe: Zutaten zermahlen bis zu einer mit Sand vergleichbaren Konsistenz und 300 Liter Wasser zugeben. 30 min. kochen lassen und nochmals 300 Liter Wasser zugeben sowie 12 kg Malz. Püriergerät für 30 min. einschalten.

Gärung: Pulpe filtern, die Filter-Rückstande zum Fütterer als Nahrungsergänzung leiten und das Substrat zum Gärungskessel pumpen. PH-Wert unter Zuhilfenahme einer Säure bzw. Base auf 4,5 einstellen. Substrat bis auf 30˚C abkühlen lassen und 0,5 kg Bierhefe zufügen. Kessel schließen und Substrat 3 x täglich mischen, nach 3 Gärungstagen sollte der Alkoholgehalt bei 10-15% liegen. Das Substrat zum Destillierapparat leiten und den Gärungstank vor erneuter Befüllung gründlich säubern.

Destillation: Die Destillation erfolgt in 2 separaten Geräten: Das erste produziert 50 Liter Methanol für den Gebrauch als Giftstoff, das zweite 400 Liter genießbaren Alkohol. Nach Ablauf von 4 Stunden ist der Destillierprozess beendet. Das Methanol wird für eventuell späteren Gebrauch aufbewahrt, der genießbare Alkohol kann zu den Bürgern weitergeleitet werden.

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Atelier van Lieshout "Der Technokrat"
Kurt-Schwitters-Preis 2000 für Bildende Kunst

Künstler:
Atelier van Lieshout

Kuratoren:
Ulrich Krempel

Namensgeber:
Kurt Schwitters