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Vom 25. März bis 22. November dieses Jahres steht das Ausstellungsprogramm des Badischen Kunstvereins unter dem Titel ”Kritische Gesellschaften“. In einer Abfolge von vier Ausstellungskapiteln, die ohne Umbaupausen ineinander greifen, werden Arbeiten von mehr als 35 internationalen Künstlern vorgestellt, die zum Teil speziell für dieses Ausstellungsprojekt entwickelt und realisiert wurden. Bezugspunkt für alle Beiträge ist die Fragestellung, ob und wie aktuelle Kunstproduktion heute (noch) die Bewährungsproben für die Zukunft einer "kritischen" Gesellschaft ästhetisch begreift und reflektiert.

Die kapitalistische Gesellschaft, in der wir leben, ist im wesentlichen eine "kritische Gesellschaft": alle Akteure verfügen im Prinzip über Möglichkeiten zur kritischen Artikulation. Kritik sei einer der "wirkungsmächtigsten Motore des Kapitalismus" - so schreiben die Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem vieldiskutierten Buch ”Der neue Geist des Kapitalismus“ (Konstanz 2003, Paris 1999). Kritisches Engagement identifiziere und aktualisiere die grundlegendsten Prüfungssituationen einer Gesellschaft für ihre weitere Dynamik. Wenn Kritik ein Merkmal unserer gesellschaftlichen Organisation und Teilhabe ist, rechtfertigt das ein Engagement für den Kapitalismus?

Angelbegriffe einer Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert waren Forderungen nach Sicherheit und Gerechtigkeit. Kritik aus künstlerischer Perspektive behauptete demgegenüber Werte wie Autonomie und Authentizität. Bis in die 70er Jahre hinein verstand sich ˇ auch die künstlerisch artikulierte ˇ Gesellschaftskritik als eine, die Widersprüche identifizierte und Forderungen artikulierte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man nicht behaupten, dass die Welt sicherer oder gerechter geworden sei.

Was verspricht der Kapitalismus heute? Was motiviert Menschen zu einer kritischen Teilhabe am Gemeinwesen? Wie muss eine Lebensform beschaffen sein, damit eine große Anzahl von Akteuren sie als lohnenswert erachtet?

Kreativität, Flexibilität, Individualität, Mobilität sind die gefragten "Soft Skills" in einer deregulierten Arbeitswelt. Autonomie erscheint als Umschreibung instabiler Lebensentwürfe, Authentizität als Marketing-Strategie. Kann unter diesen Umständen eine sozial oder künstlerisch artikulierte Kritik heute noch ein emanzipatorisches Potential haben?

Die Ausstellungsreihe "Kritische Gesellschaften" orientiert sich an vier "Überschriften": Quellen der Empörung /Grenzenlose Soziabilität / Ökonomien : Resistenzen / Ressourcen - Politics of Belief. In jedem dieser Kapitel werden einzelne Werke aus den 70er Jahren (Stichwort: "Künstlerkritik") aktuellen künstlerischen Produktionen gegenübergestellt.

Die inhaltliche Korrespondenz der vier Kapitel erlaubt es, das Medium "Ausstellung" als ein temporäres und relatives Projekt zu praktizieren und sichtbar zu machen: Werke finden während ihrer Ausstellungsdauer verschiedene Nachbarschaften, es sind keine Schließungszeiten für den Umbau von Ausstellungsblöcken vorgesehen.

Die Ausstellungssituationen werden kommentiert und begleitet von Vorträgen, Diskussionen und Filmprogrammen. Text- und Bildbeiträge aus den "Kritischen Gesellschaften" werden anschließend in einem Reader publiziert.

Zu den Eröffnungsveranstaltungen der vier Kapitel erhalten Sie jeweils eine gesonderte Einladung.

KRITISCHE GESELLSCHAFTEN:

I. QUELLEN DER EMPÖRUNG Eröffnung: Donnerstag, 24. März um 19 Uhr Empörung ist eine impulsive Emotion auf der Basis von Wertvorstellungen. Empörung wird ausgelöst, wenn Grenzen überschritten werden, Grenzen der subjektiven Integrität oder innerhalb des Moralkodex einer Gesellschaft. Empörende "Reality" ist heute medial und mit kurzfristigen Effekten rund um die Uhr abrufbar. Mehr noch: Empörung wird provoziert und produziert, um sie als Spektakel ins Bild zu überführen. Die Welt liegt den bilderzeugenden Apparaten zu Füssen. Der Kapitalismus generiert die visuellen Codes der öffentlichen Medien als eine ”antinarrative Zentrifuge“ (Christoph Hochhäusler, in Ausst.Kat. 'Stories', München 2002 ). Kann sich Empörung überhaupt noch auf Adressaten übertragen? Kann Kunst noch "Empörendes" vermitteln, indem sie besondere Bildwelten in einem besonderen Kontext präsentiert?

