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Andreas Fogarasi. Nine Buildings. Stripped
13.11.2019
02.02.2020
Eröffnung: Dienstag, 12. November 2019, 19 Uhr

Andreas Fogarasis künstlerische Arbeit richtet den Blick auf die Berührungspunkte zwischen visueller Kultur – bildender Kunst, Design, Architektur – und sozialer Realität. Wie „sieht“ Gesellschaft, Politik oder Geschichte „aus“? Die Stadt mit ihren vielfältigen Oberflächen und ihrer Dichte an Phänomenen stellt dabei einen zentralen Beobachtungsgegenstand dar. In seinen zweidimensionalen Arbeiten, Skulpturen, Installationen und Videos untersucht Fogarasi den gebauten urbanen Raum und dessen Wandel in seinen politischen, ökonomischen, kulturellen und soziologischen Dimensionen. Dabei konzentriert sich der Blick zunächst bewusst auf das zugängliche Äußere, die bauliche Hülle wie auch die involvierten gestaltenden Akteure, um letztlich zur Substanz dahinter vorzustoßen: Wo dringen die Tiefenmerkmale einer Gesellschaft und Zeit ganz nach oben, an die Fassaden der Gebäude und ihre optisch-haptischen Details? Inwiefern ist diese Visualität einer Architektur Teil einer größeren symbolischen Ordnung, eines Systems der Repräsentation politischer und ökonomischer Zustände? Solche und ähnliche Fragen umreißen das künstlerische Betätigungsfeld von Andreas Fogarasi und markieren wichtige Ausgangspunkte seines Schaffens.

Auch die Ausstellung Nine Buildings, Stripped fokussiert auf urbane Transformationsprozesse und deren Manifestationen in Oberflächen, die sich wiederum exemplarisch in der jüngeren Bauhistorie des Präsentationsortes spiegeln. Mit dem Abriss der markanten gelben Containerarchitektur der Kunsthalle Wien Anfang 2001 und dem an selbiger Stelle errichteten heutigen Pavillon mit seinen gläsernen Außenwänden liefert die Institution selbst den Showcase (im doppelten Sinn) für jene stadtlandschaftlichen Veränderungen, die sich in den ausgestellten Arbeiten verdichtet zeigen. Die „Materialpakete“ an Wand und Boden setzen sich aus originalen Oberflächenfragmenten von nicht mehr existierenden Gebäuden und Mustern oder bestehenden Teilen des sichtbaren Äußeren der Nachfolgebauten bzw. Umbauten zusammen, beispielsweise Fassadenverkleidungen, Bodenfliesen, Bruchstücken von Türen und sogar kompletten Fenstern. Sie sind zeitübergreifende Porträts der jeweiligen urbanen Situationen, radikal abstrahiert auf die Materialität, Farbigkeit und Haptik ihrer physischen Hüllen. Die Aura der Authentizität wird dabei durch die künstlerische Geste des Verpackens und Verschnürens jedoch unterbrochen, die das rohe Material einer zusätzlichen Transformation (hin zum eigentlichen Werk) unterzieht und jedes „Paket“ um eine erzählerische Bedeutungsschicht zwischen Transportgegenstand, Sendung, Botschaft und Geschenk erweitert.

Das Dokumentarische aber überwiegt: Die Skulpturenhybride sind städtebauliche Fallbeispiele, deren individuelle Charakteristiken sich zum repräsentativen Bild einer großen Entwicklung formieren. Die quantitative Beschränkung auf neun Bauten ist dabei unerheblich, da Fogarasi sein Projekt als prinzipiell fortdauernd und unabgeschlossen begreift. Dieser globalen Dimension entspricht auch die breite Auswahl der Abriss- und Umbauobjekte nach Funktion, Volumen, Eigentumsverhältnis und Entstehungsdatum: Die Materialpakete stammen von Gebäuden der öffentlichen Verwaltung und Dienstleistung, einem Bahnhof, einem kleineren Zinshaus, einem Kinokomplex, einer Fußgängerzone und einer Passage, die zum Großteil zwischen den 1950er und 1980er Jahren realisiert wurden. Die vor allem auch geografische Erweiterbarkeit der Skulpturenreihe vermittelt die Integration des ehemaligen Ost-Berliner Palasts der Republik bzw. des aktuell rekonstruierten Berliner Stadtschlosses. Unter den Wiener Referenzbauten finden sich ähnlich ikonische Architekturen wie das „Rinterzelt“, eine Sammelanlage der kommunalen Abfallentsorgung, deren 67 Meter hohe, silberfarbene Zeltdachkonstruktion über Jahrzehnte das nördliche Stadtbild akzentuierte, und das von Carl Appel in den 1970er Jahren errichtete Hauptgebäude der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft an der Wiedner Hauptstraße, das die unmittelbare Wohnumgebung des Künstlers stark kennzeichnet und eines der ersten von ihm ausgewählten Objekte war. Gleich zwei Arbeiten sind dem 2009/10 abgerissenen Wiener Südbahnhof gewidmet – eine der bedeutendsten Wiener Großbaustellen der letzten Jahre.

