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Andrea Büttner «Gesamtzusammenhang»
Nomination für den Turner Prize 2017

Wir freuen uns sehr, die Nomination unserer aktuellen Ausstellung «Gesamtzusammenhang» von Andrea Büttner für den Turner Prize 2017 bekannt zu geben!

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Eröffnung: Fr, 3. März, 18 Uhr

Andrea Büttner mit David Raymond Conroy und Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum Berlin

Die künstlerische Praxis Andrea Büttners (*1972/D, lebt in London und Frankfurt am Main) ist vielfältig und schafft ein Spannungsfeld zwischen Ethik und Ästhetik, Subjektivität und Kultur. Mit unterschiedlichen Medien wie Holzschnitten, Skulpturen, Textilarbeiten oder Videoinstallationen verhandelt Büttner Themen wie Wertzuschreibung, Armut oder Scham. Für ihre erste institutionelle Präsentation in der Schweiz fokussiert sich Büttner auf Holzschnitte aus unterschiedlichen Serien und setzt diese in einen neuen Kontext: Ihre Werke treten einerseits in Beziehung zu einer Ausstellung über Simone Weil, konzipiert von der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg. Andererseits ergänzt David Raymond Conroys Film (You (People) Are All The Same) (2016) das inhaltliche Spektrum. «Gesamtzusammenhang» vereint künstlerische und nicht-künstlerische Fragen, die sich um Humanität in Verbindung mit Arbeit, Gemeinschaft oder Glauben drehen.

Andrea Büttner interessiert sich für Kippmomente. Davon zeugen die in allen Räumen zu sehenden Holzschnitte mit religiösen und symbolisch aufgeladenen Motiven. Sujets wie tanzende Nonnen, Zelte, Bettler oder Sätze wie 'Yes, I believe every word you say' fordern zeitgenössische Erwartungen heraus, ebenso das Medium Holzschnitt. Die jahrhundertealte Technik kommuniziert direkt und einfach, behält aber eine künstlerische und entschleunigende Aura des Gemachtseins bei. Eine Eigenheit, die auch der Ausstellungswand der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum zuteil kommt, obschon aus einer nicht-künstlerischen Perspektive. Von Hand geschriebene Zitate aus dem Werk der französischen Philosophin Simone Weil (1909-1943) hängen an einer ausgeklügelten, teilweise noch zu DDR-Zeiten entwickelten Konstruktion, bebildert mit Illustrationen verschiedener Fotografen.

Durch diese integrierte Ausstellung der Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum entstehen Fragen zur Effizienz von Botschaften und ihren Displays. Büttner überprüft damit auch ihre eigene Kunst in der direkten Konfrontation mit ästhetischen Praktiken, die ihrer eigenen zugleich nah und fremd sind. Die Holzschnitte und die Präsentation über Simone Weil treten in eine wechselseitige Befragung von Trennlinien zwischen Handwerk und Kunst, spiritueller Erfahrung und Kontemplation.

Die Gegenüberstellung der beiden Displays ist angesichts Büttners Praxis evident. Ihre installativen Arbeiten sind im Kontext der frühen 1990er-Jahre entstanden. Postmoderne Kunstdiskurse wie der Postkonzeptualismus oder die Institutionskritik versuchten die Schnittstelle zwischen Politik und Kunst neu zu verhandeln, ein offeneres mediales Vokabular zu betreiben, brachten aber eine sehr normative und zumeist männliche Ästhetik hervor. Büttner möchte mit dieser Rezeption brechen und Mittel einsetzen, die sich einer gewissen Sexyness entziehen.

Eine eigene Ausdrucksform suchte auch die Friedenbibliothek/Antikriegsmuseum. In der DDR unter der Obhut der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg gegründet, war die Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum mit ihren mobilen Ausstellungen durch regimekritische Akzente und aufgrund der sozialen Vernetzung Teil einer Widerstandsbewegung. Mit der Wende kam, so erzählt Jochen Schmidt des zuständigen Teams, ein Gefühl der Entwurzelung. Über Nacht starb ein System, von dem so viele dachten, es sei unumstösslich. In dieser Zeit entdeckten Schmidt und seine KollegInnen Simone Weil. Eine jüdische Philosophin, deren Gedankengut sowohl sozialistisch als auch mystisch-christlich gefärbt ist. Die hier gezeigte Ausstellung beschäftigt sich vor allem mit dem posthum erschienenen Werk Die Einwurzelung, in welchem sie dem 'wichtigsten und am meisten verkannten Bedürfnis der menschlichen Seele' (I) nachgeht, bzw. der Ent- und Verwurzelung (II und III) im positiven und negativen Sinn durch Geburt, Krieg, Profession, Bildung oder durch das Geldsystem.

