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Amy Lien & Enzo Camacho
陰府 (Shady Mansion)
Kunstverein Freiburg
14.09.2018 – 28.10.2018

Pressegespräch
Freitag, 14.09.2018 um 10 Uhr

Eröffnung
Freitag, 14.09.2018 um 19 Uhr

"Schattiges Herrenhaus" ist eine chinesische Bezeichnung für die Hölle. Für ihre Ausstellung im Kunstverein mit diesem Titel konstruieren Amy Lien & Enzo Camacho einen unterirdischen Park für eine unbewohnbare Zukunft.

Die Struktur ihrer Ausstellung basiert auf der Lowline, einem Projekt, das in New York verwirklicht werden soll. Über den spektakulären Einsatz von Solartechnologie soll darin Sonnenlicht unter die Erde geleitet werden, um dort Pflanzen das Wachstum zu ermöglichen. Angelehnt an die High Line – einem öffentlichen Park auf einer stillgelegten Zugtrasse im Westen von Manhattan – wurde mit der Lowline vorgeschlagen, einen unterirdischen Park in einem stillgelegten, schon lange aufgegebenen U-Bahnhof in der Lower East Side anzulegen. Wie die High Line wäre dieser Park eine Attraktion für Touristen und Konsumenten, der zur beschleunigten Gentrifizierung des Viertels beitragen würde, das historisch von Minderheiten und einkommensschwächeren Bewohnern geprägt ist.

Tatsächlich ist in der unmittelbaren Nachbarschaft der geplanten Lowline aktuell ein eineinhalb Milliarden Dollar Immobilien-Projekt im Bau, das einen Mix aus neuen Wohn-, Geschäfts-, Büro- und Entertainment-Flächen beherbergen soll. Auf dem Grundstück lebten einst 1.800 BewohnerInnen, überwiegend puerto-ricanische Familien, in günstigen Mietshäusern. 1967 wurden sie mit dem Versprechen vertrieben, dass sie dort bald in bezahlbare Wohnungen zurückkehren könnten. Fünfzig Jahre später wurde das Grundstück Immobilien-Unternehmen angeboten, die planen, die Hälfte der Wohnungen als „bezahlbaren Wohnraum“ anzubieten. In dem stadtweiten Auslosungsverfahren ist es jedoch geradezu unmöglich einen Zuschlag zu bekommen und tatsächlich wären die Wohnungen für durchschnittliche BewohnerInnen des Viertels unbezahlbar. Vielmehr scheint das übergreifende und wichtigere Ziel des Immobilien-Projekts darin zu liegen, das Viertel als neue, imaginäre Grenze für spekulative Investments zu begreifen, die es im Sinne einer Frontier-Ideologie auszuweiten gilt. Eine Dynamik, die in den Worten der Ethnografin Anna Tsing bis zur „Südseeblase und jedem Goldrausch in der Geschichte“ zurückreicht – mit allen kolonialen Dimensionen, die damit verbunden sind. Gleichermaßen symptomatisch für diesen Wandel sind die geplanten Hochhäuser am nahegelegenen Uferbezirk Two Bridges zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhatten Bridge. In virtuellen Renderings der künftigen Ufer-Skyline, wie sie von Immobilien-Entwicklern erträumt wird, ragen die Türme wie gläserne Speere aus den älteren Sozialwohnungen und Mietshäusern der Umgebung heraus.

Ausgehend von diesen spekulativen Visionen verwandeln Lien & Camacho die Ausstellungshalle des Kunstvereins in ihre eigene do it yourself Interpretation der Lowline. Über eine rudimentäre Konstruktion, welche die Parabolspiegel und Lichtkanäle des high-tech Designs der Lowline imitiert, wird Licht in die abgedunkelte Ausstellungshalle geleitet. Das Licht fällt auf Baum-Skulpturen, die für fünf Hochhaus-Projekte stehen, die bald das Ufer von Two Bridges einnehmen könnten. Die Skulpturen orientieren sich an chinesischen Geldbäumen. Diese rituellen Objekte, die bis in die Han-Dynastie zurückreichen, sollen Verstorbenen finanzielle Mittel für Ihre Reise ins Jenseits bereitstellen. In einer weiteren Schichtung von Bezügen platzieren Lien & Camacho ihre Bäume in Keramiksockeln, die mit Marderhunden geschmückt sind. Diese Comicfiguren entstammen dem populären, japanischen Anime Film Pom Poko, der davon handelt, wie sich eine Gruppe von verwandlungsfähigen Marderhunden gegen die Zerstörung ihres Lebensraums durch die Urbanisierung wehrt. In einem weiteren Spiel mit dem Gebauten und dem Natürlichen verwenden Lien & Camcho für die Äste der Baum-Skulpturen Materialien, die sie im Schwarzwald rund um Freiburg gesammelt haben. Zusammen mit anderen Bedeutungsträgern verflechten sie sich zu spekulativen Szenarien mit Investoren, Stakeholdern und Überlebenden der Lower East Side, die in einer nahen, höllischen Zukunft spielen.

