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NEW CITIZENS
Kunstprojekt im öffentlichen Raum | Frankfurt am Main
30.04.2017–22.05.2017
Fotografien von Vitus Saloshanka
kuratiert von Juliane v. Herz und Aileen Treusch

NEW CITIZENS ist der Titel der jüngsten Portraitserie des Künstlers Vitus Saloshanka und zugleich der Name eines Ausstellungsprojektes im öffentlichen Raum in Frankfurt am Main vom 30.4. bis 22.5.2017, kuratiert und organisiert von Aileen Treusch und Juliane v. Herz.

Seit 2010 lebt der gebürtige Weißrusse mit seiner Familie in seiner Wahlheimat Frankfurt am Main. Für NEW CITIZENS hat er über ein Jahr Geflüchtete in einem Wohnwagenstellplatz am Rebstockbad einzeln portraitiert, um sie im öffentlichen Raum ausstellen zu können. Gemeinsam mit den beiden Kuratorinnen entwickelte sich das Projekt zu einer vierwöchigen urbanen Schau in Frankfurt auf etlichen Gebäude- und Baustellenfassaden.

Der Titel der Werkgruppe ist euphemistisch und zielt mitten ins politische Spannungsfeld der aktuellen Flüchtlingsdebatte. Dabei werden andere Bilder gezeigt als die bekannten, durch die Medien unendlich reproduzierten: Keine Flucht, keine anonymen Gruppen, keine Gegenwartskrisenbilder. Es sind großformatige Gesichter von Menschen, in die der Stadtdurchschreitende blickt, die aus der Unsichtbarkeit ihrer Unterbringungen an ungewöhnlichen Orten in der Stadt auftauchen und sich aus der Abstraktion des bloßen Begriffes »Flüchtling« lösen. Mit der plötzlichen Sichtbarkeit der Menschen, die längst die Stadt mit bewohnen, taucht unweigerlich die Frage auf, die schon Hannah Arendt stellte: »Wem wirdwelches Menschenrecht zuteil und gibt es eines für alle, oder mehrere für manche? Wer ist nur Bewohner, wer Bürger einer Stadt, wie erwirbt man Bürgerrecht?« Saloshankas Portraits, es liegt zunächst in der Natur des Genres, feiern das Individuum und zugleich seine vor allem herkunftsunabhängige und im besten Falle unantastbare Würde.

Demokratieraum Stadt

Der öffentliche Raum als Ausstellungsort birgt für sich bereits ein politisches Potential, da er ein demokratischer Raum der Meinungsvielfalt ist, über den die Stadtgesellschaft samt Stadtpolitik befindet und entscheidet. Ein Kunstprojekt im urbanen Raum betont die Stadt sowohl als Diskussionsraum, als experimentelle Bühne sowie auch als Freilichtmuseum. »Es liegt viel Potential in diesem Schauraum, der jedermann zugänglich und sichtbar ist. Andere Städte leisten sich eigene Stadtkuratoren, wie Hamburg, oder haben temporäre Kunst- und Architekturprojekte etabliert. Das wünschen wir uns für Frankfurt. Stadtentwicklung und Kunst im öffentlichen Raum sind für uns auf das Engste miteinander verzahnt«, bemerken die Kuratorinnen Juliane v. Herz und Aileen Treusch, die seit Jahren regelmäßig im urbanen Raum mit Projekten agieren und denStadtraum mit NEW CITIZENS erneut zur Debatte stellen. Sie haben ungewöhnliche Orte fürdie Installation der Bilder gefunden, u.a. etliche namhafte Projektentwickler großer Bauarealein der Hochhausstadt am Main als Partner und Förderer gewonnen und damit bewusst die Betonung auf die Zukunft der Stadtentwicklung gelegt, auf die Transit-Situation und die Frage, wie denn die Stadt und der Wohnraum aussehen werden, auch für die 'Neubürger'?

