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Wer sagt, dass das Maß der Architektur immer der Mensch sein muss? Der in Berlin lebende Bildhauer Anselmo Fox jedenfalls passt für seine mehrteilige performative Schneckeninvasion „Im Tal der Mollusken“ im Luzerner Kunstpanorama 35 lebenden Weinbergschnecken winzige Papiermodelle verschiedener Zentralbauten der Kunstgeschichte an. Mit Bramante, Palladio und Borromini huckepack kriechen die Weichtiere auf einem in der Galerie platzierten Komposthaufen herum, verlassen zuweilen dies organische Kraftwerk, das ihren natürlichen Lebensraum simuliert, um die Wände und Decken des White cube in Besitz zu nehmen. Die Schnecken tragen mit ihrem doppelten Haus – dem eigenen und dem von Künstlerhand aufgepfropften - die Essenz abendländischen Schöpfergeistes mit sich, der sich in den kosmologischen Rundbauten idealtypisch manifestiert. Prächtige Zentralbauten mit kreisförmigen Grundrissen aller Epochen bewegen sich im sprichwörtlichen Schneckentempo auf dem amorph-energetischen Untergrund, darunter Ikonen der Architekturgeschichte wie das Pantheon in Rom, die Dresdner Frauenkirche und Boullées utopischer Newton-Kenotaph. Alle involvierten Weichtiere stammen aus einem Zuchtbetrieb (freilebende Weinbergschnecken stehen unter Naturschutz und dürfen nicht gesammelt werden). Überwacht und betreut wird das Projekt vom Zoologen Christian Albrecht von der Universität Gießen.

Zusätzlich zu dieser raumfüllenden, zwangsläufig prozesshaften Installation stellt Anselmo Fox eine großformatige Fotoserie aus, auf denen die architekturtragenden Kopffüssler zu sehen sind, wie sie zerschossene Fassaden Berliner klassizistischer ziviler Gebäude überkriechen und mit ihren schwankenden Aufbauten quasi als Sehprothese die Wunden im Gestein markieren. Kosmologische Konzepte europäischer Baukunst gehen so mit den übersehenen Zeugen der gewalttätigen Geschichte des Ortes eine Union ein. Flankierend ausgestellte Silikonabformung der Geschosskrater knüpfen dabei an ältere Werke Anselmo Fox’ an, der sich in seiner plastischen Arbeit häufig mit Umstülpungen von Volumen, mit Sichtbarmachungen von Negativräumen und Blickachsen beschäftigt hat. Die Abformungen können als haptische Manifestationen eines zielgerichteten, aggressiven Sehens gelesen werden. Die Fotoserie selbst erweitert diesen Aspekt um die Archäologie des Ortes im Visier einer sakrosankten Architektur, die das zerstörerische Potential des Menschen vor der Folie seiner angeblichen Humanität fokussiert.

Dass das Tragen fremder Last in der Welt der Gastropoden nicht völlig singulär ist, beweist im übrigen ein ebenfalls ausgestelltes Exemplar der Meeresschnecke Xenophora. Diese sammelt leere Schneckenhäuser ihrer Umgebung und baut sie mit bastelndem Gestus in ihre eigene Schale ein – wohl um sich zu tarnen und um nicht in den schlammigen Meeresgrund einzusinken. Auch die von Anselmo Fox angebrachten Extensionen auf den Weinbergschneckenhäusern spielen ironisch mit dem Motiv der Camouflage und des Schutzes, weisen aber darüber hinaus, indem sie sich an die ikonographischen Fähigkeit des Menschen wenden: Denn die Schnecken im Luzerner Kunstpanorama sind nicht nur mit prächtigen Zentralbauten befrachtet, sondern auch mit der Spiralsymbolik von Jahrhunderten und stehen so u. a. für die Schöpfung und die Einheit von Natur und Kunst. Hierin findet sie einen Anknüpfungspunkt an die Verschmelzung von Lebewesen und Architektur in Anselmo Fox’ Projekt. Als wäre es eine Ironisierung und Umkehrung der Bionik, die im Grunde naturwissenschaftliche Industriespionage im Tierreich betreibt, sind wir plötzlich mit Schnecken konfrontiert, deren Haus einmal nicht vom Mensch imitiert wird, sondern, die, ganz im Gegenteil, die bautechnischen Errungenschaften des Menschen rauben. So wird der kulturell überformte Körper der Schnecke zum Begegnungsort unterschiedlicher Diskurse und Zeit-Räume, die jeder in seinem arteigenen Tempo erkunden kann.

Text: Jessica Ullrich Kurator: Stephan Wittmer

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Anselmo Fox
IM TAL DER MOLLUSKEN
Kurator: Stephan Wittmer