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Die Ausstellung Short term stability konfrontiert zwei künstlerische Positionen miteinander, die wesentlich den Körper und sein Raumhandeln zum Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung machen. Die Arbeiten von Navid Nuur und Franz Erhard Walther setzen zudem blickreflexiv an. Short term stability verhandelt, den Ausstellungen Asymmetrical focus (2009) und Subsequent formation (2011) folgend, die Frage nach der Konstitution von Räumlichkeit im Bezug zum jeweiligen Blickdispositiv, erweitert dieses Themenfeld jedoch um die Dimension körperlichen, kinästhetischen Handelns. Das Subjekt rückt einerseits in den Fokus der Auseinandersetzung, wird andererseits aber ebenso auf die Probe und infrage gestellt: Die Künstler unterwandern filmisch-performativ (Nuur) und räumlich-partizipativ (Walther) eine Blick- und Körperregie, die das Subjet als alleiniges Zentrum der Wahrnehmung und zugleich als ideologisches Zentrum einer auktorialen “Weise der Welterzeugung” (Goodman) denkt. Der kinästhetisch fundierte Prozess des Sehens, der mit dem Körperhandeln des Betrachters untrennbar zusammenhängt, wird vielmehr in Wechselwirkung zur medial-apparativen Vorrichtung (bei Nuur) und zum Blick-/Handlungsdispositiv (bei Walther) untersucht. Das jeweilige, den Körper choreographierende Medium – die Kamera bei Nuur und das Raumdispositiv bei Walther – fungiert als Schnittstelle von Bild/Blick und Körper/Subjekt und spiegelt somit auch stets gesellschaftliche und soziokulturelle Verhältnisse wider.

Navid Nuurs Arbeit scheint ausstellerisch auf den ersten Blick einen Gegensatz zur Position von Franz Erhard Walther zu bilden, einerseits hinsichtlich der dokumentarisch anmutenden Bildsprache im Video Nuurs, andererseits inhaltlich, da Nuurs Arbeit die Medialisierung des Blicks bereits deutlich mitdenkt und mitreflektiert. Ausdehnung mit Zentrum von Franz Erhard Walther setzt so betrachtet “prämedial” an, zumindest auf den ersten Blick und wenn man den Begriff des Mediums (noch) technologisch fasst. Der augenscheinliche Kontrapunkt zu Nuurs Reflexion eines medial geprägten Wirklichkeitsbegriffs durch die Thematisierung visueller Überwachung und Kontrolle markiert eine Differenz, die sich aus den unterschiedlichen Entstehungskontexten und -zeiten erklärt – die beiden Arbeiten liegen mehr als zwanzig Jahre auseinander. Zwischen den Arbeiten öffnet sich somit ein Zeitfenster, das eine medien- und technologiefokussierte Idee von Fortschritt jedoch fragwürdig erscheinen lässt. Der inszenatorische und inhaltliche Widerspruch der Arbeiten wäre auf diese Weise allzu einfach erklärt; anders formuliert: Die Gegenüberstellung jener vormedialen mit einer medienreflexiven Arbeit bildet anfänglich einen Widerspruch, es sei denn, man wendete den Begriff des Mediums gleichermaßen auf den Körper – im Raum – an, sodass dieser schließlich selbst als eigentliches Medium der Arbeiten lesbar wird.

Navid Nuurs ästhetische Praxis ist – und hierin liegt eine signifikante Gemeinsamkeit mit Franz Erhard Walther – nicht (länger) objekt- und werkgebunden. An dieser Stelle wird eine Verbindung zum damals revolutionären, neuen Werkbegriff lesbar, den Walther in den 60er-Jahren entwickelt und postuliert hat: Das Werk konstituiert sich räumlich-relational und kontextreflexiv, es formiert sich erst im Wahrnehmungsvollzug, anstatt objektgebunden auf sein essentialistisches Sein hinzudeuten.

Ausgangspunkt und Beobachtungsgegenstand von Navid Nuurs Arbeiten sind oftmals alltägliche und situativ vorgefundene Phänomene und Gegebenheiten. Die Offenheit seiner Werke, die Betonung des produktionsästhetischen und mehr noch rezeptionsästhetischen Prozesses, aber auch die Ephemerisierung der Wahrnehmung durch eine ins Poetische gewendete Metaphern- und Formensprache, bilden bestimmende Konstanten seiner ästhetischer Strategie. Nuur schafft Beobachtungs- und Wahrnehmungssituationen, die oftmals, wenn auch liminal wahrnehmbar wie in der aktuell gezeigten Arbeit, in Veränderung begriffen sind und die einerseits den Betrachterstandpunkt, andererseits den Kontext der Wahrnehmung/Beobachtung, also das Dispositiv, reflektierter machen. In diesem Sinne schafft Nuur nicht Installationen oder Dokumentationen von installativen oder performativen Settings, er generiert vielmehr prekäre, temporäre und veränderliche Wahrnehmungssituationen, die auf die Labilität der Wahrnehmung selbst verweisen und den Betrachter seines eigenen ästhetischen Vermögens gewahr werden lassen.