Die Frage nach dem Raum für neue Bewohner in der Stadt befeuert natürlich die bestehenden politischen Debatten innerhalb einer Stadtgesellschaft um Knappheit, Teuerung und steigende Exklusivität des Mietwohnens in Großstädten. 13 aus der Serie ausgewählte Bilder verteilen sich über den Stadtkern an Gebäudefassaden. Darunter sind Kulturinstitutionen wie das Literaturhaus, Bildungsstätten wie die Universitätsbibliothek, ein Privathaus in der Schweizer Strasse, oder auch eine jüdische Gedenkstätte. Drei Kirchen, als Institution unverzichtbare Flüchtlingshelfer, sind involviert. Die Öffentlichmachung von Portraits in der Stadt war im Entstehungsprozess des Projektes bereits ein politisches Unterfangen, ohne dass hier explizit 'politische Kunst' gezeigt wird. Schon den Künstler beschäftigte bei seiner Annäherung an das Flüchtlingscamp und seine Bewohner die Frage nach der Stadtentwicklung, nach dem Stadtgefüge. Ähnlich zu seiner Serie HIGH HOPES (2011–13), in der er die radikale Verwandlung der russischen Riviera-Landschaft samt ihren Bewohnern für die Olympiade in Sotchi manifestierte.

Dort beschäftigte ihn die Frage, wie Menschen mit einem sich verändernden Lebensraum umgehen – und hier: Warum leben geflüchtete Menschen vorübergehend in einer Transitzone auf einem extra geschaffenen 'Eiland', abgeschirmt von der übrigen Stadtbewohnerschaft? Wer schützt wen vor wem? Wie werden sich die Flüchtlingscamps verändern, auflösen, erweitern, welche Wohnformen gibt es demnächst? Die hier Portraitierten leben oder lebten in demselben, sehr klug konzipierten Wohnwagenstellplatz, das Familien in kleinen Wohn-Units die Möglichkeit einer Privatsphäre erlaubt, im Kontrast zu den großen Turnhallen.

Die temporäre Wohnsituation der Geflüchteten findet eine räumliche und bildhafte Analogie in der zeitlich auf 4 Wochen begrenzten Ausstellung im öffentlichen Stadtraum. Hierbei interessiert die Ausstellungsmacherinnen vor allem das Spannungsverhältnis einer Visibilität und Invisibilität von Lebensräumen.

Saloshanka, im Rückgriff auf die Kunstgeschichte und das in Malerei und Fotografie klassische Halbportrait vor neutralem Grund, fragt nach dem gesellschaftlichen Verständnis gegenüber dem Einzelnen, der hinter dem abstrakten Begriff und der Gruppe der 'Flüchtlinge' steht. Wider dem furchtsamen Denken, das von der Angst vor dem 'Fremden' geprägt ist.

Die Bilder sind im Gegensatz zu anderen Flüchtlingsbildern weder pathetisch noch stereotyp. Sie zielen auf den Dialog mit dem Betrachter, das Narrativ liegt in den Bilder selbst. Es werden keine Fluchtgeschichten mitgeliefert, obgleich der Künstler während seiner vielen Begegnungen tief in die Lebensgeschichten der Modelle geblickt hat, weil das Gespräch zwischen Künstler und Modell Teil des Schaffens ist. »Mich interessieren grundsätzliche Fragen der Wahrnehmung. Meine Absicht, diese Portraits im öffentlichen Raum zu zeigen, bestand darin, zu beobachten, ob sich die Wahrnehmung der Betrachter verändert, ob Kunst Denken verändert« sagt der Künstler.