Die Ausstellung entwirft eine Situation, in der sich die fortschreitende Ökonomisierung von Lebensräumen bis ins Jenseits ausdehnt. Mit ihrer Übertragung des Untergrundparks von New York nach Freiburg fragen Lien & Camacho, wie diese Ideen in den Wünschen und Bedürfnissen der „Green City“ ihren Widerhall finden könnten. Weltweit ist Freiburg nicht nur als Zentrum für die Erforschung grüner Technologien bekannt, sondern auch für die laborartige Implementierung nachhaltiger Stadtentwicklungskonzepte in Stadtteilen wie Vauban oder Rieselfeld. Zugleich ist der zunehmende Mangel an bezahlbarem Wohnraum das drängendste soziale Problem in Freiburg. Während ihrer Arbeit an der Ausstellung lebten Lien & Camacho sechs Wochen in Freiburg. Sie trafen verschiedene Akteure der „Green City“, besuchten wichtige Orte wie das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme und das Büro Rolf Disch SolarArchitektur. Einblicke aus diesen Treffen und Besuchen sind in die Konzeption der Ausstellung eingeflossen.

In einer weiteren Verknüpfung der Anliegen von Lien & Camacho mit dem lokalen Kontext findet am 28.09.2018 um 18 Uhr im Kunstverein das Symposium Recht auf Stadt statt, das von Bertold Albrecht organisiert wird. Vor dem Hintergrund der Theorien von Henri Lefebvre soll diskutiert werden wie kooperative Formen des städtischen Zusammenlebens, des Wohnens und der öffentlichen Teilhabe aussehen können. Der Fokus liegt dabei auf der Wohnungspolitik und dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Freiburg. Konkreter Anlass ist die drohende „Aufwertung“ des Quartiers um den alten und neuen Wiehrebahnhof, gegen die sich die Initiative Wiehre-für-alle gebildet hat. Als ReferentInnen sprechen Bertold Albrecht (Initiative Wiehre-für-alle, Mobile Akademie), Heinrich Dietz (Kunstverein Freiburg), Stefan Rost (Mietshäusersyndikat), Frauke Stablo (Initiative Wiehre-für-alle) und Klaus Theweleit (Autor). Die Moderation übernimmt Jürgen Reuß (Autor).

Die Transkontextualisierung und Schichtung von Bezugssystemen und Diskursen sind wichtige Operationen in der Praxis von Lien & Camacho. In ihrer Ausstellung im Kunstverein gebrauchen sie diese Operationen, um Nachhaltigkeit und Entwicklung als konkurrierende Ansprüche auf eine imaginierte Zukunft entgegen zu stellen. Dabei untersuchen sie, wie diese Vorstellungen durch unterschiedliche Formen der Spekulation und Imagination angetrieben werden, deren Auswirkungen häufig in eine Frage von Leben oder Tod münden.

Die Ausstellung im Kunstverein Freiburg ist die erste institutionelle Einzelausstellung von Lien & Camacho in Deutschland. Teil des Rahmenprogramms ist auch ein Gespräch mit Amy Lien & Enzo Camacho sowie dem Autor und Kurator Harry Burke am 15.09.2018 um 14 Uhr im Kunstverein Freiburg.

Amy Lien ( 1987, USA) und Enzo Camacho ( 1985, Philippinen) studierten an der Harvard University in Cambridge, MA und der Hochschule für bildende Künste Hamburg. Seit 2009 arbeiten sie überwiegend zwischen New York, Berlin und Südostasien zusammen.

Einzelausstellungen (E) und Gruppenausstellungen (G) (Auswahl): 2018: Her split body is a crack in our community, Hessel Museum of Art (Bard College), Annandale-on-Hudson, USA (E); Mother Holding Taobao Child, 47 Canal, New York (E); 2017: Produktion. Made in Germany Drei, Kestner Gesellschaft, Hannover (G); Site Visit, Kunstverein Freiburg, Freiburg (G); The New Normal, Ullens Center for Contemporary Art, Peking (G); People, Money, Ghosts (Movement as Metaphor), Jim Thompson Art Center, Bangkok (G); 2016: Manananggal has appeared in Berlin, verschiedene Orte, Berlin (E); Urban Aspiration, The Physics Room, Christchurch, Neuseeland (G); 2015: “ RR ZZ ”, Gluck50, Mailand (G); Whose Subject am I?, Kunstverein Düsseldorf, Düsseldorf (G); 2014: LEAK LIGHT TIME HEAT, 47 Canal, New York (E); Who do you love?, Mathew Gallery, Berlin (E); Lynda, Robert, Amy, Enzo und die Anderen, Künstlerhaus Bremen, Bremen (G); 2012: Queer Manila, Manila Contemporary, Makati, Philippinen (G); 2011: Café by the Ruins, 47 Canal, New York (E) 2009: Teleology, Happy Ending (Kollaboration mit Michael Sanchez), Green Papaya Art Projects, Quezon City, Philippinen (E).

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Eröffnung

Fr, 14.09., 19 Uhr
Einführung: Heinrich Dietz, Direktor

Rahmenprogramm

Sa, 15.09., 14 Uhr
Gespräch mit Harry Burke, Amy Lien & Enzo Camacho

Do, 20.09., 19 Uhr
Kuratorenführung mit Heinrich Dietz

Fr, 28.09., 18 Uhr
Recht auf Stadt
Symposium mit Bertold Albrecht, Heinrich Dietz, Jürgen Reuß, Stefan Rost, Frauke Stablo, Klaus Theweleit

So, 30.09, 14 – 16 Uhr
Kinderworkshop (um Anmeldung wird gebeten)

Do, 18.10.2018, 19 Uhr
Öffentliche Führung