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Wann bin ich mich selber? Wo hört meine Selbständigkeit auf? Erliege ich der Faszination der Masse? Wie beuge ich mich ihrem Druck? Wann fühle ich mich aufgehoben in einem grösseren Ganzen? Weshalb exponiere ich mich? Wann ziehe ich mich zurück? Die Ausstellung me & more thematisiert das Ich im Spannungsfeld von Individualität und Auflösung. Die Dramaturgie der Ausstellung, der unmittelbar ansprechende Charakter der Kunstwerke und die besondere Architektur der Museumsräume in Jean Nouvels KKL ermöglichen neben der Begegnung mit herausragenden Werken der internationalen Gegenwartskunst zugleich eine unvergessliche Erfahrung unseres eigenen Ichs und dessen variabler Grenzen.

Im Eröffnungsraum werden die Ausstellungsbesucher von einer Installation der Schweizer Videokünstlerin Tatjana Marusic empfangen und eingeladen, an ihrer interaktiven Arbeit teilzunehmen. Als Individuen posierend bleiben sie über die weitere Verwendung des geschossenen Porträts weitgehend im Unklaren. Erst viel später im Ausstellungsrundgang werden sie sich in einem neuem Kontext wieder begegnen. Ein Ableger dieser Arbeit wird in einer Variante während des Lucerne Festivals (15. August bis 20. September) im Foyer des Luzerner Saals des KKL präsent sein.

In der grössten je zusammen ausgestellten Gruppe ihrer lebensgrosser Skulpturen inszeniert die polnische Bildhauerin Magdalena Abakanowicz im grossen Ausstellungssaal des Kunstmuseums Luzern ihr Werk Hurma (Schar) von 1993-2001. 250 kopflose Jute-Halbhohlformen von Erwachsenen und Kindern verharren als schweigende Masse, unwillig zu handeln, oder daran gehindert. Seit den 1960er Jahren, als sie in der Schweiz als Textilkünstlerin sozusagen entdeckt wurde, ist das Werk dieser inzwischen international renommierten Künstlerin in Schweizer Museen bis heute in Luzern nicht mehr angemessen gewürdigt worden.

Die qualitativ bestechenden grossformatigen Fotoarbeiten des in Deutschland ausgebildeten und an der Pekinger Kunstakademie lehrenden Miao Xiaochun lenken unseren Blick auf den Kontext, der jedes Individuum bestimmt. Der Künstler setzt sein skulpturales Ebenbild - versehen mit den zeitlosen Attributen eines chinesischen Gelehrten - in Szene und evoziert dadurch die Bedeutung sowohl der örtlichen Umgebung wie der historischen Dimension zur Bestimmung des Subjekts.

Die junge afroamerikanische Künstlerin Laylah Ali ist eine Entdeckung für Europa. Das Kunstmuseum Luzern zeigt in einem Raum zwanzig ihrer Papierarbeiten. Diese Auswahl entspricht zugleich einer dieses Frühjahr in der Albright Knox Art Gallery (Buffalo, NY) und der Atlanta College of Art Gallery gezeigten Einzelausstellung dieser viel versprechenden Künstlerin. Ihre kleinen, subversiven Gouachen sprechen - in einem vordergründig harmlosen Comicstil - von Machtkonstellationen und von der Fiesheit politischer und sozialer Gewalt.

Yishai Jusidman ist ein junger mexikanischer Künstler, dessen in Luzern gezeigten Werkserie mutatis mutandis (1999) einerseits mit einem raffinierten konzeptionellen Ansatz künstlerische Medien thematisiert, andererseits mit ihrer Bildlichkeit weit über rein formale Anliegen hinausweist. Die aufgrund fotografischer Porträts von Psychiatriepatienten auf Leinwand gemalten Bildnisse fotografiert Jusidman erneut und überlagert diese Fotos mit den Originalaufnahmen. Die Unschärfen und Abweichungen sind nicht zuletzt ein Sinnbild für die unscharfen Grenzen des Ichs oder - pathologisch gesprochen - zwischen Normalität und Wahnsinn.

Die amerikanische Künstlerin Kiki Smith gilt als Vertreterin der sog. "abject art ". In ihrem jüngeren Werk thematisiert sie direkter als früher auch Mythen und Märchen und nutzt deren tiefenpsychologisches Potenzial. Mit ihrer Arbeit Puppet (1999) setzt sie ein ambivalentes Wesen in die Welt, dessen Ausgeliefertsein als Marionette mehr als aufgewogen wird durch seine dämonische Ausstrahlung.

Ernesto Neto, einer der bekanntesten brasilianischen Künstler der Gegenwart, hat mit seinen Humanóides (2001) Werke geschaffen, die sowohl als reine Skulpturen wie auch als interaktive Objekte funktionieren. Ziehen wir sie uns gleichsam wie eine zweite Haut über, entfalten sie auf spielerische Art eine identitätsverändernde oder -bewusst machende Wirkung.

