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Das Kunstpalais Erlangen, das Gemeentemuseum Helmond in den Niederlanden und das Cultuurcentrum Mechelen in Belgien haben sich zu einer internationalen Ausstellungskooperation zum Thema „Affekte“ zusammengeschlossen. Die Idee ist, ein gemeinsames Konzept mit verschiedenen Schwerpunkten in einer Ausstellungsreihe umzusetzen. In Erlangen als erster Station der Themenschau werden Affekte als Motor für gesellschaftliche Veränderungsprozesse in den Fokus genommen, das Gemeentemuseum Helmond wird sein besonderes Augenmerk auf die kunst- und kulturhistorische Bedeutung der Tränen richten, das Cultuurcentrum Mechelen wird mit seinem Schwerpunkt die Dynamiken des Zwischenmenschlichen und die Darstellung von „Joy, Tears and Sorrow“ analysieren. Die Ausstellungen werden dabei einen gemeinsamen Kern haben, der in der Auswahl von sechs Werken zeitgenössischer Künstler besteht, die in allen drei Häusern gezeigt werden. In einem umfassenden Katalog werden die verschiedenen kuratorischen Ansätze vorgestellt und anhand der Exponate der beteiligten Künstler diskutiert.

Kuratorischer Ansatz im Kunstpalais Erlangen

Affekte sind ein großer Impulsgeber unserer Zeit. Sie prägen zunehmend unsere sozialen und gesellschaftspolitischen Ordnungs-, Diskurs- und Wertesysteme, sind wesentlicher Bestandteil von Kultur, Sozialität und Politik und haben eine über das Individuum hinausgehende Macht. Politik im Talkshow-Format, Emotionsjournalismus in Echtzeit, Candy- und Shit-Stürme auf den sozialen Online-Plattformen, demokratische Meinungsäußerung als Klick auf den "Like"-Button: In der affektgetriebenen Mediengesellschaft wird die rationale Analyse zur Seltenheit. Doch das ist nur die eine Seite des aktuellen Diskurses über die Affektgesellschaft. Wütende Bürger setzen sich in den Ländern des Arabischen Frühlings, in Istanbul oder in Brasilien gegen gesellschaftliche und politische Missstände zur Wehr. „Wir erleben einen globalen Aufstand gegen Entmündigung und Staatswillkür“, schreibt Gero von Randow am 20. Juni 2013 in der ZEIT. Und weiter: „Zu den wichtigsten Ergebnissen der Ereignisse in Südeuropa, im arabischen Raum, in der Türkei und im Iran dürfte gehören, dass dort eine Generation entsteht, die Rebellion erlebt.“ Doch auch an den Marktplätzen des Kapitalismus kracht es gehörig, man denke nur an die Occupy-Bewegung oder an Stuttgart 21. Regionale Konflikte erfahren durch Medien und Internet weltweite Beachtung. Schnell finden sich Gegner und Anhänger in weiteren Ländern; die Berichterstattung in den Medien und die Proteste auf der Straße verstärken sich gegenseitig.

Diese wütenden Reaktionen machen deutlich, wie sehr unsere Gesellschaft durch Affekte gesteuert wird, und welch wichtige Triebfeder diese für gesellschaftspolitische Veränderungsprozesse sind. Affekte sind der Motor für aktuelle Transformationen von Politik und Demokratie. Sie stellen bestehende Machtstrukturen infrage und gewinnen an Zulauf, je heftiger affektgesteuerte Bürger auf einen abweisenden Finanz-, Militär- oder Staatsapparat prallen.

Im Gegensatz zu René Descartes‘ „Cogito, ergo sum“ wird Kognition heute überwiegend im Verbund mit Emotion betrachtet, was der US-amerikanische Neurologe António Damásio sehr pointiert mit „Ich fühle, also bin ich“ beschrieben hat. Die Philosophin Michaela Ott stellt außerdem fest, dass seit dem 11. September 2001 eine größere Affektzugewandtheit zu beobachten sei, eine „sich selbst speisende Angstproduktion im politischen und wissenschaftlichen Diskurs“. Sie wertet diesen Wunsch nach affektiver Entlastung als Reaktion auf die Leistungsgesellschaft, die den Affekt zu unterdrücken suchte.

Unsere Ausstellung setzt sich daher unter anderem mit der Frage auseinander, welche Auswirkungen Affekte auf den öffentlichen gesellschaftspolitischen Diskurs haben. Was bedeutet dieses „thinking through affect“ für unsere Gesellschaft?

Künstlerauswahl für das Kunstpalais Erlangen: Halil Altindere (TR), Keren Cytter (IL), Cyprien Gaillard (FR), Meiro Koizumi (JP), Aernout Mik (NL), Suzanne Opton (US), Santiago Sierra (ES), Mathilde ter Heijne (NL), Ryan Trecartin (US), Bill Viola (US), Tomoya Watanabe (JP)

