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Europa gehört Picasso, Matisse, Braque und vielen anderen. Indien gehört mir ganz allein." (Amrita Sher-Gil)

Die Ausstellung erzählt die Geschichte einer indischen Künstlerfamilie über drei Generationen, indem sie die Gemälde von Amrita Sher-Gil mit den Fotografien ihres Vaters Umrao Singh Sher-Gil und den digital bearbeiteten Fotografien ihres Neffen Vivan Sundaram vereint. Die drei Positionen zeigen, wie sich das Verständnis von Identität durch Selbstbestimmung seit der späten Kolonialzeit verändert hat. Sie sind auch sprechende Beispiele für die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung von Modernität und Modernismus in Europa und Indien und damit für das Konzept multipler Modernen.

Amrita Sher-Gil

Amrita Sher-Gil wurde 1913 in Budapest geboren und wuchs in einer kunstinteressierten Familie von Kosmopoliten auf. Ihr Vater Umrao Singh Sher-Gil stammte aus einer Aristokraten-Familie im nordindischen Punjab, ihre Mutter Marie Antoinette Gottesmann war Ungarin mit großbürgerlichem Hintergrund. Wegen des Ersten Weltkriegs lebte die Familie bis 1921 in Budapest, die folgenden acht Jahre dann auf den Besitzungen ihres väterlichen Zweiges in Nordindien.

Als die Familie das außergewöhnliche Talent von Amrita erkannte, ermöglichte sie ihr einen Aufenthalt in Paris. Dort begann die Künstlerin 1929, erst sechzehnjährig, ein Studium an der École des Beaux Arts und nahm bald auch am Leben der Boheme teil. Von Anfang an waren Akte, Porträts und Stillleben ihre bevorzugten Gattungen. Dabei öffnete sie sich für den Einfluss des Realismus und vor allem von Paul Gauguin; der Surrealismus und die geometrische Abstraktion dagegen hinterließen in ihrem Werk keine sichtbaren Spuren.

1934 kehrte Amrita Sher-Gil nach Indien zurück. Charakteristisch für die ersten Porträts, die nach ihrer Rückkehr entstanden, ist eine Melancholie, die an das starke, unbestimmte Sehnen der Romantik erinnert. Der Kunsthistoriker Deepak Ananth hat diese Porträts in Verbindung mit Amritas damaliger Situation gebracht: Die Künstlerin, von deren Charisma sich Männer ebenso wie Frauen angezogen fühlten, war an der Syphilis erkrankt.

Amrita hatte noch in Paris "auf seltsam unerklärliche Weise" gespürt, dass dort in Indien "ihre Bestimmung als Malerin" lag. Wegen des Reichtums ihrer Farbpalette hatte ihr Professor oft gesagt, sie sei "in den grauen Ateliers des Westens nicht in ihrem Element". Und tatsächlich wurde ihre Rückkehr nach Indien zu einer Entdeckungsreise, die inhaltlich und formal eine vollständige Neuorientierung bewirkte: "Es war der Winter in Indien - einsam und gleichzeitig seltsam schön - mit endlos langen Feldwegen durch strahlend gelb-graues Land, dunkelhäutigen, unglaublich dünnen Männern und Frauen mit traurigen Gesichtern, die sich lautlos bewegen, fast wie Silhouetten, all das von einer unerklärlichen Melancholie beherrscht. Anders als das sinnliche, farbige, sonnige und oberflächliche Indien, das auf den Reisepostern so falsch dargestellt wird und das ich erwartet hatte." (Amrita Sher-Gil)

In Three Girls (1935) sind bereits die für Amrita Sher-Gil charakteristische Faszination durch die Farbe Rot, die greifbare Nähe ihrer Figuren zum Betrachter und die dunklen Töne ihrer Hintergründe präsent; mit Hill Men und Hill Women (ebenfalls 1935) findet sie zu ihrem Thema, der Darstellung des ländlichen Lebens und der Armut. Ihre Farbgebung ist vibrierend, glühend und intensiv. Die Darstellungen jedoch wirken auf den ersten Blick unpersönlich, denn die Künstlerin nähert sich ihrem Thema nicht mit den Mitteln des Erzählerischen, die eine bestimmte Handlung hervorheben würden; vielmehr lässt sie eine Art Tableau vivant entstehen: Ihre manchmal leicht überlangen Figuren posieren schweigend, bewegungslos, ikonenhaft. Auf sublimere Weise als über das Anekdotische vermitteln die Figuren so die Ahnung des bedeutungsvollen Augenblicks, der für das Tableau vivant charakteristisch ist.

