Ein Beitrag zur Ausstellung "Michael Beutler. Moby Dick" im Hamburger Bahnhof, Berlin, 2015

von Lothar Frangenberg

Schon mit dem Blick in die Ausstellungshalle des Hamburger Bahnhofes fällt es einem schwer, das Auge zu fokussieren. Die am Entrée noch offene und weitläufige Anordnung verschiedenster Objekte und Apparaturen scheint sich in Tiefe des Raumes hinein mehr und mehr verdichtend zu überlagern: eine unübersichtliche Agglomeration. Auch der Status dieser Gegenstände bleibt zunächst unklar. Handelt es sich um Materialien, Werkzeuge, Requisiten, Lagerbestände oder Kunstobjekte? Ihre Anordnung und Präsentation lässt keine besondere Hierarchie innerhalb des Arrangements der Ausstellung erkennen. Der vermeintliche Grad ihrer Fertigstellung hilft nicht weiter. Der als möglicher Apparat identifizierbare Gegenstand präsentiert sich „formvollendeter“ als der fragmentarisierte, skulpturale Eingriff. Die Signale sind deutlich: Es geht nicht um die Präsentation von Kunstwerken als in sich abgeschlossenen Einzelobjekten.

Der Rundgang mit Hilfe des vom Künstler erstellten Grundrissplans lässt dennoch das Gerüst der Ausstellung erkennen. Die bei weitem größten Arbeiten sind vor Ort in Auseinandersetzung mit der linearen Rund- und Stahlbogenstruktur der Ausstellungshalle entstanden. Zum einen „Moby Dick“: Die Rundbögen der Halle, die vom Haupt- in die Seitenschiffe überleiten, werden stark vereinfacht mit Hilfe von Baumatten, die mit Folien überspannt sind, nachgebildet. Teils in der Höhe verspringend, teils unvollendet, schwingen sie in Viertelkreisen gegeneinander in den Raum hinein und brechen dynamisierend die Linearität der vorhandene Architektur auf. Weitere, noch nicht zum Einsatz gekommene Bogenteile lehnen als Requisiten an der Wand und warten auf ihren Einsatz. Zum anderen „Pequod“: Von gleicher Materialität steht dieser übergroße Kreisel als Dreh- und Angelpunkt zwischen den in Szene gesetzten Raumbewegungen der Bögen und nimmt sie beweglich auf. Er ist als Anspielung auf die alten Portale der ehemaligen Bahnhofshalle zu verstehen, die zur Drehscheibe für die Lokomotiven führten. Ein umgekehrtes Karussell, bei dem Hülle und Gerüst in Drehung versetzt werden können, während der roh aus Holz gezimmerte Kreis aus Sitzen unbeweglich arretiert ist. Davor, dazwischen und dahinter Werkgruppen und die selbstgebauten Apparaturen, zusammengezimmert aus den verschiedenen, einfachen, oft farbenfrohen und für Beutler typischen Materialien. Sie stammen aus verschiedenen Schaffensperioden des Künstlers und wurden vor Ort wieder aufgebaut, neu gruppiert und verändert. Diese Anhäufung von kleineren Strukturen in Form von Modellen, Modulen, Sitzgruppen, Materialsammlungen und pavillonartigen Aufbauten ignoriert die großen skulpturalen Eingriffe und Bewegungen, lässt sie improvisierter erscheinen. Auf diese Weise führen der Künstler und sein Team uns ihre Auseinandersetzung mit der großen Ausstellungshalle zweifach vor Augen. Karussell und Baumattenbögen setzen die Konstruktion der Halle in Bewegung, die oft lapidar beiläufige, in Teilen sich überlagernde Anordnung der Werkgruppen versetzt sie in Unordnung. Und noch eine Dynamisierung kommt hinzu: So wie der Titel „Moby Dick“ auf den fortwährenden Kampf von Kapitän Ahab auf seinem Schiff „Pequod“ gegen den weißen Wal anspielt, so treten auch vor Ort der Künstler und sein Team während der Ausstellung immer wieder im Ringen mit dem riesigen Ausstellungsraum zur Weiterarbeit an, um den Raum und die Präsentation prozesshaft zu verändern.

Der große, drehbare Kreisel führt es vor. Die Gegenstände geraten in Bewegung, nicht die Besucher. Nicht unsere Bewegungen zwischen den Objekten und unsere wechselnden Standpunkte vor ihnen stehen im Vordergrund, sondern die Art und Weise, wie sie produziert und transformiert werden können. Die Werke geraten ins Fluktuieren, ihre Grenzen sind nicht eindeutig oder fest. Die Anmutung der Ausstellung, gleichzeitig als Lager, Atelier und Präsentationsbühne zu erscheinen, betont den Eindruck des unaufhörlichen Auf- und Abbauens, des Entstehens und Zerlegens. Die Kunstobjekte als Bestandteile modularer Systeme werden immer wieder neu miteinander verbunden und dialogisch zugeordnet. Für den Betrachter ist kaum abzuschätzen, in welche Richtung sich diese Abläufe von der Idee über deren Ausformung bis hin zur Auflösung im hier ausgebreiteten Produktions- und Recyclingsystem gerade bewegen. Einzelschritte innerhalb der Produktion bleiben aber anhand der abgestellten, mit Muskelkraft betriebenen Apparaturen zur Bearbeitung der Materialien konkreter nachvollziehbar. Die schweren Holzrollen und Hebel lassen die körperlichen Anstrengungen bei der Bedienung der Low-Tech-Geräte erahnen. Zwischen all den Anhäufungen von Metallgittermatten, Schnüren, Latten und Folien werden diese vom Künstler in ihrer ruppigen und prototypischen Einfachheit konstruierten Apparate zum Stanzen, Wickeln oder Prägen genutzt. Stehen sie still und ungenutzt im Raum, verschmelzen sie mit benachbarten Gegenständen zum Skulpturenensemble.