Die Ausstellung mit ihren Wand- und Bodenskulpturen zeigt damit die Konturen eines Vorhabens von enzyklopädischem Anspruch, das den fotografischen Industriebauten-Typologien von Bernd und Hilla Becher nicht unähnlich ist. Fogarasis Materialakkumulationen laufen auf eine grenzüberschreitende Langzeitdokumentation des Bauens hinaus, bei denen durch die visuell-haptische Überblendung zweier Existenzphasen eines Gebäudes oder Ortes die gestalterische Entscheidungskomplexität dahinter – persönlich, finanziell, zeit- und modespezifisch, technologisch usw. – materiell und formal komprimiert und damit sichtbar wird. Fogarasis Arbeiten markieren somit nicht nur, sondern verkörpern visuell und physisch greifbar einzelne Risse in der städtebaulichen Ereigniskette, durch die auch der Blick auf die gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Tiefenprozesse freigegeben wird. Dabei hält sich der Künstler ganz im Sinne des Dokumentarischen fern von jeder Wertung, Fetischisierung, Sentimentalität oder jeglichem Aktivismus, ohne sich all dem zugleich aber zu verschließen. Vielmehr stehen Fogarasis Bildobjekte einer emotionalisierten Rezeption offen gegenüber, die auch das Auslösen von zivilem Protest gegen städtebauliche Veränderungen dezidiert miteinbezieht. Hier zeigt sich (spätestens) eine politisch-kritische Dimension seines Projekts, die auch in der Relativierung des Begriffs und Empfindens von städtischer oder sonstiger territorial fundierter Identität greifbar wird. Der Künstler verschiebt dabei den Fokus der Betrachtung: Ob Gebäude eine identitätsstiftende Funktion und weitreichende Symbolkraft entwickeln, ist eine Form-, vor allem aber auch eine Materialfrage. Nicht nur die Gesamtgestalt von Architekturen, Vierteln oder gar Städten spielt in der Bestimmung unseres Verhältnisses zu diesen eine Rolle, sondern vor allem die permanente ganzkörperliche Interaktion damit, das tagtägliche Beschreiten, Beschauen und Begreifen. Fogarasi reaktiviert damit auch einen traditionellen Konflikt der bildenden Kunst: Die Frage nach dem Prägenden des Stadtbildes – ob Skyline oder Fassade – schließt letztlich an die alte Rivalität zwischen gezeichneter Linie und gemalter Fläche an.

Nicht zuletzt findet sich auch im titelgebenden „Stripping“ eine deutliche Bipolarität. Die Entfernung der Fassadenteile, das Freilegen des Gebäudeinneren erfolgt jeweils im doppelten Sinn, als konkrete physische Handlung und erweiterte dokumentarische Operation, und erzeugt ein Spannungsmoment, das sich in der finalen Verbindung zum Bild fortsetzt. Was wir an den Wänden und am Boden sehen, ist immer ein Zweifaches: Bilder im Raum und Räume im Bild. Diese Dialektik versetzt Fogarasis Fragmentblöcke in eine dauerhafte, attraktive Unruhe – zwischen Abstraktion und Konkretion, Oberfläche und Tiefe, Vergangenheit und Gegenwart, materieller Realität und bildlicher Bedeutung.

Andreas Fogarasi (geb. 1977 in Wien) lebt und arbeitet in Wien. Seine Arbeiten wurden in zahlreichen internationalen Institutionen gezeigt: Museo Tamayo, Mexiko-Stadt; Ludwig Museum, Budapest; New Museum, New York; Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf; Muzej suvremene umjetnosti, Zagreb; CAC, Vilnius; Frankfurter Kunstverein; und Palais de Tokyo, Paris. Einzelausstellungen (u. a.): Georg Kargl Fine Arts, Wien (2017); Proyectos Monclova, Mexiko-Stadt (2016); MAK Center, Los Angeles (mit Oscar Tuazon); Galeria Vermelho, São Paulo; Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig; Haus Konstruktiv, Zürich (2014); Prefix ICA, Toronto (2012); Museo Reina Sofía, Madrid (2011); Ludwig Forum, Aachen (2010); Lombard-Freid Projects, New York und im ungarischen Pavillon auf der 52. Biennale von Venedig (2007), wo er für die Arbeit Kultur und Freizeit mit dem Goldenen Löwen für den besten Länderbeitrag ausgezeichnet wurde.

Kurator: Maximilian Geymüller