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Vitus Saloshanka
Vitus Saloshanka (*1974 in Minsk), bekannt geworden durch seine fotodokumentarische Serie zu Sotschi und seinen Bewohnern an der russischen 'Riviera' in der Zeit der Olympiavorbereitungen, arbeitet seit letztem Jahr an der Portraitserie NEW CITIZENS, seine ersten Arbeiten mit digitaler Kamera. Im Kontrast zu seinem Fotodebüt »High Hopes« im Jahre 2011, das mit einem Stipendium der VG Bild Kunst unterstützt wurde, konzentriert sich Saloshanka nun auf den Menschen als Individuum, gelöst vom Kollektiv. Seit über einem Jahr beheimatet der Wohnwagenstellplatz auf dem Rebstockgelände Flüchtlinge aus Afghanistan, Syrien, Iran, Irak und Eritrea. Die temporäre Unterkunftsstation grenzt unmittelbar an den Parkplatz des Rebstockbads – ein Freizeit- und Erholungsort für die Bürger Frankfurts und der Region. In Form mobiler Wohnwagen ist sie für etwa zwei Jahre angelegt und bietet mit 50 mobilen Einheiten Platz für etwa 130 Flüchtlinge – hauptsächlich Familien mit Kindern.

In vorsichtiger Annäherung hat Saloshanka die Menschen aus verschiedenen Ländern einzeln portraitiert. Die Werkserie verstehet sich als eine künstlerische Auseinandersetzung zum Umgang mit der Flüchtlingsthematik in den deutschen, auch internationalen Medien – den Diskrepanzen in der Gesellschaft zu Akzeptanz und Ablehnung der deutschen Flüchtlingspolitik aufgrund der großen Anzahl aufgenommener Flüchtlinge (Belastung des Sozialsystems), den Berührungsängsten in der Bevölkerung (fremde Kultur, fremde Werte), gegenüber der hohen Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. In fortlaufenden, intensiven Gesprächen mit dem Künstler, selbst Einwanderer, haben die Portraitierten ihre Geschichte mitgeteilt, ein Vertrauensverhältnis ist entstanden. Bewusst werden den Betrachtern bei der Präsentation der Portraits in der Stadt die biografischen Erlebnisse, insbesondere die Fluchtgeschichte, vorenthalten und rücken das bloße Gesicht in den Vordergrund. Die Portraitierten sind einverstanden mit ihrer Darstellung im öffentlichen Raum, bleiben dabei namentlich anonym. Die Serie besteht bisher aus ca. 20 Portraits und soll auf ca. 25 erweitert werden.

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ERÖFFNUNG

Das Kunstprojekt wird am 30.4.2017 mit einem öffentlichen Konzert des syrischen Pianisten Aeham Ahmad und dem Ensemble »Staccato Burnout« des BRIDGES Orchesters auf dem Rossmarkt um 12 Uhr eröffnet und in den kommenden Wochen von einem Programm mit Debatten, Filmscreenings, Tanz und weiteren Veranstaltungen mit einer Reihe von Kooperationspartnern begleitet, die sich den Themen Menschrecht, Flucht, Integration, Heimat und Fremde bis hin zur Frage nach der zukünftigen europäischen Einwanderungspolitik widmen.

ORTE

Geplant sind 13 Installationen an unterschiedlichen öffentlichen und auch privaten Gebäuden im Stadtzentrum. Darunter: Matthäuskirche, Dreifaltigkeitskirche, Friedenskirche, Literaturhaus, WINX-Tower, Kornmarkt Arkaden, Erinnerungsstätte Synagoge Friedberger Anlage, Kaiserpassage, Schweizer Straße 5, Neue Mainzer Straße 57, Frankfurt LAB, Universitätsbibliothek J.C. Senckenberg (Bockenheim), Steigenbergerhotel am HBF (Südseite).

Hinweis für Fotografen und TV zur Installation der Portraits in der Stadt: Die Portraits werden ab Mittwochmorgen, 26. April 2017, an den Fassaden installiert. Bitte setzen Sie sich wegen Details und Absprachen für etwaige Film- oder Fotoaufnahmen und geplanten Berichterstattungen mit uns in Verbindung. In Zukunft widmet er sich einer Werkgruppe: NEMUNAS JOURNEY/SECOND RELIGION. Sie entsteht aus dem Erkunden einer 'sozialen Landschaft' entlang des Flusses Nemunas, der in Teilen die Grenze zwischen EU und Russland bildet und symbolisch für den ehemaligen Eisernen Vorhang steht.

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