press release only in german

Ausgangspunkt der grossen, rund 185 Werke umfassenden Ausstellung ist das Schaffen von Aloïse (Aloïse Corbaz, 1886-1964), das dank einer Schenkung von Etienne und Jacqueline Porret-Forel in unserer Sammlung reich vertreten ist. Neben der Collection de l’Art brut in Lausanne besitzt das Kunstmuseum Solothurn mit 36 Werken die bedeutendste Aloïse-Sammlung. Für ihre Zeichnungen hat Aloïse vorerst Farbstifte, später Ölkreiden verwendet. Diese Vorliebe bildet den äusseren Rahmen der Ausstellung. Wichtiger ist jedoch die Hinwendung zur Buntheit und einer damit einhergehenden «Systematik», die nicht nur in der Art brut, sondern auch in der klassischen Moderne und der zeitgenössischen Kunst auftritt. Der Titel der Ausstellung Bunt ist meine Lieblingsfarbe stammt denn auch von Walter Gropius, dem Gründer des Weimarer Bauhauses. Mit den (Farb-)Theorien und Utopien der Moderne ist oft eine geometrische Bildsprache verbunden, die sich auch in der Art brut findet, am offensichtlichsten in den Farbstiftzeichnungen von Adolf Wölfli (1864-1930). Diese sind geprägt durch ihre Buntheit, Symmetrie und Ordnung. Viele der gegenständlichen Motive sind abstrahiert und als wiederkehrende Elemente in musterartige Abläufe eingebunden; charakteristisch ist die Verwendung klarer Strukturen und Rhythmen, die vom musikalischen Interesse des Künstlers zeugen. Wie bei Wölfli, jedoch weniger streng, werden auch bei Aloïse geometrische, teils symmetrische Elemente verwendet. Häufig kommen Reihungen und Quadrierungen vor, die sich durch das Zusammennähen mehrerer Papiere zwar zwingend ergeben, die aber gleichzeitig von einem «universalen» Denken in Zusammenhängen zeugen. Rigorose Stilisierung, Geometrie und Symmetrie bestimmen auch die Farbstiftzeichnungen von Johann Hauser (1926-1996), Alois Wey (1894-1985) und Friedrich Schröder-Sonnenstern (1892-1982), dessen surreal anmutende Fantasiewelten den Blättern von Meret Oppenheim (1913-1985) gegenüber gestellt werden. Unter den zeitgenössischen Art-brut-Künstlern sind Ordnungsprinzipien am offensichtlichsten bei Helmut ( 1945): «Die Welt ist zu chaotisch, als dass sie einfach so dargestellt werden könnte. Helmut zeichnet, um sie in Ordnung zu bringen, um eine Regelmässigkeit und Einheitlichkeit wieder herzustellen, die sie erträglich macht.» (Michel Thévoz). Innerhalb der klassischen Moderne treten Ordnung und Geometrie sehr häufig auf. Verbildlicht werden nicht nur Farbtheorien, sondern auch geistige Utopien, die sich oft nur durch eine völlige Abkehr von der Gegenstandswelt gestalten lassen. In anderen Fällen wird das Gesehene durch eine geometrische Stilisierung gleichsam «in eine andere Ordnung» gebracht. Im Bereich der Farbstift- und Ölkreidezeichnung haben Sophie Taeuber-Arp (1889-1943), Johannes Itten (1888-1967), Otto Meyer-Amden (1885-1933) und Oskar Schlemmer (1888-1943) international bedeutende Beiträge geleistet, die in unserer Ausstellung gebührend gezeigt werden. Auch bei den Zürcher Konkreten hat man sich verschiedentlich der farbigen Zeichnung bedient. Eindrucksvolle Beispiele gibt es im Schaffen von Camille Graeser (1892-1980) und Richard Paul Lohse (1902-1988). Einen besonderen Platz nimmt das Werk der Heilerin Emma Kunz (1892-1963) ein, die ihre grossformatigen Farbstiftzeichnungen auf Millimeter-Papier und mit Hilfe des Pendelns geschaffen hat. Die als «Antworten» auf Fragen ihrer Besucher entstandenen Blätter reflektieren eine geistig-visionäre Ebene, die sowohl die abstrakte Moderne wie die Art brut bestimmt. Neben der Gegenüberstellung von Art brut und Moderne, deren Hauptvertreter derselben Generation angehören, wird eine Auswahl zeitgenössischer Werke vorgestellt. Auch hier liegt das Augenmerk auf geometrisch-systematisch arbeitenden Kunstschaffenden. In vielen der oftmals seriell angelegten Exponate versteckt sich hinter der akribischen Bildordnung eine geradezu obsessive, der Art brut verwandte Haltung. Am deutlichsten zeigt sich diese Nähe bei Max Matter (1941). Seine vielteiligen Systeme und Gitter sind Glanzpunkte des zeichnerischen Schaffens. Die Thematik der «Buntheit als Ganzheit» zeigt sich in den einfachen, doch umso eindringlicheren Serien von Josef Herzog (1939-1998), Helmut Federle (1944), Jean Pfaff (1945), Jean Luc Manz (1952) und Karim Noureldin (1967). Die Gegenüberstellung von Art brut und moderner rsp. zeitgenössischer Kunst ist nicht neu. Erstmals aber wird das Verbindende nicht im Expressiven, sondern im Systematischen gesehen. Damit wird eine neue Rezeptionsweise vorgeschlagen. Bislang hat man mit der Kunst von Geisteskranken oft eine «verrückte», sprich gestische Formensprache verbunden. Bei genauerer Betrachtung sind systematische Ordnungen jedoch ebenso häufig zu finden. Es sind denn auch Vertreter des Bauhauses oder des Konstruktivismus wie Klee, Schlemmer oder Sophie Taeuber-Arp, die sich schon früh für die «Bildnerei der Geisteskranken» interessierten. Obwohl wir Art brut und Moderne nicht gleichsetzen wollen, kann gerade ihre Gegenüberstellung zu einer gleichwertigen Einschätzung beitragen. Denn bis heute scheint die Art brut eher über die Lebensgeschichte als über den geistigen Anspruch ihrer Künstler rezipiert zu werden. Treffend ist diesbezüglich eine Aussage von Lucienne Peiry (Collection de l'Art brut, Lausanne): «So sehr die Art brut den Sehsinn und die Emotionen anspricht, so sehr appelliert sie an den Verstand. Ihre Arbeiten sind nicht bloss offene Bücher zu den Leiden, Ängsten und Wünschen ihrer Urheber.» Umgekehrt geht bei den streng erscheinenden Zeichnungen der modernen oder zeitgenössischen Kunst das Emotionale leicht vergessen. So kann die Ausstellung denn einen Beitrag leisten, Klischees auf beiden Seiten abzubauen.

Christoph Vögele Pressetext

only in german

Bunt ist meine Lieblingsfarbe
Farbstift- und Ölkreide-Zeichnungen der Art brut und der Moderne

mit Werken von Aloïse , Benjamin Bonjour, Helmut Federle, Camille Graeser, Johann Hauser, Helmut, Josef Herzog, Adolf Hölzel, Johannes Itten, Emma Kunz, Alfred Leuzinger, Richard Paul Lohse, Jean-Luc Manz, Max Matter, Otto Meyer-Amden, Karim Noureldin, Meret Oppenheim, Jean Pfaff, Oskar Schlemmer, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Sophie Taeuber-Arp, Alois Wey, Adolf Wölfli, Beat Zoderer