Mit Antony Gormley ist einer der profiliertesten britischen Bildhauer und der Turner-Preisträger von 1994 hier in Luzern erstaunlicherweise zum ersten Mal in einem Schweizer Museum prominent zu Gast, und das gleich mit einem seiner spektakulärsten Werke. European Field, 1994 in Südschweden zusammen mit einer Schar von Freiwilligen realisiert, bildet quasi das atmosphärische Herzstück von me & more. Zigtausende kleiner Terracottafigürchen werden zu einem Meer aus gebrannter Erde, die einzelnen Identitäten verschmelzen zur anonymen Masse, und eine inverse Ausstellungssituation versetzt die Betrachter gleichsam auf die Bühne.

Vom Eingebundensein in die eigene Tradition und vom Fremd-, Ausgesetztsein in anderen Kulturen handeln die Arbeiten des chinesischen Künstlers Zhang Huan. Die unlösbare Familienzugehörigkeit überlagert in der bekannten Fotoserie Family Tree buchstäblich die individuellen Gesichtszüge des Künstlers, während sein Video My America (Hard to Acclimatize) eine Performance wiedergibt, in der Zhang Huan religiöse und spirituelle Rituale aus verschiedenen kulturellen Kontexten kombiniert und auch persönliche Erfahrungen als chinesischer Emigrant in den USA thematisiert.

Das Ich im grossen Zusammenhang ist ein urromantisches Thema. In diese Tradition lässt sich eine Gruppe von Gemälden von Ross Bleckner einreihen, einem Maler, der die New Yorker 1980er-Kunstjahre wesentlich mitgeprägt hat. Himmelsarchitekturen und Zellstrukturen stecken die Welten des Makrokosmos und Mikrokosmos ab. Bleckners elaborierte Maltechnik erschafft betörende Gemälde. Trotz einer Neigung zum Ästhetizismus heben sie nicht ab, fussen ihre Bildfindungen doch stets latent in der Thematik des Todes, aktuell präsent in der Aidskrankheit.

Die Macht und Verführungsgewalt der Sprache und von Bildern ist seit den 1970er Jahren Gegenstand der Auseinandersetzung der amerikanischenKünstlerin Barbara Kruger. Die Attacken, denen sie die Ausstellungsbesucher aussetzt, fordern unmittelbar zu einer Stellungnahme heraus und decken in subtiler Art und Weise das Manipulationspotenzial unserer wichtigsten Kommunikationsmittel auf. Die Künstlerin rekonstruiert für das Kunstmuseum Luzern eine eindrückliche Rauminstallation mit Sound aus dem Jahre 1994. Barbara Kruger hat für die Ausstellung auch das Plakat entworfen.

Die Etiketten Performance und Körperkunst passen zu einer österreichischen Künstlerin. In ihrer Komplexität setzt sich das Werk von Elke Krystufek aber äussert reflektiert und auch kritisch mit ihren berühmten Vorgängern aus dem Kreis der Wiener Aktionisten auseinander. Nicht nur übertrifft sie diese in der Radikalität ihrer Selbstentblössung, sondern macht die Ambivalenz zwischen privat und öffentlich, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen aussen und innen unmittelbar spürbar. Elke Krystufek vereint in Luzern Gemälde, Fotografien und Objekte zu einer Gesamtinstallation.

Die junge amerikanische Künstlerin Chloe Piene öffnet uns in ihren Videoarbeiten die Welt von Subkulturen und Randgruppen, deren Rituale, Verhaltensmuster und Rollenspiele. Little David (1999) führt einen neunjährigen Buben vor, der Fragmente von Aussagen eines wegen Mordes Einsitzenden aufnimmt und in Sprache und Gestik den sich aufspielenden Macho imitiert. Der unvereinbare Kontrast des Bildes des schmächtigen Jungen in Unterhosen, der isoliert vor einer dunklen Nachtlandschaft agiert - gleichsam gegen Dämonen sich wehrend - und des in verfremdeter Stimmlage wiedergegebenen, gewalttätigen sprachlichen Ausdrucks evoziert Gefühle höchster Beklemmung.

Den versöhnlichen Abschluss der Ausstellung bilden Arbeiten des in München lebenden und arbeitenden Schweizer Künstlers Urs Lüthi. Seit seinem frühen Werk, das in die 1960er Jahre zurückgeht, ist er sich sein eigener Untersuchungsgegenstand. Die Sicht auf die Wechselwirkung zwischen dem Individuum und seiner Umgebung hat sich inzwischen fast unmerklich gewandelt von einer Introspektion zu einer Zuwendung zur Welt und zur Reflexion über das Künstler-Ich. Urs Lüthi zeigt Arbeiten aus dem Kontext der Serie "Art for a better life ", und die Ausstellung schliesst mit dem abgeklärten, lebensgrossen skulpturalen Selbstbildnis des Künstlers nach getaner Arbeit, welches er unter das Motto "Art is the better life" stellt. Pressetext

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me & more - Über die variablen Grenzen des Ichs

mit Magdalena Abakanowicz, Laylah Ali, Ross Bleckner, Antony Gormley, Barbara Kruger, Elke Krystufek, Urs Lüthi, Tatjana Marusic, Miao Xiaochun, Ernesto Neto, Chloe Piene, Kiki Smith, Yishai Jusidman, Zhang Huan

Idee und Konzept: Brigitt Bürgi und Peter Fischer
Kuratoren: Peter Fischer, Susanne Neubauer