Peter Gorschlüter, Kurator der Retrospektive 'Hélio Oiticica. Das große Labyrinth' im MMK, Frankfurt, antwortet auf Fragen von Lothar Frangenberg für kunstaspekte zum Konzept der Ausstellung

Oiticica, der schon 1980 mit 42 Jahren verstarb, war als brasilianischer Künstler ein Vorreiter, der sich sowohl mit den westlichen Kunstavantgarden als auch mit den prekären Alltagsumständen vor Ort auseinandersetzte. Der Titel seiner Arbeit „Tropicália“ von 1966/67, eine hüttenartige Installation mit begehbaren und bepflanzten Bereichen sowie lebenden Papageien, inspiriert von den Favelas brasilianischer Städte, gab der damaligen politischen Bewegung von Kulturschaffenden, die sich gegen das brasilianische Militärregime auflehnten, den Namen. Die Retrospektive zeigt seinen Weg: über die abstrakten Malereien, die hängenden Reliefs, die nutzbaren Stoffarbeiten hin zu den ausufernden, offen und oft wie improvisiert wirkenden Raumarbeiten, die die ganzheitlichen Aspekte seiner Arbeit häufig begleitet von Musik, Tanz oder Performance und unter Einbeziehung des Publikums deutlich hervortreten lassen.



Für uns als Besucher lässt sich die Ausstellung unter verschiedenen Gesichtswinkeln lesen: Einer ist ein rationaler in Form der plausibel vorgeführten Entwicklung des Künstlers. Die chronologisch präsentierten Werkgruppen zeigen die sich fast wie nach einem großen Plan entfaltenden Verwandlungen der Arbeiten von der Wand in den Raum hin zu Aktion und Partizipation. Ein anderer ist die Erfahrung des Eintauchens und Sich-Einlassens in eine Welt unmittelbarerer Erfahrungen, zu denen die späteren Arbeiten des Künstlers einladen, gepaart mit Verhaltensweisen, die nicht typischerweise denen des gewohnten Museumsbesuches entsprechen. Einmal der würdigende Blick auf das beachtliche künstlerische Potential und seine Entfaltung aus der distanzierten Position des typischen Betrachters, auf der anderen Seite der auf seine Erfahrungen und sein Verhalten bzw. das der Mitakteure konzentrierte Besucher, der den umgebenden Museumsraum ausblendet. Die unterschiedlichen Annäherungszonen mit Filtern und Sichtschutz der bunten temporären „Behausungen“ ziehen ihn aus der vertrauten Besucherhaltung mit Achtungs- und Sicherheitsabstand.


kunstaspekte: Spielte dieses Wechselspiel der Erfahrungen mit den Arbeiten im Museumsraum bei Ihren kuratorischen Überlegungen zur Ausstellung eine maßgebliche Rolle oder hatte die posthume und kunsthistorische Würdigung des Künstlers Priorität?



P. Gorschlüter: Das partizipatorische, vielleicht auch ganzheitliche Moment in Oiticicas Werk ist untrennbar verknüpft mit seiner künstlerischen Entwicklung und kunsthistorischen Bedeutung. Zeitlebens spielte das Experimentieren die zentrale Rolle in seinem Schaffen. Diese Ideen formulierte er unter anderem in seinem thesenartigen Text „Das Experimentelle wagen“ im März 1972. Was Oiticicas Werk so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass er schon sehr früh der visuellen und intellektuellen Erfahrung von Kunst durch den Betrachter eine multisensorische, alle Sinne einbeziehende Ebene hinzugefügt hat. Diese Ebenen gehen eine Synthese in seinem Werk ein. Uns war es wichtig, dass die Ausstellung eben diese Synthese, die verschiedensten Formen der Rezeption, zulässt und durch die Art und Weise der Präsentation dem Besucher vermittelt und ermöglicht. Die sehr sinnlichen und oftmals benutzbaren und begehbaren Werke werden in der Ausstellung begleitet von Textzitaten des Künstlers, die uns die Entwicklung seiner Kunst aus der Perspektive des Künstlers auch auf intellektueller Ebene nachvollziehen lässt. Angesichts der Vorreiterrolle, die Oiticica für die Kunst seit den 1960er Jahren international eingenommen hat, war diese Ausstellung, die sein Werk zum ersten Mal umfassend im deutschsprachigen Raum präsentiert, längst überfällig.