Die im überbordenden Ganzen der Ausstellung herausdestillierbaren Produktionsschritte folgen einer nachvollziehbaren, technischen Logik. Die Nähe zu industriellen Methoden der Serienproduktion ist jedoch nur eine scheinbare. Es sind keine autarken „Maschinen“ für den schnellen und effektiven Dauerbetrieb. Der Einsatz von Muskelkraft und Handwerk prägt die Funktionen. Die Geräte stehen eher modellhaft für eine Form postindustrieller Fertigung. Es sind Modelle in einem experimentellen Metamodell einer künstlerisch initiierten, ökonomischen Produktionskette nach eigenen Standards. Bei diesen Versuchsanordnungen handelt es sich um einen Akt des Vergewisserns, eine Art Gegenwehr, mit der der Künstler den allgegenwärtigen, modernen Technokratien und ihren Kontrollmechanismen ein eigenständigeres System entgegensetzt. Dazu gehören Methoden des Improvisierens, des stetigen Wechselns und das Verharren im dauerhaft Unfertigen. Objekthafte Gebilde und Konglomerate mit offenen Grenzen entstehen, an denen sich die Ereignishorizonte überlagern. Nicht ihre entschiedenen Abgrenzungen voneinander oder zum Umfeld sind die sie prägenden Konstanten, sondern die ergebnisoffenen Durch- und Übergänge. Die von Beutler exemplarisch von Grund auf entwickelten Produktionsketten geben die Objekte nicht endgültig frei. Sie bleiben ihnen inhärent. Kurz vor ihrem Verfestigen lösen sich Arbeiten wieder auf, verflüchtigen sich und erliegen der vom Künstler in Gang gesetzten „Entropie“ im Wechsel zwischen Gestaltwerdung und Formlosigkeit.

Diese auf wenig Arbeitsteilung zurückgefahrene Herstellung lässt ein hohes Maß an persönlicher Einsicht und Kontrolle über den gesamten Vorgang zu und funktioniert als Beispiel einer weitgehend selbstbestimmten Produktion. Mit diesem Konzept testet der Künstler die gewählten Möglichkeiten und ihre Auswirkungen. Als ein kritisches Gegenüber zu den uns umgebenden, ökonomischen Strukturen und durchindustrialisierten Warenwelten ist es nicht nostalgisch oder rückwärtsbezogen. Im Ausstellungsraum werden wir Zeugen dieses Bemühens. Wir besichtigen, nehmen aber nicht direkt teil. Wir können als Besucher nicht mit dem Künstler in die konzeptionellen und technischen Tiefen und die handwerklichen Anstrengungen seiner Fabrikation eindringen. Verglichen mit den ausufernden, weltweiten Massenproduktionen ist die produktive Umsetzung seiner Konzepte als konsistent ablaufende, rückkoppelnde Systeme reduziert und maßvoll, gemessen an den Möglichkeiten einer Kunstaustellung gibt sich die Präsentation im Hamburger Bahnhof prall, eingängig und populär. So erliegen wir, zwischen kritischer Reflektion und genussvoller Besichtigung schwankend, immer wieder den verführerischen Reizen des Dargebotenen. Die visuellen und haptischen Verlockungen der handwerklich geprägten Mechaniken und Objekte mit den Oberflächenreizen ihrer Recycling-Optik sind groß. Diese oft farbenfrohen Oberflächen zu „durchdringen“, erweist sich beim Flanieren und Stöbern, das die Anlage dieses Parcours geradezu herausfordert, als eine sich ständig abzuverlangende Pflicht. Ob das der künstlerischen Arbeit innewohnende, kritische Potential vor Ort ausreichend in Richtung Besucher ausgeschöpft wird, sei trotz aller Qualitäten der Ausstellung dahingestellt. Mit der dem Künstler eigenen „Ökonomie“ entsteht hier ein Überschuss ästhetischer Verlockungen. Zu fragen bleibt auch, inwieweit das mit der Ausstellung betont thematisierte Moment der selbstbestimmten Kontrolle über Prozesse der Produktion nicht ein die künstlerische Arbeit per Definition begleitendes ist. Wenn solche notwendigen und selbstverständlichen Bedingungen künstlerischer Praxis mit diesem Kraftaufwand und solchen Dimensionen zur Vorführung kommen, drängt sich der Eindruck auf, der Künstler lässt trotz aller beindruckenden Qualitäten die Muskeln ein wenig zu viel spielen. Im größtmöglichen Auftritt liegt die Gefahr, selber gemäß unserer Moderne maßlos zu werden.

Hamburger Bahnhof - Museum für Gegenwart, Berlin
Michael Beutler. Moby Dick 17.04.2015 - 06.09.2015