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Nach der Erkundung von fotografierter Sexualität und der voyeuristischen Begierde des Mediums selbst in „Darkside I – Fotografische Begierde und fotografierte Sexualität“ im vergangenen Jahr, wird im Fotomuseum Winterthur nun das andere Ende des körperlichen Spektrums ausgeleuchtet: Der Weg vom intakten, integren Körper zum versehrten, verwundeten, verstümmelten, verwitternden und verwesenden Körper.

Zu Beginn werden positive Energien des Körpers thematisiert: Etwas aufs Spiel setzen, sich hinauswagen, sich einlassen, ohne das Ende des Flusses, des Spiels, des Kampfes zu erahnen. Der Körper geht aus sich heraus, will sich messen, sucht das Risiko, um Lust und Verbindung zu finden. Er springt ins Wasser, steigt in den Ring, setzt seine Integrität aufs Spiel. Ambivalent, aber getrieben von positiven Energien, von Kraft, Ehrgeiz, Erotik – und immer freiwillig. Der Körper ist hier weitgehend integer, bleibt, obwohl er sich aussetzt, homogen. Er strahlt auch nach dem Kampf, lächelt trotz möglicher körperlicher und mentaler Blessuren. Doch die Grenzen verschieben sich im Fortgang. Free fighting etabliert sich gegenwärtig im Ring und im Alltag. Der Körper als verlässlicher, unersetzbarer Hort des Seins, meist nur natürlichen Schwankungen und Entwicklungen ausgesetzt, wird umdefiniert, neu bestimmt, wird geritzt, gepusht, gespritzt. Er magert ab, richtet sich aus, fügt sich den neuen Bildern. Seine Integrität wird verletzt. Überformt und durchdrungen von vielen kulturellen Körperbildern, von neuen, teils widersprüchlichen Identitäten, wandelt er sich vom Haus zum Werkzeug, zum Instrument, das neu geschliffen, neu poliert, das trainiert und optimiert wird.

Dann öffnet sich der Körper: Er ist verletzt, verwundet, er wuchert, wird vergiftet, es gärt und fault in ihm. Bei Sophie Ristelhuebers Fotografie ist es diese unglaubliche Naht am Rücken einer Frau. Der Körper muss mit einem langen Schnitt geöffnet worden sein, offengelegt, behandelt und mit vielen Stichen wieder vernäht. Die grosse Narbe wird lange, wird immer an diesen Akt, an die Offenlegung des Inneren denken lassen. Narben überziehen und prägen die Erde, die Berge, die Menschen, die Körper und Seelen und erinnern an die Fragilität von Körpern, an die temporären oder permanenten Versehrungen. Sind Eingriffe notwendig, dann fügt sich der Körper für die Zeit des Eingriffs in ein Aussen-, ein Ersatzsystem ein und verliert, demütig fast, seine Souveränität. Körper sind heftigen Gewalten ausgesetzt: sie kollidieren, prallen aufeinander, zerbersten, explodieren; Körper werden angeschossen, verletzt, aufgeschlitzt, abgeschossen, vergewaltigt, verstümmelt, zerstückelt; Körper werden hingerichtet, gehängt, geköpft, durch Stromstösse ausgelöscht. Der Energievektor hat seine Richtung gedreht. Der Körper tritt nicht mehr nach aussen, setzt sich aus, vermählt sich, erobert seine Welt, vielmehr erfährt er eine heftige Schubumkehr der Energien. Körperliche, mentale und emotionale Gewalten greifen seine Integrität an, verletzen sie, vernichten das geistige und materielle Körpersystem. Bilder von häuslicher Gewalt, von Mordanschlägen, von kriegerischen Angriffen, Bombenexplosionen, Hinrichtungen, Massenvernichtungen, von Volkshass und von struktureller, gesellschaftlicher Gewalt durchziehen diese Kapitel der Ausstellung.

Allmählich verwittert der Körper, er altert, schrumpft, versteift sich, er vergeht, löst sich auf und verwest. Was bleibt? Die Behauptung der Würde gegen das Vergehen des Körpers, dann der Tod, der bloße Körper, Rituale der Bestattungen und der Erinnerung, das anatomische Wissen um den Körper. Der Tod ist, im Gegensatz zum Leben, ein wenig greifbarer, abstrakter Begriff, ein Begriff, der sich negativ definiert: Entleerung von Energie, Abwesenheit von Leben, von Beseelung. Ein merkwürdiges, existentielles Nichts.

