Ein Beitrag zur Ausstellung "Mike Kelley", im Stedelijk Museum, Amsterdam, von Lothar Frangenberg

Unter einem end- und lichtlosen Amsterdamer Winterhimmel erscheint die neue Erweiterung des Stedelijk Museums mit ihrer fugenlos glatten Kunststoffhaut in einem blassgrauen Teint. Ihre wie aus einem Stück gezogene Großform steht auf mächtigen Füßen neben dem rot verklinkerten Altbau: eine ambivalente, geradezu maßstablose Erscheinung in Form einer übergroßen Badewanne, die von oben mit Riesenhand in den kleinteiligen und nun spielzeughaft wirkenden Stadtraum gestellt wurde. Eigentlich kein schlechter Ort für eine Ausstellung von Mike Kelley. So hofft man die polarisierenden Qualitäten des Neubaus auch in der Ausstellung wiederzufinden, auch wenn diese nach seinem plötzlichen Tod leider zur Retrospektive gerät.

Betritt man den transparent verglasten Foyerraum unter der aufgebockten Großform, so befindet sich die Mike Kelley Ausstellung sowohl über als auch unter einem, verbunden durch einen hellgelben Bypass mit Rolltreppen. Dieser wird etwas hilflos und viel zu leise mit Proben der Bandaktivitäten des Künstlers beschallt. Im Untergeschoss wird einem schnell bewusst, dass es sich um einen im Wesentlichen chronologischen Parcours handelt, der hier in überwiegend hell ausgeleuchteten Räumen von überraschend musealer Anmutung beginnt. Der Parcours wirkt im Überblick gleichmäßig rhythmisch angelegt, geordnet separiert und aufgeräumt – ohne harte Schnitte und abrupte Übergänge. Der Betrachterblick wird unentwegt weitergelenkt. Im gleitenden Vorbeischweifen und Abtasten der Objekte an den Wänden und auf dem Boden stellt sich schnell eine gewisse, sehr beruhigende Systematik ein. Die musealen Räume betonen diesen Eindruck. Das Durchschlendern wird zu einem ungerichteten, aber behutsamen Vorbei an den gesicherten Terrains der Kelley´schen Arbeiten. Die Art des Ausstellens überlagert das konfrontative Moment, das die Arbeiten im Einzelnen durchaus entfalten können, wenn sie ihre Intensität in einer präziser zu ihnen definierten Raumhülle ausspielen können.

Das kann man beklagen, aber auch im Sinne einer Retrospektive für unvermeidlich halten. Es werden schließlich nahezu zweihundert Arbeiten aus allen Schaffensphasen des Künstlers gezeigt, um den künstlerischen Werdegang, angefangen von den Zeichnungen des Kunststudenten bis hin zu den späteren, ausufernd multimedialen Installationen, deutlich zu machen. Man versteht, wie oft er seine Arbeitsweise und –materialien ändert, wenn er es im Sinne des Projektes für erforderlich hält und wie wenig er dabei auf persönliche Handschrift oder die kalkulierte, heroische Geste setzt.