Die Plastizität und Statik ihrer Figuren, ihre Grazie und die flüchtigen Berührungen, mit denen sie einander streifen, lassen erkennen, wie stark Amrita Sher-Gil von den frühen indischen Skulpturen beeindruckt war. 1936 unternahm sie eine ausgedehnte Reise durch das Land, die sie unter anderem zu der buddhistischen Felsenmalerei von Ajanta (6./7. Jh.) führte. Auch die südindischen Fresken von Mattancheri (17. Jh.) sowie die mittelalterliche Miniaturmalerei der Moghulen und Rajputen Nordindiens empfand Amrita Sher-Gil als künstlerische Offenbarung; ihr Briefwechsel mit dem Kunsthistoriker Karl Khandalavala gibt darüber Auskunft.

Nach dieser Reise sind ihre Figuren stärker mit der sie umgebenden alltäglichen Wirklichkeit verhaftet. Der Blick der Malerin ist nun weniger vom Streben nach majestätischer Pose und romantischer Überhöhung geprägt; er ist entspannter und distanzierter, manchmal sogar ansatzweise ironisch. Während ihrer Reise durch Indien hatte Amrita Sher-Gil auch die weltabgeschiedene Lebensweise der Frauen auf feudalen Landgütern kennen gelernt, ihre Arten von Zeitvertreib und ihre - auch erotischen - Sehnsüchte. Diesem Thema mit seinen intimeren Stimmungen wendet sie sich in The Swing, Woman at Bath und Woman Resting on Charpoy (alle 1940) zu.

Ihre erste Ausstellung hatte Amrita Sher-Gil 1936 in Bombay; seitdem wurde ihre Kunst auch auf dem indischen Subkontinent zunehmend anerkannt und bewundert. Doch durch ihren frühen Tod in Lahore fand die viel versprechende Entwicklung ein jähes Ende. Noch nicht einmal 29 Jahre alt, starb Amrita an einer kurzen, heftigen Krankheit, deren eigentliche Ursache nicht an die Öffentlichkeit gedrungen ist.

In ihrem kurzen Leben versuchte Amrita Sher-Gil, "alles auf einmal zu überwinden: die Entfremdungen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit, ihrer indo-europäischen Herkunft und ihres Geschlechts", so Indiens führende Kunsthistorikerin Geeta Kapur. Diese Entfremdungen ermöglichten aber gleichzeitig die Begegnung mit Indien als ein Erfahren und Anerkennen des Anderen; das unterscheidet Amrita Sher-Gil von Gauguin und von den Orientalisten, für die der Orient hauptsächlich ein Archiv von Stereotypen und Projektionsfläche für unterdrückte Sehnsüchte gewesen war. Der Modernismus von Amrita Sher-Gil gründet auf ihrem vollkommen eigenständigen Verständnis Indiens und ihrer Fähigkeit, westlich moderne und historisch indische Inspirationsquellen zusammenzuführen.

Der Entschluss der Familie Sher-Gil, einen Großteil des Nachlasses von Amrita dem indischen Staat zu überlassen, bildete 1954 die Basis für die Gründung der National Gallery of Modern Art in Neu Delhi. In Europa ist das Werk von Amrita Sher-Gil noch beinahe unbekannt (bisherige Ausstellungen: 1982 in London, Tate Britain, "Six indian painters"; 1985 in Paris, Centre National des Art Plastiques, "Indian Artists in France"; 2001 in Budapest, Ernst Museum, "Amrita Sher-Gil the Indian painter and her French and Hungarian connections"). Die Fotografien von Vivan Sundaram hat die Sepia Gallery in New York kürzlich ausgestellt.

