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"Benuetze das Foto als Waffe." Vorwort zum Festival

John Heartfield. Schon immer wurden Bilder als Möglichkeit der Meinungsbildung eingesetzt; die Kamera jedoch macht das Problem der Perspektivität deutlich: eine Linse, ein Auge, eine Sichtweise. Eben dies muss sich der Anspruch des Dokumentarischen immer wieder bewusst machen. Verdeutlicht die dadaistische Fotomontage eines John Heartfield ihren Zweck als politische Agitation, ist die aktuelle Suggestionskraft subtiler – so subtil, dass das Maß der Gestimmtheit nur schwer einzuschätzen ist. Nicht nur die Manipulierbarkeit des Mediums, sondern auch die politische und kulturelle Prägung der Produzenten und ihrer Zielgruppen steht heute mehr denn je auf dem Prüfstand: Die Kamera als Waffe hat eine sehr ambivalente Bedeutung erlangt.

Gerade die weltpolitischen Konflikte der letzten Jahre haben das Bewusstsein für die Gestimmtheit der Bilder immens geschärft. Dieses Bewusstsein würdigt auch das 19. Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest und widmet sich der Meinungsvielfalt. Positionen und Themen werden durch einen Ausschnitt aus dem internationalen Arbeiten mit Film und Video besetzt, dessen unterschiedliche Formen vom abendfüllenden Kinofilm bis hin zum Kurzvideo reichen. 35 Dokumentarfilme sowie 207 internationale dokumentarische und künstlerisch-experimentelle Videoarbeiten aus 28 Ländern werden in insgesamt 49 Veranstaltungsblöcken präsentiert, darunter zahlreiche Welt-, Europa- und Deutschlandpremieren.

Nie zuvor war das Programm unseres Festes so umfangreich und vielschichtig. Dies haben wir nicht nur der immens angestiegenen Zahl von Einsendern zu verdanken (1520 Arbeiten aus 50 Ländern), sondern in erster Linie der erheblich verbesserten Förderung seitens der Stadt Kassel und des Landes Hessen (Hessische Filmförderung, hessen-media). Durch das finanzielle Engagement der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, der SV SparkassenVersicherung und der Kulturstiftung der Kasseler Sparkasse konnten wir besonders die Präsentation des Medienschaffens aus Hessen und Thüringen ausbauen und somit zur Förderung des regionalen Nachwuchses beitragen. An dieser Stelle gilt unser Dank ebenso allen anderen Förderern, Sponsoren und Unterstützern, die mit ihrer Unterstützung ihr Vertrauen in unsere Arbeit gezeigt haben. Nur durch sie ist das Festival in dieser Form und in diesem Umfang möglich geworden.

In Anbetracht der weltbewegenden Geschehnisse rund um den 11. September 2001 findet sich hier ein eindeutiger Themenschwerpunkt des Festivals. Die immer wiederkehrende Konfrontation mit den Bildern des brennenden World Trade Centers untergruben das Gefühl für die Wirklichkeit der Bilder – noch heute, ein Jahr danach, ist die Wahrhaftigkeit dieser so sehr an Hollywood-Fiktion erinnernden Szenen unfassbar. Doch die Bilder, die diesem Horrorszenario folgten, können und sollen reflektiert werden.

Dies versucht 11‘09‘‘01 als Reaktion prominenter Filmemacher wie Alexandro González Inárritu, Shohei Imamura, Claude Lelouch, Ken Loach, Mira Nair oder Sean Penn. Auch innerhalb des experimentellen Videos ist eine intensive Beschäftigung mit dem 11.9. zu verzeichnen; dem tragen die aus etwa 60 Einreichungen zusammengestellten Kompilationsprogramme Affekte und Aspekte und Nachwirkungen Rechnung. Alle diese Beiträge setzen sich aus einer oft persönlichen Sicht und aus der Perspektive ihrer kulturellen Herkunft mit dem 11. September auseinander – ausgedrückt werden dabei kritische Reflexionen sowohl über politisch-religiöse Strukturen als auch über die Medien an sich.

In diesem Zusammenhang ist es immer wieder die Verdeutlichung der Unterschiedlichkeit der Kulturen, die zu den Aufgaben und Themen des Dokumentarischen zählt. So beleuchten Promises und die Kompilation Neue Palästinensische Kurzfilme den Konflikt zwischen Israel und Palästina aus verschiedenen Blickwinkeln. Und so ist es immer wieder der fragende, staunende Blick, durch den sich die Form zeitgenössischer Ethnografie auszeichnet: Elsewhere dokumentiert weltweit Reste archaischer Lebensformen, während sich American Dream mit der absurden Seite des amerikanischen Alltags auseinandersetzt. Doch auch Deutschland wird eingehend untersucht: Beschreibt Uckermark die Auswirkungen der deutschen Vereinigung, forderte die Dorothee Wenner in Unser Ausland zehn (ausländische) Experten dazu auf, ihr Bild von Deutschland zu beschreiben. Treten hier deutlich subjektive Eindrücke zu Tage, ist das Individuum Mittelpunkt eines Themenschwerpunktes, den man als Lebenswege umschreiben könnte. Hier findet sich die Videokompilation Re:Konstruktion und der Dokumentarfilm Von Werra eingefügt. Mit War Photographer, dem Portrait des Fotografen James Nachtway durch Christian Frei, schließt sich wieder der Kreis zum Thema Krieg in den Medien und wird erweitert durch Kriegsspiele von Marcus Vetter, der den Einfluss von Computerspielen wie »Counterstrike« auf die Gewaltbereitschaft Jugendlicher hinterfragt.