kunstaspekte: Was macht gerade diesen schon lange verstorbenen Künstler aus Brasilien für Sie heute so interessant? Er brach schon vor über 40 Jahren ins Experimentelle, Spontan-Öffentliche und Nicht-Etablierte aus, forderte den anderen als den Museumsraum und sah auch seine Ausstellungen als Experimentierfeld. Sie fangen ihn wieder in den Museumsräumen ein. Auch der partizipatorische Ansatz wird heute nicht mehr als ein neuer gelesen und erfahren. Es fällt uns schwerer, die Brüche und das Skandalöse nachzuvollziehen.



P. Gorschlüter: Während Oiticica in den ersten Jahren seines Schaffens bis ca. Ende der 1960er Jahre vor allem danach strebte, den musealen Raum im Sinne eines offeneren Verständnisses für Kunst und Kultur zu erweitern, begann er, Ende der 1960er Jahre und vor allem in seiner Zeit in New York in den 1970er Jahren die Erfahrung von Kunst unmittelbar in seine Lebenswelt zu integrieren. Man könnte hier fast von einem Umkehrprozess in seinem Schaffen sprechen, zumindest von einem Wendepunkt. Seine Wohnung wurde zu einer Art Experimentierfeld, in dem sich die Grenzen von Kunst und Leben auflösten. Er sprach von einem Zustand des „Creleisure“ – ‚creating leisure’ – also, „Muße schaffen“, einer radikalen Entschleunigung durch Kunst. Zunehmend eroberte er auch die Stadt durch Aktionen, Spaziergänge, filmische Experimente und Konzepte für Kunst im öffentlichen Raum. Vito Acconci und Gordon Matta-Clark, die er in dieser Zeit kennen lernt, sind da sicherlich geistig Verwandte. Natürlich braucht es rückblickend heute ein gewisses Reflektionsvermögen des Betrachters, um die Radikalität und Neuartigkeit dieser Entwicklung in der Kunst der 1960er und 70er Jahre in ihrer ganzen Dimension und Bedeutung zu erfassen, zumal uns Europäern der gesellschaftspolitische Kontext Brasiliens – seit 1964 war die Militärdiktatur in Kraft – nicht so vertraut ist.

kunstaspekte: Inwieweit lag Ihr Augenmerk darauf, die anti-musealen Aspekte der späteren Arbeiten einzufangen?



P. Gorschlüter: Das war uns von vorneherein sehr wichtig. Während die Arbeiten Oiticicas in den 1960er Jahren zunächst in Bezug zur europäischen Moderne entstehen und dann zunehmend mit den Konventionen der Kunst der Zeit und auch denen des Museums brechen, löst er sich in der Folge fast vollständig von einem tradierten Werkbegriff. Man könnte sagen, er befreit die Kunst vom Objekt. Das macht es heute schwer, dieser Entwicklung im Rahmen einer Museumsausstellung den Raum zu geben, der ihrer Bedeutung gerecht wird. Oiticica spricht von seinen Werken in dieser Zeit als „Propositions“, also Angeboten an den Besucher, sich der künstlerischen Konzepte und Räume zu bemächtigen. Wir zeigen im MMK u. a. die Installation ‚Rhodislândia’ von 1971, in der Oiticica die Teilung zwischen Akteur und Zuschauer, zwischen Bühne und Zuschauerraum auflöst. Es ist schön zu beobachten, dass die Besucher der Ausstellung dieses Angebot ohne jegliche Erklärungen oder Anweisungen instinktiv annehmen. Wir haben zudem von Ende August bis Ende Oktober drei Außenarbeiten von Oiticica im Palmengarten in Frankfurt präsentiert. Da Oiticica diese Arbeiten auch als „Propositions“ verstand, habe ich den Studiengang Curatorial Studies der Goethe Universität und Städelschule eingeladen, ein Programm mit Interventionen und Performances zeitgenössischer Künstler in den Arbeiten Oiticicas zu kuratieren und realisieren. Es war mir wichtig, diese Arbeiten Oiticicas im Sinne von lebendigen Situationen zu aktivieren, aber auch die Bedeutung von Oiticica für die Kunst der Gegenwart dadurch deutlich zu machen.


kunstaspekte: Was haben Sie bewusst anders gemacht in Bezug auf die Vorgänger-Ausstellungen in Brasilien?