Büttner befasst sich schon lange mit Simone Weil, zumal sich Weil ebenfalls philosophischen, politischen und religiösen Fragen widmete. Mithilfe dieser ausgeliehenen Ausstellung kann Büttner Weil in ihr Werk einführen, ohne an einer derzeit zu beobachtenden Vereinnahmung der Philosophin partizipieren zu müssen. Büttner interessiert sich für das Denken und die brüchige Biografie von Weil, die historisch vielschichtig gesättigt ist. Eine ähnliche Faszination zeigt die Künstlerin für monastischen Aktivismus im Frankreich der 1930er- und 40er-Jahre oder für Lebensentwürfe von Nonnen zwischen Religion und Politik.

Beispielsweise produzierte Büttner für die dOCUMENTA (13) einen Film über Schwestern einer Ordensgemeinschaft, die einen Stand in einem römischen Vergnügungspark betreiben und im Spektakel eine Theorie der Kleinheit, Demut, Zurückhaltung und Einfachheit entwarfen. Aus dieser Arbeit entstand die 'Tent(Zelt)-Serie', von der verschiedene Exponate zu sehen sind. Mit Nonnen beschäftigt sich auch die dynamische Komposition sieben tanzender Figuren als Sinnbild eines positiven Raums. I want to let the work fall down (2005) und Yes, I believe every word you say (2007) erinnern wiederum an Pop-Art-Werke der aktivistischen Nonne Corita Kent. Bush (2010) entstammt dem Zyklus über den heiligen Franz von Assisi, Corner (2011-12) zeugt eher von einer materialistischen Auseinandersetzung mit dem Holzschnitt. Duck and Daisy (2015) basiert auf einer Beobachtung der Künstlerin in der Fussgängerzone Frankfurts. Sie wurde Zeugin eines intimen Moments zwischen einem verkleidet bettelnden Liebespaar.

Büttner stellt in «Gesamtzusammenhang» zudem die Frage nach der moralischen Dimension von Appropriation. Dieses Thema der Aneignung und des Exponierens wird neben dem Miteinbezug der Ausstellung über Simone Weil auch in David Raymond Conroys Film aufgegriffen. Der Künstler problematisiert in (You (People) Are All The Same) den 'Künstler als Beobachter des Anderen' und untersucht inwiefern gute Kunst und gute Gesten korrelieren. Sein Werk reflektiert den Entstehungsprozess eines Filmes über Obdachlose in Las Vegas, in dem sich Conroy mit den Möglichkeiten ehrlicher Produktion von Kunst konfrontiert. Zentral ist auch die gewählte Erzähltechnik. Eine weibliche Stimme beschreibt und kommentiert den Prozess des Künstlers auf eine Art und Weise, die Nähe schafft und suggestiv an Conroys Dilemma teilnehmen lässt. Immer wieder ist eine eingängige Melodie zu hören, welche die Bilder von meist menschenleeren Panoramen begleitet.

Conroy ist, ähnlich wie Büttner, fasziniert von ehrlichen, authentischen und unmittelbaren Situationen und Wertungsprozessen. Er schlägt vor, dass Wertzuschreibung zwischen dem Gefühl der Unsicherheit und dem Drang nach Entscheidungen stattfindet und fragt, ob es eine Lücke gibt zwischen dem, was wir sind, und dem was wir sein wollen, oder ob sich das Humane gerade in dieser Lücke konstituiert.

