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Dem Schattenriß liegt die archaische Vorstellung zugrunde, daß sich in der Fixierung der menschlichen Silhouette die Erinnerung an einen Abwesenden bewahren läßt. Nicht dem gemalten, fiktiven Bild, sondern dem Abdruck wohnt demnach eine ganz besondere Beweiskraft inne.

Die schwarze, undifferenzierte Binnenform wird zur Projektionsfläche für den Betrachter, während ihre äußere Grenzlinie alleiniger Informationsträger bleibt. Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen dem unbestimmten Inneren und dem klar definierten Umriß konstituiert sich die besondere Wirkung des Schattenrisses. Die möglichen Funktionen der Linie in einem Schattenriß sind so vielfältig wie ihre Erscheinungsformen: als abbildende Linie, als verkürzte Linie der Abstraktion, als Ausdruckslinie, die das Unsichtbare nach außen kehrt, und schließlich als Linie, die Eigenleben entwickelt. „In einem Schattenrisse ist nur Eine Linie; keine Bewegung, kein Licht, keine Farbe, keine Höhe und Tiefe, kein Aug, kein Ohr – kein Nasloch, keine Wange, - nur ein sehr kleiner Theil von der Lippe – und dennoch, wie entscheidend bedeutsam ist Er“, schrieb Johann Caspar Lavater (1741-1801) in den Physiognomischen Fragmenten.

Für die Abbildtechnik des Schattenrisses schuf das 18. Jahrhundert serielle Verfahrensweisen, die diesen zum Vorläufer des Massenmediums Fotografie werden ließen. Der nach dem Finanzminister Ludwig XV. benannte Sihouettierstuhl ermöglichte es, schon vor der Einführung maschineller Reproduktionsmittel, den Schattenriss einer Person mit beinahe fotografischer Zuverlässigkeit nachzuzeichnen. Dazu bedurfte es eines Stuhles, der den Körper fixierte, einer Kerze sowie eines auf einen Rahmen gespannten Papiers, auf dem das Schattenprofil umrissen und ausgetuscht wurde. Das Anfertigen solcher Silhouetten entwickelte sich zum beliebten Zeitvertreib. Zum Zwecke der Verkleinerung diente der sogenannte Storchschnabel. Goethe verwies auf den exzessiven Gebrauch dieses Instruments: „... kein Fremder zog vorüber, den man nicht abends an die wand geschrieben hätte; die Storchschnäbel dürfen nicht rasten.“ Goethe selbst stand diesem Verfahren aber kritisch gegenüber, das mit der Verkleinerung zugleich eine Entkörperlichung bewirkte. Von seiner Hand stammt zumindest einer der wenigen überlieferten ganzfigurigen, lebensgroßen Schattenrisse.

Ein neu erwachtes Interesse am Schattenriß und Scherenschnitt bei zeitgenössischen Künstlern gab den Anlaß für die Ausstellung. Erstmals werden die historischen und zeitgenössischen Aspekte des Themas in einen Zusammenhang gestellt. Die Geschichte des schwarzen, figürlichen Schattenrisses ist eng mit der des weißen oder farbigen, ornamentalen Scherenschnittes verknüpft. Bereits im Titel „SchattenRisse“ wird dies angedeutet: Reißen, Schneiden und Zeichnen sind miteinander verwandt. Alle in der Ausstellung vertretenen Künstler haben sich mit den besonderen Wirkungsmöglichkeiten des Schattenrisses auseinandergesetzt. Der Bogen wird über den Bereich der Kunst hinaus weiter gespannt und schließt auch Aspekte wie die Physiognomik und die Röntgenfotografie mit ein. Die Brisanz der Historie, die Bruchstellen zu anderen Medien wie Fotografie und Film sowie die unerwarteten Analogien oder Anachronismen sollen deutlich hervortreten. So werden über die Inszenierung der Ausstellung die historischen Trennwände transparent und damit überraschende Beziehungen und Spannungen zwischen den Werken sichtbar.

