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Auf Grund der aktuell bei zahlreichen KünstlerInnen im internationalen Kunstgeschehen erkennbaren Affinität für die Verwendung und Neukontextualisierung von vorgefundenem Material hat das kuratorische Team der FOTOGALERIE WIEN zusammen mit der Kunsthistorikerin und Kuratorin Petra Noll den diesjährigen Schwerpunkt ANEIGNUNG entwickelt. Geistige Basis ist die „Appropriation Art“ der 1970er-/1980er-Jahre, wo sich KünstlerInnen in erster Linie bereits existierende Kunstwerke konzeptuell „aneigneten“. Die dreiteilige Ausstellungsserie fasst die Thematik weiter und präsentiert Foto- und VideokünstlerInnen, die sich mit Found Footage-Material aus den unterschiedlichsten Kontexten sowie mit Strategien des Re-enactments auseinander setzen und damit neue Perspektiven und Bildrealitäten eröffnen. Über die zentralen Themen der „Appropriation Art“ – Autorenschaft und Originalität – hinaus, geht es hier auch um Fragen der Repräsentation und Wahrnehmung, um gesellschafts- und kulturpolitische Auseinandersetzungen sowie um Geschichte, Erinnerung und Identität. Für das Thema ANEIGNUNG bieten die schon per se auf die Vergangenheit weisenden Medien ‚Fotografie‘ und ‚Film‘ eine zusätzliche Reflektionsebene.

In der dritten Ausstellung zum Thema ANEIGNUNG mit dem Untertitel Soziokulturelle Prägungen werden Arbeiten von fünf west- bzw. osteuropäischen KünstlerInnen präsentiert, die sich auf der Basis von Found Footage-Materialien mit gesellschafts- und (kultur-)politischen Fragen auseinander setzen. Als Grundlage dienen ihnen Materialien aus Archiven und Medien sowie aus wissenschaftlichen und literarischen Publikationen. Sie erforschen und analysieren nicht nur die Geschichte von Ländern und deren Mechanismen von Darstellung, Klassifikation und Repräsentation, sondern auch die damit eng verbundenen Fragen nach der eigenen Herkunft und Identität. Durch die verfremdende Bearbeitung der Basismaterialien wird nicht nur eine Neubewer-tung von Geschichte möglich, sondern es eröffnen sich auch neue Aspekte für das Verständnis des Heute und des eigenen Ichs.

Tanja Boukal wurde 1976 in Wien geboren und lebt dort. Der sozialkritischen Serie Am seidenen Faden (Work in progress seit 2008) liegen Zeitungsbilder von Flüchtlingen zugrunde, die sie pixelgetreu mit der Hand nachgestickt hat. Der Titel bezieht sich sowohl auf die Technik wie auch auf das Schicksal der MigrantInnen, deren Leben während ihrer Bootsfahrt ins vermeintliche Paradies meist "am seidenen Faden hängt". Unserem flüchtigen Rezeptionsverhalten von Bildern selbst dramatischen Inhalts stellt Boukal das langsame Sticken gegenüber – ein Kampf gegen die Zeit, das Vergessen und die Verdrängung sowie gegen die Abgestumpftheit. Dieselbe Thematik behandeln die großformatigen, in gestrickten Goldrahmen eingefassten Strickbilder der Serie All that Glitter and Gold (2010). Auch diesen liegen Fotos, dieses Mal in Schwarz-Weiß, von MigrantInnen in der Realität ihres Fluchtortes zugrunde. Titel, Material und Rahmen stehen im Kontrast zum Inhalt, wodurch man zum genaueren Hinsehen animiert wird.

Der in Leipzig lebende, 1970 geborene Fotograf Jens Klein zeigt Arbeiten aus der Serie Hundewege. Index eines konspirativen Alltags (2009-2012), Teil einer Werkgruppe, die sich mit der Konstruktion von Geschichte befasst. Zugleich ist es eine Auseinandersetzung mit der ehemaligen DDR, seinem Geburtsland, sowie mit seiner eigenen Herkunft, Erinnerung und Identität. Bei der Recherche in Stasi-Archiven ist Klein auf Fotos gestoßen, die Mitarbeiter der Staatssicherheit unerkannt von vermeintlichen Regimegegnern aufgenommen haben. Diese hat er neu zu thematisch ausgerichteten Bildfolgen (Mopedfahrer, Spaziergänger, Briefkasten) zusammengestellt und mit literarisch fiktiven Texten kombiniert. Durch diese Entkontextualisierung und serielle Neuordnung liegt der Fokus nun auf menschlichen, alltäglichen Situationen. Hierbei interessiert Klein die Frage, inwiefern die Fotografien der Staatssicherheit tauglich für eine (von dieser nicht beabsichtigten) Alltagsbeschreibung sind, ohne dabei ihre ursprüngliche Absicht der Kontrolle und Überwachung außer Acht zu lassen, die scheinbar selbst vor den banalsten Situationen nicht Halt machte.