Nuur sucht in der Dreifachprojektion When doubt turns into destiny (1993-2011) in einer Reihung filmischer Einstellungen und Sequenzen die Wahrnehmungsschwelle herkömmlicher Bewegungsmelder, wie man sie in Hinterhöfen oder auf Betriebsgeländen, also an urbanen Nichtorten montiert findet, zu unterwandern: Er bewegt sich derart langsam, dass die Melder gerade noch nicht ansprechen, das Licht sich gerade noch nicht einschaltet. Man sieht demzufolge beinahe nichts, der Künstler bewegt sich kaum merklich im Dunkeln, bis er plötzlich in arretierter Bewegung vom eingeschalteten Licht des Melders ertappt wird. Der Betrachter sieht sich in den drei synchron gezeigten, geloopten Filmfolgen mit einer Art bewegter Nichtbewegtheit konfrontiert. Nuur führt die extreme Verlangsamung und Arretierung seiner Bewegungen vor, eine Anti-Performance, die allein von der vorgefundenen Blickregie bestimmt ist. Wenn auch allgegenwärtig, gar banal, so porträtiert Nuur in diesen Filmfolgen urbane Nichtorte und Halbwelten, die zwischen konventioneller und medial bestimmter Wirklichkeit changieren und die das Handeln, das Sich-Bewegen im Raum unmerklich, doch entscheidend mitbestimmen.

Während der Künstler in “schwebender” Bewegung, in gespielter Zeitlupe zu beobachten ist, rücken mentales Vor-, Wahrnehmungs-, und Nachbild, also Vergangenes und Zukünftiges, nahe aneinander. Diese temporale Engführung schafft eine paradoxe Beobachtungssituation: Ursache und initiierte Handlung, aber auch Handlung und Wirkung geraten in eine Art Rückkoppelung, wobei von linearer Kausalität, aber auch von Beobachtung als schlichtes Überwachungs- und Kontrollinstrument, nicht mehr gesprochen werden kann. In der strikten Einhaltung der systemunterwandernden Bewegungsweise gelingt es Nuur, das observierende Dispositiv selbst beobachtbar zu machen, es dabei aber weder schlichtweg auszuhebeln, noch zu parodieren, sondern ob seiner systemischen und gesellschaftlichen Funktion beobachtbar und hinterfragbar zu machen.

Franz Erhard Walther entwickelte in den 60er-Jahren einen Werkbegriff, der nicht länger auf das Objekt, die Phänomenologie seiner Erscheinung beschränkt blieb, oder einer wie immer gearteten Essenz seines Seins nachspürte. Walthers Interesse fokussierte stattdessen auf den Prozess der Wahrnehmung und die sich daraus ergebenden potentiellen Handlungsweisen am und mit dem Objekt, das somit vom Gegenstand der Anschauung zum Initiator räumlichen und sozialen Handelns wurde. Er zeigte seine Arbeiten im Ausstellungskontext in der sogenannten “Lagerform”, also außer Funktion, zusammengelegt, gestapelt. Manchmal ergänzte er die Präsentationen durch Werkdemonstrationen, die die im Objekt angelegten räumlichen Verwendungs-/Anwendungsmöglichkeiten demonstrierten, ohne sie zur strikten Vorgabe zu machen oder als alleinige “Nutzungsweise” festzulegen. Erst in der (Werk-)Handlung vollzieht sich der Werkgedanke. Insofern wird die Arbeit Walthers in ihrem Lagerzustand zum Evokator möglicher Handlungen und intersubjektiver Konstellationen. Man könnte die räumliche Anlage beispielsweise in situ zu benutzen versuchen, oder sie im öffentlichen Raum imaginieren. Die Vorgaben seitens des Künstlers sind stets offen angelegt, bloß die skulpturale Anlage und Konstellation bildet kinästhetische und handlungskonstitutive Richtlinien.

Der Fokus verschiebt sich somit vom statischen Objekt, von dessen Wahrnehmung, auf den Wahrnehmenden und sein Handeln. Wenn Walthers Arbeiten auch stets eine prozessual-performative Dimension koppeln, so haftet ihnen weder etwas Aktionistisches noch Interaktiv-Partizipatorisches an. Walther eröffnet mit seinen skulptural-installativen Gefügen vielmehr Möglichkeitsräume kinästhetischen Handelns; Körperliche Erfahrung, sinnliche Wahrnehmung und Imagination bilden dabei einen untrennbaren Zusammenhang, der sich stets aktual und in situ formuliert und der bei jedem Betrachter zu unterschiedlichen Handlungsweisen bzw. -prozessen führen kann. Ohne Wahrnehmungshandlung kein Werk – der Betrachter wird somit zum teilweisen Autor des Werks. Walthers Arbeiten bleiben demnach stets unabgeschlossen; Ihnen wohnt so gesehen weniger eine kontemplative Dimension inne, als vielmehr eine “real-ästhetische”, die sich im Handeln entfaltet. Seine Arbeiten sind nicht selbstreferenziell oder gar tautologisch, auch nicht vordergründig minimalistisch, sondern wesentlich kontextuell und wahrnehmungsreflexiv hinsichtlich gesellschaftlicher Normen und Ordnungen, so denn auch der Werkbegriff selbst eine derartige Ordnung/Kategorie darstellt.

Die jeweilige Formensprache von Navid Nuur und Franz Erhard Walther gilt nicht der poetisierten Inszenierung von Absenzen und Zwischenräumen, Unsichtbarem oder Ephemerem; Handlung, Prozess und Ablauf bilden vielmehr immanente Aspekte einer betont phänomenologisch fundierten Wahrnehmungsform. Erst der Prozess der Realisation durch den Betrachter vollzieht das Werk – Betrachter und Werk bilden demnach weder bei Nuur noch bei Walther eine Dichotomie, sondern stehen in Wechselwirkung, ohne jedoch in einem partizipatorischen Akt zu münden oder gar in einer funktionalen Form des “Gebrauchs” aufzugehen. In beiden Positionen werden Blick- und Blickregie schließlich als sozial und gesellschaftlich bestimmte Ordnungsschemata und -regulative lesbar, deren Grammatik sich selbst stetig verändert und verschiebt. So gilt einerseits: Keine Wahrnehmung ohne Wahrnehmung durch das Subjekt, doch ebenso: keine Wahrnehmung ohne die Codierung des Blicks durch das Dispositiv.

David Komary