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„Eine Arbeit beginnt mit einem alltäglichen, oft unterschwelligen Gefühl. Das Werk wird zu einer Chance, etwas über einen anderen Ort und eine andere Zeit zu erfahren und zu überlegen, wie diese mit der Gegenwart verbunden sein könnten.“ Rachel Rose, New York, Mai 2015

Lichter flackern im Dunkeln. Die Filmleinwand zuckt unter stroboskopischen Blitzen. Eine Zuschauermenge wogt. Nach einigen Momenten ist eine männliche Stimme zu hören. Das Filmbild wechselt, die Erzählstimme bleibt. Eine riesige Schaumwolke schiebt sich in das Leinwandformat. Gleich wird der Sphärennebel das gesamte Bildlicht erobern. Es ist eine sämige Materie, die nicht erkennen lässt, ob sie aus nächster Nähe aufgenommen ist oder aus weiter Ferne. Was ist hier abgebildet? Seifig schäumende Lösungen, die kosmische Ursuppe oder gar die Millionen Lichter von Sternenstaub? Während die triefende Masse weiterkriecht und immer mehr Raum einnimmt, ertönen singende Frauenstimmen. Sie schrauben sich als Singsang in die Höhe. Die Zeit verliert sich. Auf der Projektionsfläche sickert das Tageslicht in die Farben des Films: intensives Orange, formloses Weiß, Granatapfelrot und Bernstein. Alles fließt. Das Ambiente des Raumes und die Schlieren der Leinwand spielen ineinander. Der Bericht eines Astronauten schildert die Erfahrungen nach seiner Rückkehr auf die Erde. Er beschreibt ein entfremdetes Körpergefühl.

Die Schwerkraft lässt die Beine versagen. Die Hand vermag die Armbanduhr kaum zu heben. Die irdische Last steigert die Wahrnehmung der Sinne. Die Welt vermittelt sich in Üppigkeit und Fülle. Dunkelheit scheint wie Umnachtung, Gerüche aufdringlich, Kleider wie beengende Körperschalen, Geschmäcker wie Stoßwellen. Nichts scheint dem Körper mehr fraglos. Sich wieder an die Erde zu gewöhnen, gleicht einem sensuellen Geburtserlebnis. Dies sind die ersten Szenen von Rachel Roses jüngstem Film Everything and More. Rose ist der Shootingstar der US-amerikanischen Kunstszene. Ihr Werkstoff sind nicht Bilder, sondern die Sinne.

Das Kunsthaus Bregenz — von Architekt Peter Zumthor als Raum intensiver Körpererfahrung geplant — ist bestens geeignet für ihre Filme.

Für ihre Präsentationen bezieht Rose die konkrete Situation vor Ort mit ein. In der Serpentine Gallery in London zeigt sie Videos und verschränkt dabei die Tonspuren. Innen und außen greifen ineinander. In empfindsamer Wahrnehmung verlieren sich die Trennlinien zur Außenwelt. Alles ist durch die Sinne gegeben, nicht nur Bilder und Gerüche, auch Dinge und der eigene Körper.

Wir sind Sammelstellen von Wellen, Partikeln, Äther und Strömen. Rachel Rose zeigt dies in Everything and More durch eine Ästhetik im Fluss: Farben zerfließen, Töne werden ölig, Formen verlieren sich und Festigkeiten zergehen. Langsamkeit steigert diese Veränderungen, Schleier schweben oder werden digital. Resonanz und Entzug, Empfangen und Befinden, Bild und Blick, »Collage und Katastrophe« (Rose), das sind die Themen der 1986 geborenen US-Amerikanerin. Sie ist die jüngste Künstlerin, die jemals für eine Einzelausstellung ins Kunsthaus Bregenz eingeladen wurde.

Für die Ausstellung in Bregenz ist auch die Arbeit des New Yorker Architekturbüros MOS bedeutend. Das Büro, das die USA im vergangenen Jahr auf der Architekturbiennale in Venedig vertreten hat, entwirft das begleitende Inventar für die Ausstellung. Teppiche, Screens und Lautsprecher sind in Zusammenarbeit mit Rose entworfen und für die Räume in Bregenz angefertigt worden. Gemeinsam mit dem eintreffenden Licht schaffen sie ein Ambiente, in dem Sinnliches gefiltert, angereichert und vertieft wird.

Rachel Rose sieht Flächen nicht als Barriere, sondern als Folien und durchlässige Schichten. So wie Erlebnisse von Erinnerungen gefärbt sind, so sind es die Gegenstände von ihren sensuellen Wirkungsfeldern im Raum. Die Architektur der Moderne erfindet durchsichtige Fronten, um Innenräume zu öffnen. Manche Gebäude der Moderne sind nur mit Glas verschalt. Eines dieser Gebäude ist das Glass House von Philip Johnson in New Canaan, Connecticut. Rose zeigt den Pavillon in einem filmischen Porträt. Eindrücke eines Gemäldes von Nicolas Poussin aus dem Inneren überlagern sich mit der Natur des Umraums. Der Architekt tritt als Geist auf. Als Leerstelle führt er durch das eigene Gebäude, durchdringt Raum, Garten und Grenzen. Geschichte und Jetzt, Bild und Sinnbild verschmelzen. Thomas D. Trummer

Rachel Rose wurde 1986 in New York geboren. Sie graduierte sowohl an der Yale University, dem Courtauld Institute of Art als auch an der Columbia University. Rose lebt und arbeitet in New York. Zu Roses Einzelausstellungen aus jüngster Zeit zählen unter anderem: Lake Valley in der Pilar Corrias Gallery, London (2016); Eve-rything and More im Aspen Art Museum, Aspen (2015); Everything and More im Whitney Museum of American Art, New York (2015); Palisadesin der Serpentine Sackler Gallery, London (2015); sowie Interiors, Castello di Rivoli, Turin (2015). Eine Ausstellung ihres Werks läuft aktuell in der Fundação de Serralves, Porto (2016); außerdem ist sie auf der Biennale von São Paulo vertreten, São Paulo (2016). Rachel Rose ist mit 30 Jahren die jüngste Künstlerin, die jemals für eine Einzelausstellung in das Kunsthaus Bregenz eingeladen wurde.