Die im Untergeschoss vermiedene Zuspitzung führt dazu, dass zwischen den Strukturen von Kelleys Arbeiten und der geordneten Struktur des Museums eine seltsame, schwer zu fassende Korrelation entsteht. Dieser Überlagerung kann man auch Positives abgewinnen. Die strukturellen Momente der Arbeiten treten deutlich hervor. Eine der großen Installationen, das John Glenn Memorial Detroit River Reclamation Project (Including the Local Culture Pictorial Guide, 1968-1972, Wayne Westland Eagle) 2001, gibt ein gutes Beispiel ab. Sie besteht aus zwei flachen, in einem Rechteck abgewinkelten Podesten, die einem Catwalk ähneln. Im Zentrum steht eine übergroße Figur – ein clownesker Alien von trauriger Gestalt. Sie nimmt Bezug auf eine Statue des Astronauten John Glenn, eine bekannte Größe von großem öffentlichem Interesse, die sich in der Bibliothek von Kelleys damaliger Detroiter High School befand. Die stegartigen Podeste werden von zwei wuchtigen, quaderförmigen, schwarzen Gestellen flankiert, in denen in großen, ausziehbaren Rahmen unterschiedlich aufbereitete Zeitungsausschnitte aufbewahrt werden. Sie dokumentieren Lokales vor Ort zwischen 1968 und 1972. Die Gestelle sind auf einer Seite mit Fotocollagen versehen: der Statue John Glenns und von Bigfoot, einem mythischen Wesen aus volkstümlichen Überlieferungen, eine zottelig-haarige Mischung zwischen Affe und Bär, das immer wieder in der amerikanischen Wildnis gesichtet wird. Derart bestückt fungieren diese Gestelle als verdichtende Displays zusammengestellter Informationen, Symbole und kultureller Verweise. Die Stege dagegen sind als Material sortierende Setzkästen genutzt. Hier hat der Künstler Schutt, z.B. in Form von Glasscherben oder Keramikbruch, den er rund um eine Insel im Detroit River gefunden hat, systematisch nach Farben oder Formen geordnet und verklebt. Die zentrale Astronautenfigur wurde einem ähnlichen Verfahren unterzogen, "Memory Ware" genannt, eine tradierte Form amerikanischen Kunsthandwerks, bei der man Gegenstände mit gesammeltem und liebgewordenem, erinnerungsträchtigem Krimskrams überzieht. Nur besteht die Oberfläche der Figur – im Gegensatz zu der Ordnung auf den Stegen – aus einer kunterbunt angelegten Mischung unterschiedlicher Fragmente. Sie erhebt sich mit aufgesplitterter, buntschillernder Haut über den wohlsortierten, kitschig schönen Schutt. Der ausgelegte Schutt wird aus einem entropischen Zustand wieder in einem strukturierten versetzt, bei der Figur läuft es anders herum. Sie verliert Kontur unter der gebrochenen und mosaikartigen Hülle. Ein doppeldeutiger Prozess, einer eingefrorenen Erosion ähnlich, läuft ab und lässt ein Vexierbild an der Grenze zwischen Rationalisierung und Intuition entstehen.

Das alles ist mit den unterschiedlichen Techniken des Präsentierens aus Hoch- und Volkskultur massiv gefestigt, schwarz gerahmt, eingehaust oder in schwarzem Klebebett einzementiert: eine wie abschließend wirkende, schützend konservierende Aufbewahrung, die das "Museale" als Sammlung in der Sammlung geschickt verdoppelt, aber auch ironisch bricht. Kelley führt diese festgefügte und -geklebte Vergewisserung von Bruchstücken möglicher Erinnerungen und Projektionen in einem gleichzeitigen, aber klar ablesbar konturierten Zueinander vor. Und dennoch tritt einem etwas unauflösbar Anderes und Fremdartiges entgegen.

Nebenan steht das schon häufiger gezeigte, weiße Modell des Educational Complex von 1995. Auf einer großen Platte ist eine Ansammlung von Architekturmodelle aller Schulen und Institutionen, die der Künstler besucht hat, samt Elternhaus zu einem einzigen, Supererziehungs- und kunstkomplex zusammengeschoben. Mal dicht, fast labyrinthisch, dann sich wieder vereinzelnd, manchmal mit Einschnitten und Öffnungen, die von oben Einblicke gewähren in weitere innenräumliche Verschachtelungen, wirkt es wie ein typisches, abstrahierendes Anschauungsmodell. Seine Leerstellen kennzeichnen Orte und Räume, an die sich Kelley nicht mehr zu erinnern vermochte. Aber die Beliebigkeit des konzentrierten Form- und Stilmixes offenbart auch eine darüber hinausweisende innere und äußere Leere. Ein Komplex löst den anderen ab: eine Ansammlung ohne Auflösung oder Ausgang in einem endlosen Zirkulieren. Kelley setzt die Konstruktion des Modells und seiner Module zur (Re)Konstruktion von autobiografischen Erinnerungen ein. Modellhafter Architekturraum scheint sich zu Gedächtnisräumen zu verfestigen. Allerdings derart zur Anschauung gebracht, dass sie prototypisch als ein kollektiver Gedächtnisspeicher zu jedermanns Erinnerungslandschaft dienen könnten: ein Speicher auch voller verdrängter oder falscher (Wunsch)Erinnerungen. Der Künstler stellt dabei das Selbst als ein festes Ganzes mit durchlaufender Entwicklung zur Disposition. Sowohl das subjektive wie das kollektive Gedächtnis werden permanent umgewandelt, neu eingespeist, und die sogenannten "Erinnerungen" sind oft nur Wunschprojektionen. Alle diese verschachtelten Ausbildungs-, Disziplierungs- und Erinnerungskomplexe begleiten, umstellen, ja durchdringen das "Individuum", das sich als personalisierte Schnittmenge wiederfindet.