Die Frage nach dem kulturellen Kontext stellt sich nicht nur im Zusammenhang mit Konflikten, sondern bestimmte auch die Documenta11, die kürzlich in Kassel zu Ende ging. Konnte das vorangegangene Festival mit der Reihe »documenta+Film« zum vorbereitenden Diskurs über die Ausstellung beitragen, bieten sich nun Nachbetrachtungen in den Programmen Documenta11-Einsichten und Documenta11-Ansichten.

Der Konnex zwischen Dokumentation und Kunst war allerdings von jeher ein Anliegen des Festivals und so widmen sich weitere Programme der Wiederentdeckung des deutschen Experimentalfilms an den Beispielen von Ottomar Domnick und Helmut Herbst. Letzterer porträtiert in seinem Film John Heartfield, Fotomonteur den eingangs zitierten Pionier der politischen Fotomontage. Aktuelle Ansätze des Experimentellen finden sich in zahlreichen Programmkompilationen, u.a. in Musterwelt und Fakten, Fake, Effekte.

Nahtlos reiht sich hier der Blick auf Kulturtechniken an. Eine Klammerfunktion zwischen dem Ethnografischen und dem Themenbereich »Film im Film« nimmt Soul of a Century ein – eine Kulturgeschichte des Amateurvideos; ein Resumée des 20. Jahrhunderts in deutschen Super8- und Videokameras. Zeigt sich schon hier ein ausgeprägter privater Hang zum Film, wächst er sich in Cinemania zur Manie aus: Wir wünschen den Besuchern des 19. Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes einen Bruchteil des hier bewiesenen cineastischen Durchhaltevermögens.

Neben diskursiven und kritischen Ansätzen fehlt es auch nicht an Witz und Unterhaltung. Die Leidenschaft fürs Kino manifestiert sich schon in der Auftaktveranstaltung: Mit Martin Lükers imaginärer Filmmusik werden die Gäste auf den Eröffnungsfilm Bellaria – So lange wir leben! eingestimmt, während der Norwegische Männerchor aus Heftig und begeistert die Zuschauer schlichtweg mit sich reißt. Humorvoll bis zum komödiantischen Witz zeigen sich die Videoprogramme Tiere vor der Kamera und Nicht wirklich – ganz zu schweigen vom legendären Programm kurz & knapp, das auch mal ins Absurde abdriften kann. Zur Festivalparty gibt es Love Like Video zu sehen und Visualjazzcomicalbeat zu tanzen. Mitreißend im Sinne einer Wahrnehmungsveränderung auch einige Medieninstallationen der Ausstellung MONITORING: 15 Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern aus Kanada, der Schweiz und Deutschland werden im Südflügel des Kasseler KulturBahnhofs, in den BALi Kinos und in der Galerie Stellwerk gezeigt. Als thematische Schwerpunkte der Ausstellung erweisen sich wiederum Aspekte von Gewalt, die der Besucher durch die Painstation sogar am eigenen Leibe spüren kann, wie auch die Uneindeutigkeit von Bildern.

Zum 9. Mal lädt das Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest zur fundierten Workshop-Tagung interfiction ein. Auch ihre inhaltliche Auseinandersetzung mit der Medien- und Netzkultur setzt sich in diesem Jahr mit der Frage nach Brüchen auseinander: Unter dem Titel »arteFaction! Kunstfehler in /als Medien« werden nicht allein digitale Kunst(hand)werk(e) mit und ohne AutorInnen betrachtet, sondern vor allem interessiert sich die Tagung für Vermittlungsschwierigkeiten und Übertragungsfehler aller Art.

Das Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest macht sich stark für die Nachwuchsförderung. Zum zweiten Mal wird der auf 2.500 5 dotierte »Goldene Herkules« der Tageszeitung »Hessische Niedersächsische Allgemeine HNA« für die beste filmische Produktion aus Nordhessen vergeben. Neu hingegen ist »Der Goldene Schlüssel«, ein ebenfalls auf 2.500 5 dotierter Preis des Kulturdezernenten der Stadt Kassel für eine überragende dokumentarische Nachwuchsarbeit. Den innovativen Einsatz digitaler Medien im künstlerischen Bereich wiederum fördert das Werkleitz Projektstipendium.

Die Kamera als Waffe? Die Macht und die Manipulierbarkeit der Bilder wird immer wieder diskutiert – auch hier, gemeinsam mit den anwesenden Regisseuren. Das Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest bietet eine vielschichtige Auseinandersetzung mit den bewegten Bildern: dokumentarisch, künstlerisch, diskursiv – und amüsant.

Unseren Besucherinnen und Besuchern wünschen wir anregende Unterhaltung und spannende Diskussionen.

Pressetext

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19. Kasseler Video- und Dokumentarfilmfestival

Die Preisträger des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofestes 2002:
Klaus Stern, Jens Schanze, Christoph Steinau, Monika Stellmach, Oliver Husain

Ausstellung MONITORING
im Kasseler KulturBahnhof
KünstlerInnen: Maja Bräutigam, Martin A. Dege, Matthias Fitz, Michel Chevalier, Emily Heath, Angela Hiss, Ute Friederike Jürss, Christian Meyer, Ulrike Mohr, Volker Morawe, Tilman Reiff, Katarzyna Paczesniowska-Renner, Oliver Scharfbier, Jakob Schillinger, Max Philipp Schmid, Eva Teppe