II. GRENZENLOSE SOZIABILITÄT Eröffnung: Freitag, 20. Mai um 19 Uhr Individuelle und gesellschaftliche Lebensformen organisieren sich heute in temporären Netzwerken. Biografien können und müssen sich nicht mehr an hierarchischen Lebensentwürfen orientieren, sondern Zukunft unter wechselnden äußeren Bedingungen als "Unternehmen ihrer selbst" realisieren. Komplexe, kommunikative Netzwerke erfordern vielseitig angeschlossene Subjekte, die ihr Ein- und Auskommen kreativ, schnell und selbstverantwortlich regeln. Das Leben - ein riskantes Projekt? Der Halt in Netzwerken ist so partiell und temporär wie sie selbst. Künstlerische Arbeiten reflektieren den entgrenzten öffentlichen wie privaten Radius von Handlungen und Projektionen, die Exklusivität einer globalisierten Zeichensprache, den Status des Einzelnen, seiner Orientierungen, Bindungen und Ausschlüsse. Welche Qualität bietet der ästhetische Rahmen für Nicht-Integrierbares und Inkompatibles?

III. ÖKONOMIEN : RESISTENZEN Eröffnung: Freitag, 8. Juli um 19 Uhr Auslöser für eine Kritik des ökonomischen Systems waren im 19. und 20. Jahrhundert Forderungen nach Sicherheit und Gerechtigkeit, Autonomie und Authentizität. Globale Ungerechtigkeit ist heute die bewegende Motivation der Globalisierungskritiker. Mit dem Ende des ideologischen Blockdenkens wurde eine fundamentale Kritik am kapitalistischen System jedoch schwach oder ohnmächtig, da sie sich nicht mehr an Gegenentwürfen orientieren kann. Eve Chiapello und Luc Boltanski konstatieren in ihrem Buch ”Der neue Geist des Kapitalismus“, die Künstlerkritik der 60er und 70er Jahre sei gescheitert ”in dem Sinne, als die Emanzipation der Begierde... nicht den Anfang vom Ende des Kapitalismus eingeleitet hat. Um dies zu glauben, musste man die Augen davor verschließen, wie sehr die Freiheit Teil des Kapitalregimes und wie eng dieses kapitalistische System mit dem Begehren verbunden ist, auf dem ein Großteil seiner Dynamik beruht.“ Gibt es noch ein Versprechen des Kapitalismus auf Zukunft? Und wer spricht davon?

IV. RESSOURCES - POLITICS OF BELIEF Eröffnung: Freitag, 9. September um 19 Uhr ”Die Ökonomisierung lässt sich aber auch von einem anderen Standpunkt aus betrachten, der auf einer - zumeist impliziten - Künstlerkritik beruht und auf dem Angebot (statt der Nachfrage, AdR) beruht. Ein bestimmtes Gut soll nicht deshalb außerhalb der Marktsphäre verbleiben, weil seine Vermarktung die prinzipiell gleiche Würde der Verbraucher verletzen würde. Seine Ökonomisierung muss vielmehr deshalb ausgeschlossen sein, weil es gegen die Würde des Gutes selbst verstößt, wenn es durch die Kodierung 'denaturiert', in ein Produkt verwandelt und - wenn man so will - 'entfremdet' würde.“ (Boltanski, Chiapello, s.o.) ”Glauben ist eine soziale Praxis, wenn nicht sogar die soziale Praxis überhaupt. Ohne Glauben keine Gesellschaft. Glauben ist eine Produktivkraft. Der gemeinsame Glauben produziert den sozialen Zusammenhalt, der zur Grundlage von Gruppen, Gemeinschaften und Staaten wird. Zugleich ist Glauben aber auch die Grundlage für materielle Produktion. Wenn wir nicht glauben würden, dass es notwendig ist, Dinge durch Arbeit zu produzieren, würden wir es wahrscheinlich nicht tun.“ (Jan Verwoert, Katalog Ross Sinclair, Karlsruhe 2004)

Pressetext

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KRITISCHE GESELLSCHAFTEN
Abfolge von vier Ausstellungskapiteln
Kunst, Kritik und die Versprechen des Kapitalismus
Kuratorin: Angelika Stepken

mit Eylem Aladogan, Fikret Atay, John Baldessari, Carol Bove, Heather & Patrick Burnett-Rose (Heather Burnett), Park Chan Kyong, Stephen Craig, Lukas Einsele, Hans-Peter Feldmann, Lutz Fezer, Hans Haacke, Jens Haaning, Florian Hecker, Anthony Howard, Indra , Runa Islam, Eva Keil, Thomas Kilpper, Skafte Kuhn, Annika Larsson, Matthieu Laurette, Marlene McCarty, Isa Melsheimer, Aydan Murtezaoglu / Bülent Sangar, L.A. Raeven, Oliver Ressler, de Rijke / de Rooij, Kirstine Roepstorff, Martha Rosler, Kai Schiemenz, Dierk Schmidt, Allan Sekula, Ross Sinclair, Michael Stumpf, Simon Wachsmuth, Stephen Willats, Carey Young