Im selben Raum fügt Büttner der Ausstellung Bänke hinzu, die zugleich Skulptur und Sitzmöbel sind. Die Rückenlehnen können als eine Art Malerei im Hintergrund verstanden werden, die sperrigen Holzbänke, auf die sich die BesucherInnen setzen dürfen, dienen auch als Ausgangslage zur Kunstbetrachtung. Sowohl bei den Bänken als auch bei den leuchtorangen architektonischen Interventionen behandelt Büttner die soziale Konnotation von Textilien: metaphorisch als 'social fabric' und in Bezug auf die Herstellung und Verwendung von Stoffen. So liess Büttner die Rücklehnen von Nonnen und Menschen mit einer Behinderung produzieren und nutzte für die Bespannung der Panels Textilien, die üblicherweise für Arbeitskleidung gebraucht werden. Diese Panels setzt die Künstlerin als Monochrom, als Wandbespannung und als Abdunkelung ein.

Im dritten Raum fungiert das leuchtorange Panel als Display für ein Werk aus der 'Beggar(Bettler)-Serie'. Die farbigen Beggars (2017) zeigen verschleierte Figuren in Bittstellung. Mit dieser Bildformel, die auf Ernst Barlach zurückgeht, artikuliert Büttner die Wechselwirkung von Armut und Scham, Zeigen und Empfangen, Scham und Zurschaustellung. Scham bestimmt, was wir zeigen oder verstecken und wie wir über Kunst und Nicht-Kunst urteilen. Die Künstlerin arbeitete auch zu monastischen Armutsbewegungen oder der Arte-Povera-Bewegung im 20. Jahrhundert. Die ebenfalls neuproduzierten Potatoes (2017) und Coins (2017) oder Breadpebble (2017) aus dem Franziskuszyklus können in diesem Zusammenhang gelesen werden.

«Gesamtzusammenhang» gibt eine bestimmte Temperatur von Subjektivität, Gemeinschaft und Wertfragen wieder. Dabei verschiebt Büttner das Augenmerk von punktuellen Themen zu übergeordneten Fragen: Humanität wird in ihrer philosophischen, religiösen, künstlerischen und politischen Dimension angegangen. Die Auseinandersetzung mit Wärme, Mitgefühl, der Würde des Menschen und dem gerechten Zusammenleben zieht sich durch die Ausstellung. Wichtig ist auch die Reflexion über die Zeitgenossenschaft, sei es emphatisch oder als Kritik am 'Contemporary' als enge, normative ästhetische Praxis.

Andrea Büttner (*1972 in Stuttgart/D) studierte Kunst an der Universität der Künste Berlin, Kunstgeschichte und Philosophie an der Humboldt Universität Berlin und promovierte 2010 am Royal College of Art in London (PhD). Sie lebt und arbeitet in London und Frankfurt am Main. Einzelausstellungen (Auswahl): Staatsgalerie Stuttgart, Stuttgart (2016); David Kordansky Gallery, Los Angeles (2016); Kunsthalle Wien, Wien (2016); Walker Art Center, Minneapolis (2015); Museum Ludwig, Köln (2014); Tate Britain, London (2014); Museum für Moderne Kunst, Frankfurt am Main (2013); Whitechapel Gallery, London (2011); Hollybush Gardens, London (2008). Gruppenausstellungen (Auswahl): Mary Boone Gallery, New York (2016); British Art Show 8, Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh (2016); dOCUMENTA (13), Kassel (2012); 29. São Paulo Biennale, São Paulo (2010).

David Raymond Conroy (*1978 in Reading/UK) studierte Kunst an der Sheffield Hallam University und am Royal College of Art in London. Er lebt und arbeitet in London. Einzelausstellungen (Auswahl): EKKM, Tallinn (2015); Seventeen, London (2015); Camden Arts Centre, London (2015); Modern Art Oxford, Oxford (2013); GP & N Vallois, Paris (2012). Gruppenausstellungen (Auswahl): Zabludowicz Collection, London (2016); TAIGA, St. Petersburg (2014); Kunsthalle Tallinn, Tallinn (2013); Royal College of Art, London (2013).

Die Friedensbibliothek/Antikriegsmuseum der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg entstand als BürgerInnen-Opposition in den 1970er/1980er-Jahren. Ausstellungen zu diversen pazifistischen Themen können ausgeliehen werden.