Umrao Singh Sher-Gil

Umrao Singh (1870-1954) war ein anti-britischer Nationalist, der sich für Philosophie und Literatur interessierte; darüber hinaus war er ein talentierter Fotograf, den Stuart Hall und Mark Sealy in ihrer Veröffentlichung "Different" (Phaidon 2001) erstmals gewürdigt haben. In seinen zahlreichen Selbstporträts stellt sich Umrao Singh als versonnener Sanskritgelehrter oder als Yoga-Praktizierender dar. Sein Selbstbewusstsein nährt sich also aus kulturellen Traditionen, die von der kolonialen Politik zerstört oder erniedrigt wurden. Er ist kein angepasster Untertan, sondern jemand, der mit seiner Bildung und seinen Werten Widerstand leistet.

In Hunderten von Fotografien hat Umrao Singh auch die strahlende Erscheinung von Amrita Sher-Gil festgehalten. Amrita nutzte dieses Posieren vor der Kamera als Möglichkeit, ihr von Verwandlung und Maskerade geprägtes Selbstbild auszudrücken: Mal ist sie indisch, mal ungarisch, mal im mondänen Stil vom Paris der 30er-Jahre frisiert und gekleidet. Dass sie ständig in Rollen schlüpft, ist nicht nur ein Zeichen von Verspieltheit oder ihrem Talent zur Aneignung unterschiedlicher kultureller Inhalte; spätestens in den Montagen, die Vivan Sundaram von diesen Fotos gemacht hat, wird deutlich, dass ihre andauernd im Wandel begriffene Identität auch das Moment der Spaltung und Krise birgt.

Vivan Sundaram, Re-take of Amrita

Vivan Sundaram (geb. 1943) ist Enkel von Umrao Singh und Neffe von Amrita Sher-Gil. 1984 schuf er sein großformatiges Gemälde "The Sher-Gil Family", 1995 realisierte er die Installation "The Sher-Gil Archive", 2001/2002 den Zyklus digital bearbeiteter Fotografien "Re-take of Amrita". Re-take bedeutet soviel wie eine Szene noch einmal drehen. Vivan Sundaram wählt bestimmte Momente aus und lenkt durch entsprechende Arrangements die Aufmerksamkeit auf die im vorgefundenen Bildmaterial der Familie nur verborgen angelegte Aussagekraft. Unter seiner Regie führen die Protagonisten die Szene ein zweites Mal auf und gehen einen Schritt weiter als ursprünglich beabsichtigt. Die Wirkung, die von der Konfrontation von weiblichem und männlichem Narzissmus, von dem starken visuellen Interesse des Vaters an der Tochter, aber auch von der Dopplung einer Figur ausgeht, steigert sich nun ins Beunruhigende. Amrita selbst hat einmal, ohne den Gedanken auszuführen, von der "Treibhausatmosphäre" gesprochen, die in ihrer Familie herrsche. In "Re-take of Amrita" wird deutlich, was sie damit gemeint haben könnte.

Vivan Sundaram lädt außerdem die geistige Atmosphäre, die vom Unterwegssein zwischen verschiedenen Kulturen geprägt ist, mit einem gewissen Pathos auf. Dabei bleibt die Künstlichkeit seiner Arrangements aber für den Betrachter ständig gegenwärtig. Auf diese Weise fließt sein Standpunkt eines zeitgenössischen Künstlers ein, der mit größerer Distanz auf dieses Pathos blickt, weil sich für ihn Heimat und Fremde, Wohnen und Reisen als Oppositionspaar relativiert hat.

Der Katalog zur Ausstellung erscheint bei Schirmer/Mosel. Bei Penguin India wurde 2006 eine Biografie von Amrita Sher-Gil veröffentlicht, und Vivan Sundaram wird bei Tulika Press, Neu Delhi "The Letters and Writings by Amrita" herausgeben.

In Kooperation mit National Gallery of Modern Art, Neu Delhi, Ministry of Culture, Government of India, Neu Delhi, und dem Goethe-Institut, Neu Delhi.

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Amrita Sher-Gil
Eine indische Künstlerfamilie im 20. Jahrhundert
Kooperation: National Gallery of Modern Art, New Delhi; Ministry of Culture, Government of India, New Delhi; Goethe-Institut New Delhi; Haus der Kunst, München