Svätopluk Mikyta wurde 1973 in Cadca/Slowakei geboren und lebt in Bratislava und Ilja. Einer seiner künstlerischen Schwerpunkte ist die zeichnerische Überarbeitung von fotografischen Reproduktionen aus historischen Bildbänden. Die bearbeiteten Fotos kombiniert er zu Serien und präsentiert sie installativ. Mikyta geht es um die Erforschung, Hinterfragung und Neubewertung der Geschichte seiner Heimat Slowakei sowie Mitteleuropas und speziell um die Untersuchung totalitärer Entwicklungen von damals bis heute. Dies beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Erinnerung und Identität. In seinen Überarbeitungen der Fotos bezieht er sich bewusst auf die suggestive Ästhetik sozialistischer Regime: So setzt er gerne Akzente in der expressiven Farbe Rot, die für politische Totalität, für Blut, Emotion und Unruhe steht. Wichtige Themen seiner konzeptuellen Arbeiten sind sozialistische Massen-veranstaltungen und Körperkultur-Events sowie nationale und religiöse Symbole Osteuropas, die er in der Form umgestaltet, dass neue Verbindungen ins Heute ermöglicht werden.

Paula Muhr, 1977 in Serbien geboren und heute in Berlin lebend, zeigt die audio-visuelle Installation Females under tension (2010/11), eine Untersuchung der Darstellungspraktiken von Film, Fotografie und Texten des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts in Bezug auf Weiblichkeit, Sexualität, Sehnsucht und "Normalität" und deren Einfluss auf die heutige Gender-Debatte. Ein Ausgangspunkt war das Buch "Abnormal Woman" von Arthur Macdonald (USA, 1895), der zur Erforschung der Thematik an Frauen zum Teil schmerzhafte Körpermessungen durchführte. Für ein Video hat Muhr Szenen aus dem Film How a French Nobleman Got a Wife...(Edison Company 1904), in dem elf Frauen als hysterische Masse einen Mann verfolgen, der eine Partnersuche-Anzeige aufgegeben hat, mit Aussagen von heutigen Frauen hinterlegt, die – als Antwort auf die alte Annonce von Macdonald – über ihre Erwartungen von einer Beziehung zu einem Mann sprechen. Zudem hat Muhr zwei historische medizinische Abbildungen von Frauen, die einen hysterischen Anfall hatten, mit Nadeln durchstochen – analog zu den fragwürdigen Versuchen von Macdonald.

Ana Torfs wurde 1963 in Mortsel/Belgien geboren und lebt in Brüssel. Die fotografische Serie Family Plot #1 (2009) bezieht sich auf Ordnungssysteme der Natur, insbesondere auf die binäre Nomenklatur des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707-1778), dem "Vater der modernen Taxonomie". Aufgrund von dessen Benennungssystem wurden botanische und zoologische Gattungen und Arten manchmal ihren "Entdeckern" und anderen wichtigen Persönlichkeiten, meist westlich-weißen Männern, gewidmet und indigene Namen häufig ignoriert. Dieses als autoritär und elitär empfundene Namensystem war Anlass für Torfs Arbeit: Wie in einem Familienstammbaum präsentiert Family Plot #1 neben Linné 24 fotografisch reproduzierte historische Portraits von Namenspatronen und, jeweils kleiner, das eines den Namen gebenden Botanikers samt Diagramm der Namensgebung. Diese "Dokumentation" positioniert Torfs unter einem Schwarz-Weiß-Siebdruck der Blume oder Frucht auf Glas. Durch den Kontrast dieser zwei Bildebenen – wunderschöne, sinnlich-erotische Blumen und Früchte im Close-up, konfrontiert mit traditionell-repräsentativen Porträts und rationalen Schemata – werden, über Linné hinaus, starre und ideologische Kategorisierungen ad absurdum geführt.

Petra Noll, im Namen des Kollektivs

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ANEIGNUNG
Teil III: Soziokulturelle Prägungen

Künstler: Tanja Boukal, Jens Klein, Svätopluk Mikyta, Paula Muhr, Ana Torfs