press release only in german

Eröffnung der Ausstellung am Samstag, den 20. September um 19 Uhr

Skulptur als Zeichen und Funktion

1990 hat Achim Bitter einen Spaziergang in einer mittelgroßen Stadt unternommen. Er fotografierte, was ihm auffiel. Im Buch, das die Ergebnisse versammelt, entdecken wir, von seinem Blick durch das Kameraobjektiv geleitet, anachronistische Kinderspielplätze, modernistische Skulpturen, technoide Toilettenhäuschen, serielle Warenauslagen, Klinkerfassaden, Weggeworfenes. Der ästhetische Blick wertet alle Informationen gleich. All diese Elemente verkörpern jeweils einen anderen, vom wechselnden Warenangebot diktierten, flüchtigen Zeitgeschmack. Wir sehen die Verschönerungs-Stile der fünfziger, sechziger, siebziger, achtziger Jahre an uns vorbeiziehen, jede Dekade scheint von vollständiger Amnesie gegenüber der vorhergehenden beherrscht. Jede zeittypische Form assoziiert wechselnde soziale, ökonomische und politische Realitäten, die dem Betrachter oder der Betrachterin des Buches je nach eigenem Lebensalter näher oder fremder erscheinen, und deshalb auch immer auf eigentümlich direkte Weise mit der eigenen Biografie zu tun haben. Die Stadt exponiert sich in ihrer traurigen Einsamkeit, Gebrauch und Lebendigkeit scheinen nicht zu existieren, vielleicht wohnen die Menschen schon längst an anderen Orten und auf eine ganz andere Weise. Abstraktion, dokumentarische Information und anekdotischer Witz halten sich in dieser Form der Annäherung die Waage. ‚Rutpluks’ nannte Bitter dieses Fotobuch: wenn man die Buchstaben, die den Begriff des klassischen künstlerischen Mediums ‚Skulptur’ bilden, umdreht, leitet man den Prozeß der Dekonstruktion ein für das, was der Begriff bezeichnet. Dann kann man ihn neu buchstabieren.

Achim Bitter beobachtet nicht nur die Welt um sich herum wie ein Reisender vom Mars aus distanzierter, aber interessegeleiteter Perspektive, sondern er ist selbst ironisch kommentierender Architekt und Arrangeur, er macht ‚Rutpluks’. Das Ereignis des Zeigens findet direkt statt, mit allen sinnlichen Komponenten entfaltet sich die expositorische Situation mit Objekten, Materialien, Proportionen, Relationen etc. Das kann so einfach aussehen wie fünf graue Kartonrollen, ehemalige Kerne von Toilettenpapier, bedeutungsvoll auf einen Sockel platziert (1992), eine Geste, die zeigt, wie Form entsteht: mit jeder Wahrnehmung und der daraus – möglicherweise, aber nicht unbedingt – resultierenden Setzung. Diese Haltung ist zugleich fundamentalistisch und ironisch, und in dieser Mischung ist sie auch provokativ. Nun steht dieser Haltung die gesamte Gegenständlichkeit unserer kleinen sozialen Welt zur Verfügung. Eine Unmenge, eine kaum vorstellbare Vielfalt von Dingen, Abfallelementen, Möbeln kann zusammengestellt, verdichtet werden. Lager, Aufbruch, Chaos, Zerstörung prägen ganze Räume: mal ist das Material platzsparend verdichtet, mal breitet es sich eher bedrohlich aus und eröffnet mäandernde enge Wege, ohne Zentrum, ohne System.

Der legendäre Satz “The world is full of objects more or less interesting; I do not want to add any more“ des amerikanischen Konzeptkünstlers Douglas Huebler könnte einem bei der Betrachtung dieser Arbeiten in widersprüchlicher Weise in den Sinn kommen. Hueblers Konsequenz aus der Ablehnung jeglicher Objektproduktion waren Foto-Textarbeiten. Bei Achim Bitter sind wir zwar mit einer Vielzahl von Dingen konfrontiert, aber es handelt sich um eine temporäre Zusammenstellung, wie Huebler möchte er der Welt nichts hinzufügen. Die Geste des Temporären ist ständig präsent. Die Dinge werden aus dem Ausstellungsraum wieder verschwinden, sie kommen wieder dahin, wo sie hergekommen sind und damit werden sie wieder in die Unsichtbarkeit und Bedeutungslosigkeit entlassen. Ein Prozeß, wie Zeichenhaftigkeit verliehen und wieder entzogen wird, wird vorgeführt. Die Elemente werden unter bestimmten Bedingungen zum Sprechen gebracht, und wir wissen genau, während wir sie anschauen, dass sie es bald nicht wieder tun werden. Robert Smithson, um noch einen anderen Künstler der sechziger Jahre-Generation zu nennen, hatte eine Dialektik von Ort und Nicht-Ort entwickelt. Fundmaterial wurde in den Ausstellungsraum transponiert und mit Text, Fotos, Karten zu einem offenen Ensemble von Zeichen zusammengefügt. Dieses Ensemble will den Ort nicht ersetzen, es spricht aber vom Ort bzw. von seiner Abwesenheit und deshalb identifiziert es sich hier als Nicht-Ort. Doch diese Dialektik wurde einmal etabliert. Das Ensemble war nun Kunst im ästhetischen Raum, die auf etwas im außerästhetischen Raum verwies. Bei Achim Bitter wird der Prozeß der Signifikation und des Verweisens auf die reale Welt wieder rückgängig gemacht.