P. Gorschlüter: Wir haben die Ausstellung im Frankfurter MMK mit Leihgaben aus europäischen Sammlungen bereichert und auch die Auswahl in Teilen verändert. Aber vor allem haben wir versucht, die künstlerische Entwicklung Oiticicas nachvollziehbar zu gestalten. Aus jeder Werkgruppe entsteht bei Oiticica bereits die Überlegung zur nächsten. Und wir präsentieren seine Arbeiten nicht als Einzelwerke, sondern sehr installativ als eine chronologische Folge von Werkräumen. Die Architektur des MMK eignet sich hervorragend dafür, und die Werke gehen hier vielleicht stärker noch als in früheren Ausstellungen eine Symbiose mit der Architektur der Ausstellungsräume ein. 


kunstaspekte: Gerade die jüngeren Besucher tragen in ihrer unverbrauchten Art, sich der Arbeiten, die zum Handeln einladen, zu bedienen, zur Lebendigkeit der Ausstellung bei. Ist ein neues und jüngeres Publikum mit weniger Distanziertheit der gezielte Adressat der Ausstellung?



P. Gorschlüter: Die Retrospektive richtet sich aus unterschiedlichen Gründen an zahlreiche Besuchergruppen. Der partizipative Aspekt ist dabei nur einer, wenn auch ein wichtiger, von vielen im Werk Oiticicas. Natürlich sprechen Kinder und Jugendliche sehr direkt auf die Angebote Oiticicas an, aber wir sehen auch 50-Jährige, die in den ersten Räumen des Ausstellungsrundgangs von der kunsthistorischen Reflektion Oiticicas über die Kunst der Moderne beeindruckt sind, und wenige Räume weiter Purzelbäume durch die Installationen – wie der Yoko Ono gewidmeten ‚Cosmococa’ – schlagen. Bei Oiticica geht beides miteinander einher.

kunstaspekte: Nur führt der Weg vom Objekt- hin zum Ereignisparcours nicht auch schnell zum Bespaßungskurs?



P. Gorschlüter: Die Ausstellung ist ein Wechselspiel zwischen Arbeiten, die Aktivität und sicherlich auch Spaß hervorrufen, und Werken, die eher sinnlich und konzeptuell sind. Ich glaube schon, dass es uns gelingt, den Besucher am Ende mit einer sehr differenzierten Erfahrung zu entlassen, die zum Nachdenken anregt. Es gibt aber auch Momente, wo ich drei Kreuze schlage und denke, hoffentlich geht das gut, für die Besucher und für die Kunst.


kunstaspekte: Der Künstler, bedrängt von einem bedrückenden politischen und sozialen Umfeld, betonte die ethischen und emanzipatorischen Dimensionen seiner Arbeiten. Es ging ihm nicht um neue repräsentative, auratische und handelbare Objekte, sondern um die Initialisierung von Mythischem und Nicht-Hegemonialem in unserem Leben: weg von nur artistischen Exerzitien hin zu einer selbständigen Form des „Frei- und Wachwerdens“. Kann dieses Protestpotential von damals ins Heute transportiert werden, bzw. gibt es in der Ausstellung eine von ihnen intendierte kritische Dimension?



P. Gorschlüter: Vor allem die begleitenden Zitate von Oiticica in allen Räumen geben einen Einblick in den Entstehungskontext und das kritische Potenzial des Künstlers. Er hat sich zeitlebens jeder Form der Vereinnahmung widersetzt, sowohl der politischen – er war im besten Sinne Anarchist – als auch der durch seine Künstlerkollegen. Als er 1966/67 die Installation ‚Tropicália’ erschuf, die dann in der Folge einer gesamtgesellschaftlichen kulturellen Strömung der Zeit in Brasilien den Namen verleihen würde, sprach er, kaum war das geschehen, auch schon davon, dass er dem ganzen Tropicalismo in der Kunst keine Bedeutung mehr zuschreiben würde, nur in der Musik. Da hat er auch gewissermaßen bis heute Recht behalten. Dennoch, von dem Freidenker Oiticica können wir uns immer noch bzw. gerade heute, nicht nur kunsthistorisch, noch eine Menge abschauen.

Hélio Oiticica. Das große Labyrinth
MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt
28.09.13 - 12.01.14