Zu diesen gehören die spannende Kontroverse Lichtenberg - Lavater; die Scherenschnitte des vergessenen Jean Huber, „le prince de silhouette“; die überraschend modern erscheinenden Weißschnitte des Herzogs von Schwerin; die ersten überlieferten Schattentheaterfiguren; die selbstgefertigten lebensgroßen Silhouetten Goethes; die Parallelität in Motive und Formen in den Scherenschnitten Runges und der frühen Fotografie; die kuriosen, ausdrucksstarken Schnitte Hans Christian Andersens; die kaum bekannten, großartigen Scherenschnitte Menzels; die Röntgenfotografie als Anti-Lavater; Schattentheater und experimentelle Trickfilme am Anfang des 20. Jahrhunderts; der gerissene Schatten in den Selbstportraits von Duchamp, Picassos Experimente mit dem Scherenschnitt; das Interesse für das Fotogramm (Tabard, Picasso/Villers, Neusüss, Fuss); Hannah Höchs Scherenschnitte der Dada-Künstler; Matisse Kompositionen aus geschnittenen Papieren von leuchtender Farbigkeit; Warhols schwarze Diamantstaubbilder.

Es wird weiterhin gezeigt, daß der Schattenriß nach wie vor für junge Künstler ein zentrales Gestaltungsmittel darstellt und daß dem Cutout nichts Harmloses, Verstaubtes anhaftet, sondern ganz im Gegenteil, daß überraschend schräge Arbeiten von greller Farbigkeit geschaffen werden, deren Zugehörigkeit zu unserer eigenen Zeit nicht in Zweifel steht. Als Gründe für die Aktualität von Schattenriß und Scherenschnitt lassen sich anführen: die Betonung der Fläche und Oberfläche (surface) in der zeitgenössischen Kunst, die Rückkehr zur Gegenständlichkeit und zugleich die Tendenz zur Ornamentalisierung der Moderne, die radikale Hinwendung zum Gegenstand im Medium des Abdrucks, die Entfernung vom menschlichen Körper, der nur noch im Negativ des Schattens erscheint (als Kopie der Kopie), das Ausschneiden im Sinne des digitalen Sampelns und Freistellens als einem zeitgenössischen Verfahren, die Faszination für Rorschach-Muster, Wiederholbarkeit und Wiederverwendbarkeit als Kriterien des Scherenschnitts, die Betonung des Handwerklichen sowie die Öffnung zum Trash und Kitsch.

An zeitgenössischen Künstlern sind an der Ausstellung beteiligt: Christian Boltanski, Maggie Cardelús, Felix Droese, Adam Fuss, Ulrich Horndash, Imi Knoebel, Jim Lambie, Ulrich Meister, Mario Merz, Paul Morrison, Floris Neusüss, Olaf Nicolai, Simon Periton, Eva Rothschild, Stefan Saffer, Volker Schreiner und Kara Walker. Im Begleitprogramm zur Ausstellung werden Victor Stoichita einen Vortrag zur Geschichte des Schattenrisses halten und Rolf Boysen aus Lichtenbergs Schriften lesen. Das Münchner Filmmuseum hat zusätzlich ein Begleitprogramm mit Filmen zum Thema entwickelt. Die Termine sind der Tagespresse zu entnehmen.

Zur Ausstellung erscheint eine reich bebilderte Publikation im Hatje Cantz–Verlag mit zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen und Künstlerkommentaren.

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SchattenRisse
Silhouetten und Cutouts
Kunstbau Lenbachhaus
Kuratorin: Marion Ackermann

Künstler: Christian Boltanski, Maggie Cardelus, Felix Droese, Adam Fuss, Ulrich Horndash, Imi Knoebel, Jim Lambie, Ulrich Meister, Mario Merz, Paul Morrison, Floris M. Neusüss, Olaf Nicolai, Simon Periton, Eva Rothschild, Stefan Saffer, Volker Schreiner, Kara Walker