Gewalt zieht Bilder an. Die Bilderwelt des Abendlandes ist voller Gewaltdarstellungen: wilder vagabundierender Gewalt ebenso wie kriegerischer Gewalt, ordnender, staatlicher Gewalt. In merkwürdiger Verkehrung schlossen die Gesellschaften Bilder von lebensbejahender, lebensver-mehrender Sexualität weg, belegten sie mit dem Bann der Dunkelheit, des Abseitigen, während Bilder dunkler, exzessiver Gewalt bis heute ans Licht gerückt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig und vielschichtig: Sie wirken ähnlich wie Substantive, wie Benennungen, die durch die Darstellung trösten, das Grauen zu fassen versuchen. Sie sind aufputschend, elektrisierend für alle, an denen das Grauen unbeteiligt vorbeigezogen ist. Sie lesen sich wie Mahnmale, wie visuelle Gesetzestafeln, wenn darin staatliche, judikative Gewalt dargestellt wird. Sie wollen aufklärerische, anklagende Manifeste, moralische Anklagen sein, dem abgebildeten Grauen ein Ende setzen. Und sie sind auflagesteigernd. Bilder des Grauens, Schreckens, Mordens und Brennens: schockierende Fotografien faszinieren, aus den angeführten Gründen, aber auch aus einer Lust heraus, ins Dunkle, in die Schattenseiten des zivilisierten, geordneten Lebens zu schauen. Teilhaben, ohne teilzunehmen – ein Voyeurismus der Gewalt und der Gewaltdarstellung.

Umgekehrt ziehen Bilder selbst Gewalt an. Bildern entspringt Kraft und Macht. Sie wollen nicht nur repräsentieren, sondern zeigen, präsent, monstrativ sein. „Jedes Bild ist eine Monstranz. Das Bild ist monströs“, schreibt Jean-Luc Nancy und fügt bei, „monstrum steht für ein Wunderzeichen […], das vor einer göttlichen Bedrohung warnt.“ Bilder müssen auftreten können, sich vereinfachen können, sie müssen sich aus dem Nichts erheben, sich nach aussen darstellen. Dieser Bildkraft sind die Kraft des Faktischen, die Macht der realitätsnahen Darstellung in der Fotografie beizufügen, verbunden mit dem framing, dem örtlichen und zeitlichen Ausschneiden des Bildes aus dem Kontinuum der Wirklichkeit durch den Sucher der Kamera, und die Wahl von Zeit und Blende, das absolute Bestimmen dessen also, was ins Bild kommt und was herausfällt, was nahe und was nur von weit weg, was scharf und was unscharf gezeigt wird. Diese Macht ist eine dem Medium Fotografie innewohnende Eigenschaft. Zudem erkennen wir eine Art performativer Macht: Der Akt des Fotografierens ist nicht nur ein Dokumentieren, er ist immer auch ein Eingriff ins Geschehen. Kinder lachen, Frauen weinen – weil sie fotografiert werden. Bestimmte kriegerische Akte geschehen nur, weil eine Kamera (ein Fotoapparat, eine Fernsehkamera) zugegen ist.

„[...] it is not by means of the image that moral, ethical, or political knowledge is produced“, zitiert Abigail Solomon-Godeau Platon zu Fragen der Ästhetisierung des Grauens. Rund 2400 Jahre später leben wir in einer visuell aufgerüsteten Medienwelt, in der das Neue, noch Nähere, noch Schrecklichere redundant geworden sind. Und Trotta, eine Figur in der Erzählung „Drei Wege zum See“ von Ingeborg Bachmann, klagt seiner Freundin, einer Fotografin: „Glaubst du, dass du mir die zerstörten Dörfer und die Leichen abfotografieren musst, damit ich mir den Krieg vorstelle, oder diese indischen Kinder, damit ich weiss, was Hunger ist? Was ist das denn für eine dumme Anmassung. [...] man schaut sich doch Tote nicht zur Stimulierung für Gesinnung an.“ Die Fragen, für wen Bilder von Krankheit, Gewalt und Tod gemacht werden, wer der Absender, der Auftraggeber, der Adressat ist, welche Absicht damit verbunden – all diese Fragen sind bei Bildern des Grauens, des körperlichen, menschlichen Schreckens immer wieder von Neuem zu stellen, denn es ist selten das Bild allein, sondern immer der Gesamtkontext, der solch heftige Bildwelten entweder als sinnvoll oder als sinnlos, gar als nur noch schrecklich erscheinen lässt. Jedoch gilt: Die Realität ist immer gewalttätiger als jede Bildwelt.

Die Ausstellung thematisiert diese dunklen Seiten des Körpers und viele der Fragen, die sich durch die fotografische Repräsentation stellen. Es begleitet deshalb nicht nur ein umfangreicher Bildband die Ausstellung, vielmehr werden Fragen zu Fotografie und Gewalt, Fotografie und Tod in elf verschiedenen Essays diskutiert.

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Dark Side 2
Fotografische Macht und fotografierte Gewalt, Krankheit und Tod
Kurator: Urs Stahel

Künstler: Micha Bar-Am, Elisa Gonzalez Miralles, Antoine d´Agata, Christian Boltanski, Sophie Calle, Hans Danuser, Maria Friberg, Nan Goldin, Fred Holland Day, Peter Hujar, Sally Mann, Enrique Metinides, Miyako Ishiuchi, Shirin Neshat, Gilles Peress, Walid Ra´ad, Sophie Ristelhueber, Andres Serrano, Fazal Sheikh, Cindy Sherman, W. Eugene Smith, Weegee , Francesca Woodman ...