Auf dem Weg nach oben in die Badewanne zu neueren Arbeiten stellt sich unwillkürlich der Gedanke ein, dass das Entleerende und wieder Verdichtende des Educational Complex mit all den labyrinthischen Verschneidungen gut als Modellparcours einer Kelley-Ausstellung getaugt hätte.

Man begegnet nun den ersten Arbeiten der Kandors-Serie (ab 2007), Lichtkästen mit comicartigen Darstellungen von Supermans Heimatstadt im Glaskolben, die sich, nach dem man den Raum mit einigen Beispielen der installativen Videoprojektionen aus der bizarren Serie Extracurricular Activity Projective Reconstruction, von Künstler als Gesamtkunstwerk intendiert, durchquert hat, in sehr opulenter Form weiter fortsetzt. Die EAPR-Beispiele liefern dazu ein wohltuendes akustisches und optisches Grundrauschen als mediale Belebung. Kandor, Supermans Heimatstadt, wurde von einem Schurken geschrumpft und in einen Glaskolben verbannt. Superman, dessen Heimatplanet längst zerstört ist, gewann sie zurück und bewahrt sie auf in der Hoffnung, sie eines Tages in ihre normale Größe zurückversetzen zu können. Superman ist eine Art moderner Sisyphos, der nie müde werden darf, in übermenschlicher Anstrengung die Welt vor Schäden zu bewahren. Er läuft dabei ständig Gefahr, seine außergewöhnlichen Kräfte zu verlieren und selber in existenzielle Nöte zu geraten – eine gefährdete, heimatlose Existenz – Rückkehr ausgeschlossen – oft vor dem endgültigen Versagen. Seine am Tropf hängende Retortenheimatstadt führt der Künstler in den verschiedensten oft wenig greifbaren Formen und Wucherungen vor. Schon die Zeichner des Comics konnten sich nicht auf eine einheitliche Ausprägung verständigen, ließen sie im Unklaren. Es gibt keine durchgängige Form oder Gestalt. Kelley schafft parallel weitere, von amorphen, schillernden Pilzkulturen bis hin zu kristallin kantigen oder technischen Gebilden, die in den unterschiedlichsten Farben und Ausleuchtungen erscheinen: eine Fata Morgana, sei es als am Leben gehaltene Kindheitserinnerung an bessere Tage oder als geschrumpfte Utopie einer gescheiterten Moderne. So mögen die Traumata von Superman auch die des Künstlers oder die aller sein. Der Traum von einer "Heimatstadt" mag auch der einer idealisierenden Vision sein, die die Erinnerungen an das Leiden im "wahren" Leben unterdrückt, an all die Komplexe in und zwischen denen man sich permanent bewegt – im Rahmen der persönlich verträglichen und der gesellschaftlich vereinbarten Riten.

Weiter hinten am Ende der Wanne, in einem kleinen, kinosaalähnlichen Vorführraum, treibt u. a. der Banana Man (1983) in einem Video lauthals sein Unwesen. Er tobt sich aus und führt seine grotesk, aggressiven Aktionen vor. Es handelt sich um eine konstruierte Rolle, angelehnt an die Figur aus einer amerikanischen TV-Serie für Kinder nach dem Motto "Iss das Richtige und sei stark ", die Kelley offenbar nie gesehen hat. Sie steht natürlich auch für die bekannten Projektionen der Erwachsenen auf die Kinderwelt, so wie sie sein sollte: eine angemessene, sinn- und liebevolle. Das Verdrehen der Rolle steht dem Künstler gut zu Gesicht – für ihn, der im Dauerspagat als Künstler und auf seine Art des amerikanischen Überlebenskämpfers ein "erfolgreicher Versager" sein wollte – eine unzumutbar anstrengende Aufgabe.

Der Weg in den "Badewannenkomplex" ist trotz aller Einschränkungen für uns, die längst von der Massenkultur assimilierten Aliens, ein lohnender.

+ Ausstellung "Mike Kelley", im Stedelijk Museum, Amsterdam, vom 16.12.2012 bis 01.04.2013