Die Ausstellung beginnt mit der Videoarbeit Observance von Bill Viola, in der sich eine Menschengruppe in Zeitlupe auf etwas für den Betrachter nicht Sichtbares zubewegt, um sich schmerzvoll wieder abzuwenden. Diese Arbeit ist Teil der Werkserie "The Passions", in der sich Bill Viola mit existentiellen Grunderfahrungen wie Geburt, Tod oder Bewusstwerdung auseinandersetzt. Der Betrachter, vor dessen Füßen sich das vermeintlich Schreckliche befinden müsste, wird von dieser Arbeit unmittelbar mit einbezogen. Auf ähnliche Weise agiert Suzanne Opton. Die Fotografien der Werkserie "Soldiers" zeigen die Porträts liegender Soldaten. Die Aufnahmen entstanden in dem Moment, in dem die Porträtierten den Eindruck hatten, noch lange nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, da die Künstlerin den Eindruck erweckte, intensiv mit den Vorbereitungen für die Aufnahme beschäftigt zu sein. Dadurch konnte Suzanne Opton den Moment festhalten, in dem keinerlei Emotionen in den Gesichtern abzul esen waren. Allein die Bildtitel verweisen auf die Länge und den Ort des Kriegseinsatzes. Mit diesen Informationen konfrontiert, beginnt der Betrachter seine eigenen Vorstellungen oder auch Erlebnisse in die Gesichter der Soldaten hineinzulesen. Auch der japanische Künstler Tomoya Watanabe wendet sich an den affizierten Betrachter, indem er ihn einlädt, an einem virtuellen Protest teilzunehmen: Die Ausstellungsbesucher sind aufgefordert, der eigenen Wut freien Lauf zu lassen und virtuelle Pflaster-steine auf Webseiten ihrer Wahl zu werfen. Der Künstler wird die aufgerufenen Webseiten speichern und im Anschluss das Protestverhalten der Akteure weltweit analysieren.

Mit den gesellschaftlichen Regulierungen von Affekten setzen sich Mathilde ter Heijne und Meiro Koizumi auseinander. Mathilde ter Heijne‘s Video "Lament" entstand während eines von der Künstlerin veranstalteten Trauerworkshops in Suomenlinna, Helsinki, Finnland, wo eine profes-sionelle Sängerin Unterricht im Klagegesang erteilte: Die Kombination von Gesang und Weinen als traditionelle Form der Trauerbewältigung wurde weltweit von Frauen betrieben. Es sollte helfen, traumatische Erlebnisse zu überwinden, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden und den Weg in die Zukunft zu ebnen. Ganz anders Meiro Koizumi. Er setzt sich in seiner 4-Kanal-Videoinstallation "Portrait of a Young Samurai" mit der in zahlreichen Spielfilmen heroisierten Tradition der sich aufopfernden Krieger auseinander. Der heroische Abschied von der Familie misslingt hier allerdings und endet im hemmungslosen Weinkrampf des Protagonisten. Angesichts der freiwilligen Arbeiter in Fukushima stellt Koizumi grundsätzlich die Tradition der freiwilligen Selbstopferung in Japan in Frage.

Affekte im zwischenmenschlichen Diskurs sind das Thema der Beiträge von Keren Cytter, Ryan Trecartin und Aernout Mik. Aernout Mik wurde bekannt durch seine tonlosen Videoinstallationen, die die Körper- und Gebärdensprache des emotionalen, zumeist politischen Diskurses analysiert. Von ihm wird die große Videoinstallation "Communitas" zu sehen sein. Keren Cytter untersucht zwischenmenschliche Dramen und verschränkt innere und äußere Monologe der Protagonisten. Durch synchron geschaltete Erzählungen eröffnet sie in "Cross.Flowers.Rolex" unterschiedliche Perspektiven auf ein Beziehungsdrama. Ryan Trecartin’s "K-Corea INC.K (section a)" hingegen dreht sich im unendlichen Loop um die Affekte in den sozialen Medien. Digital Natives inszenieren sich im Kampf um Aufmerksamkeit, reklamieren Bedeutung, ohne bedeutungsvoll oder bedeutend zu sein. Zusammengesetzt aus Slang-Fragmenten, Jugendsprache und Chatroom-Albernheiten, berührt "K-Corea INC. K (section a)" zahlreiche Aspekte des zeit genössischen Lebens: Trash-Kultur, sexuelle Identität und das ständige Kreisen um die eigene Achse.

Wut auf die politischen und gesellschaftlichen Zustände artikuliert sich in den Arbeiten von Santiago Sierra, Halil Altindere und Cyprien Gaillard. In "The Trap" konfrontiert Santiago Sierra hohe Politiker und Funktionäre der Gesellschaft mit erbosten Vertretern der Arbeiterschicht und dokumentiert das unvermittelte Fluchtverhalten der Mächtigen. Halil Altindere zeigt in "Wonderland" die Wut dreier jugendlicher Rapper über die Zerstörung ihres Istanbuler Heimatviertels Sulukule. Traditionell überwiegend von Roma bewohnt, stammen zwei der Bandmitglieder aus Sulukule. In den letzten Jahren fiel das Viertel allerdings einem Wohnungsbauprojekt zum Opfer. Als ein Gericht die Unrechtmäßigkeit der Vertreibung der Einwohner und den Abriss der Häuser erklärte, war es für viele Familien bereits zu spät. Die Ausstellung endet mit der Videoarbeit "Desniansky Raion" von Cyprien Gaillard. Heruntergekommene Wohnblocks in Belgrad, Paris und Kiew, einst in sozialutopischer Absicht errichtet, bilden den Hintergrund zu Massenprügeleien Jugendlicher, die hier dem Frust über die Perspektivlosigkeit ihres Lebens freien Lauf lassen.

Die Ausstellung lotet auf diese Weise die unterschiedlichen Ebenen des „thinking through affect“ aus. Die Spannbreite reicht von existentiellen Erlebnissen bis hin zur politischen Inszenierung, von der zwischenmenschlichen Beziehung bis zum gesellschaftlichen Ritual. Dabei geht es stets auch um das „affected seeing“, also um die Affekte, die im Betrachter erzeugt werden.

Gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes Mit freundlicher Unterstützung von WTS tax legal consulting

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Affekte

Künstler:
Halil Altindere, Keren Cytter, Cyprien Gaillard, Meiro Koizumi, Aernout Mik, Suzanne Opton, Santiago Sierra, Mathilde ter Heijne, Ryan Trecartin, Bill Viola, Tomoya Watanabe.

Kuratoren:
Claudia Emmert