Und dieses voraussehbare Verschwinden erzeugt eine Dramatisierung und Theatralisierung im Ausstellungsraum. Wo kommt das Material her? Die Anlässe für Achim Bitters Arbeiten sind mit bestimmten Situationen verknüpft. In Rom beispielsweise hatte er das in der Villa Massimo zerstreute Inventar konzentriert (1999). Für das KünstlerHaus Bremen (2000) hatte er die Keller und Magazine anderer Kunstinstitutionen durchstöbert, für eine Reihe von Arbeiten (Künstlerhaus Bethanien Berlin, Kunsthalle Hamburg 2000, GAK Bremen, Kunstverein Hannover 2001) engagierte er Entrümpelungsfirmen, soziale Einrichtungen, Recycling-Unternehmen. In dieser Strategie manifestiert sich explizit ein besonderes Interesse an dem Vorgang des Recycling. Was weggeworfen wurde, wird in einen Gebrauchsrückführungsprozeß geschleust. In diesem Prozeß von Funktionsverlust /-entzug und Refunktionalisierung gibt es dank der Strategie von Achim Bitter einen kleinen Ausflug, einen Umweg in den ästhetischen Raum. Dieser Umweg ist keineswegs unwichtig, denn jetzt können die Dinge neu gesehen werden, aber nicht nur das: sie können auch neu benutzt werden. In die Stapelungen, Anhäufungen, Streuungen werden andere Funktionen eingelagert. Bücher, deren thematisches Spektrum von der Philosophie des Raumes bis zu Anleitungen für Heimwerker reicht, lagen in Wohnzimmerschränken oder auf Stühlen und Hockern (GAK Bremen 2001) zur Lektüre bereit, das skulpturale Ambiente der Villa Massimo war tägliche Anlaufstelle für die zeitungslesenden Bewohner des Hauses, andere Arbeiten waren Ambiente für Kinos, in ihnen konnte man Collagen von Filmen von Pierrot le Fou über Themroc bis zu Dokumentarfilmen über Tschernobyl und Crash-Tests rezipieren – ein Reigen von Raumbildung und Zerstörungsvisionen (KünstlerHaus Bremen 2000, Hamburger Kunsthalle 2001). Bibliothek und Kino werden in ihrer traditionellen hierarchischen Anordnung auf den Kopf gestellt: diese alter egos der bildenden Kunst nisten sich in die skulpturalen Gefüge ein und öffnen enge Definitionen von Funktion, Gebrauch, Rezeption.

Gegenstände, die Abfall oder funktionslos waren, werden reaktiviert, zusammengestellt, nach Farbe, Form, Größe und nicht zuletzt nach konstruktivem Vermögen in einem Zusammenhang, der ein mögliches Zusammenbrechen nie ganz verleugnen kann. In der konkreten Nachbarschaft werden Dinge bedeutsam. Die holländische Kulturwissenschaftlerin Mieke Bal hat einmal eine Sammlung mit einer Erzählung verglichen.1 Die Zusammenhänge der Objekte einer Sammlung untereinander sind wie in einer Erzählung durch syntagmatische Beziehungen bestimmt. Diese können synekdochisch (Teil eines Ganzen), metonymisch (im Verhältnis zu einem anderen Objekt), metaphorisch (Exemplar einer Klasse) sein. So hat jede Kombination auch eine Rethorik. Jedes neue Objekt, das hinzugefügt wird, verändert sich selbst und verändert seine Umgebung. Nun sind Achim Bitters Installationen keine Sammlungen im konventionellen Sinn, sondern eher ‚Ansammlungen’ und damit sind auch die fetischistischen Grundzüge, die jeder Sammlung zugrunde liegen, nicht gegeben. Eher haben die Installationen und die Elemente, aus denen sie bestehen, einen Charakter, der an den Übergangsraum und an das Übergangsobjekt des englischen Kinderpsychiaters Winnicott erinnern.2 Übergangsobjekt und –raum, die durchaus mit ambivalenten Gefühlen behaftet sind, haben für eine bestimmte Zeit eine essentielle Funktion im Prozeß von Subjekt- und Kulturbildung und können diese auch wieder verlieren. Sie sind nicht mit dem zeitlosen Wiederholungszwang, der zum Fetisch gehört, behaftet.

Von was erzählen die ‚Ansammlungen’ Achim Bitters? Sie erzählen von der Entlastung und Befreiung im Übergang von Funktionsverlust und Funktionsgebung. Sie erzählen, dass es ein ästhetisches Vergnügen ist, Möbel, Kisten, Gerätschaften neu zu sehen. Sie erzählen, dass es Lust bereitet, in diesen machmal beängstigenden Situationen, die Körper und Blick aktivieren, Bücher zu lesen, Filme zu sehen, Skulptur anzuschauen, Raum zu erfahren. Sie erzählen, dass mehrdeutige Signifikation und Funktionalisierung wichtige Aufgaben eines Kunstwerks von heute sind.

Eva Schmidt

only in german

Achim Bitter
Gegenmaßnahme

Ort: Kreuzgratgewölbe im Kreisgut Aichach, Am Plattenberg 12, Aichach