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Ort Erdgeschoss: Grand Hall, Pavillon Henry J. and Erna D. Leir ; Obergeschoss: Ost- und Westgalerie

Mudam Luxembourg – Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean präsentiert mit Le Temps coudé eine bedeutende, dem Werk von Anri Sala (geb. 1974 in Tirana) gewidmete Ausstellung. Verteilt über mehrere Galerien des Museums, versammelt die Ausstellung vier wesentliche Installationen aus den letzten fünf Jahren, sowie zwei Filme aus jüngerer Zeit und mehrere Ensembles von Zeichnungen. In seinen Filmen wie in seinen umfangreichen Installationen verwendet Sala Klang und Musik, die er stets in eine Beziehung zum Bild und zur Architektur, wie auch zur Geschichte und zur Zeit stellt. Der Begriff des Motivs, im bildlichen wie im musikalischen Sinne, durchzieht die Ausstellung, ebenso wie die Vorstellung eines Beugens und Verzerrens von Zeit und Raum, wie dies im Titel der Ausstellung, Le Temps coudé – Die gebeugte Zeit, anklingt.

Weit davon entfernt, nur als Untermalung der Bilder zu dienen, spielen Klang und Musik im Werk Anri Salas eine zentrale Rolle. Sala verwendet sie, um Räumlichkeiten zu betonen und den Augenblick „zu öffnen“. Seine Filme und Installationen, die sich eines erstaunlich breiten musikalischen Spektrums bedienen, das vom Free Jazz zur Neuen Musik und von der klassischen bis zur populären Musik reicht, ermöglichen es dem Betrachter, neue Wahrnehmungserfahrungen in sinnlicher wie in zeitlicher Hinsicht zu machen, als Einzelner oder in Gemeinschaft. Diese speziell auf die Erfahrung gerichtete Aufmerksamkeit spiegelt sich in der Art, in der Anri Sala seine Ausstellungen plant. In seinen räumlich stets neu zusammengestellten Installationen, Filme, Klänge, Skulpturen und Zeichnungen sieht er ein „Kontinuum aus Gegenwärtigkeit und Fluss“, als „Ort der Verknüpfungen und Wechselbeziehungen“, in dem der Betrachter eine aktive Rolle übernimmt. Die Zusammenstellung der Werke Anri Salas in den Räumen des Mudam ermöglicht eine solche Erfahrung.

Im Erdgeschoss – im Grand Hall wie auch im Henry J. and Erna D. Leir Pavillon – stehen zwei bedeutende Installationen im Dialog mit der emblematischen Architektur Ieoh Ming Peis. In der ersten, All of a Tremble (Delusion/Devolution) (2017) wird ein Bildmotiv in Klang verwandelt, indem eine ursprünglich zum Bedrucken von Tapeten genutzte Rolle als musikalischer Zylinder einer Spieldose verwendet wird.

The Last Resort (2017), eine Installation von 38 hängenden kleinen Trommeln, war ursprünglich für die Kaldor Public Art Projects im australischen Sydney realisiert worden und wird nun angepasst im Pavillon des Mudam gezeigt. Das Werk bietet eine Interpretation des Klarinettenkonzerts von Wolfgang Amadeus Mozart (1791), dessen Tempo, neben anderen Eingriffen, entsprechend der Beschreibung der Windverhältnisse auf einer Seereise nach Australien im 19. Jahrhundert verändert wurde. In der Gegenüberstellung von Musikgeschichte und der Geschichte der Kolonisierung verweist The Last Resort auf die Paradoxien des Jahrhunderts der Aufklärung.

Dieses Interesse für die historische Dimension der Musik findet sich auch in den beiden folgenden Installationen der Ausstellung, in den zwei Sälen im Obergeschoss des Museums. In einer neuen Zusammenstellung konfrontiert Take Over (2017) zwei bekannte Hymnen miteinander, die Internationale (1871/1888) und die Marseillaise (1792), deren kulturelle und politische Historie eng verwoben sind. In The Present Moment (2014) hingegen untersucht Sala erneut die Beziehungen zwischen Raum, Musik und der Augenblickserfahrung, ausgehend von Noten und musikalischen Motiven aus dem Stück Die Verklärte Nacht (1899) von Arnold Schönberg.

Neben diesen beiden Environment-artigen Installationen gibt es zwei Filme aus jüngerer Zeit sowie eine Auswahl von Arbeiten auf Papier, die jeweils auf ihre eigene Weise die Vorstellung eines räumlichen und zeitlichen Verbiegens bzw. Verzerrens interpretieren. Im Film If and Only If (2018) spielt dies eine Rolle in dem verblüffenden Kriechen einer Schnecke auf dem Bogen eines die Elegie für Viola (1944) von Igor Strawinsky spielenden Bratschisten. In Slip of the Line (2018) geht es um die Eingriffe eines Zauberkünstlers in den Produktionsablauf von Weingläsern in der österreichischen Glasmanufaktur Riedel, während in der Reihe Untitled (Maps/Species) (2018- 2019) die Umrisse einzelner Länder verändert wurden, um sie den Formen der Fische anzupassen, die ihnen auf Stichen des 18. Jahrhunderts gegenüber gestellt werden – dies als Methode des Künstlers hinzuweisen auf den Willen, die Formen der Welt der Vernunft unterzuordnen. Die Zeichnungen der Reihen The Present Moment (2014) und Manifestations of motion and affect (2014) ihrerseits greifen ein in die Räumlichkeit der musikalischen Partitur, indem sie einmal ein visuelles Durcheinander schaffen bzw. die Tempo- und Ausdrucksbezeichnungen einzelner Musikstücke gesondert darstellen.

Die Ausstellung wird durch die Veröffentlichung eines Katalogs ergänzt, der vier Aufsätze des französischen Philosophen und Musikwissenschaftlers Peter Szendy zum Werk von Anri Sala enthält, davon ein unveröffentlichter. Das französisch- und englischsprachige Buch mit dem Titel Coudées : Quatre variations sur Anri Sala wurde von dem Berliner Grafiker Quentin Walesch in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler und Peter Szendy gestaltet und wird vom Mudam Luxembourg in Parnerschaft mit Mousse Publishing herausgegeben.

Kuratorin Suzanne Cotter, mit Assistenz von Sarah Beaumont

Biografische Anmerkung
Anri Sala wurde 1974 in Tirana, Albanien, geboren. Er lebt und arbeitet in Berlin. Seine Arbeit wurde in zahlreichen Einzelausstellungen gezeigt, unter anderem im Castello di Rivoli (2019), im Garage Museum of Contemporary Art in Moskau (2018), im Museo Tamayo in Mexico City (2017), im New Museum in New York (2016), im Haus der Kunst in München (2014), im Centre Pompidou in Paris (2012), in der Serpentine Gallery in London (2011), im Museum of Contemporary Art North Miami (2008) und in der Fondazione Nicola Trussardi in Mailand (2005). Er hat an zahlreichen Gruppenausstellungen und internationalen Events teilgenommen, wie an der 13. Biennale von Havanna (2015), der 11. Biennale von Sharjah (2013), der 9. Biennale von Gwangju (2012), der Documenta 13 (2012), der 29. Biennale von São Paulo (2010), der 2. Biennale von Moskau (2007) und der 4. Berliner Biennale (2006). 2013 vertrat er Frankreich auf der 55. Biennale von Venedig. Er ist Preisträger des Vincent Award (2014), des 10. Benesse Prize (2013), des Absolut Art Award (2011) und des Young Artist Prize der Biennale von Venedig (2001).