press release only in german

Carsten Nicolai zählt heute zu den wichtigsten Vertretern einer Künstlergeneration, die gezielt die Schnittstellen zwischen Kunst, Natur und Wissenschaft untersucht. Als grenzüberschreitender bildender Künstler, Forscher, Musiker und Produzent in Personalunion versucht Nicolai, die Trennung menschlicher Sinneswahrnehmungen zu überwinden und naturwissenschaftliche Phänomene wie Klang- und Lichtfrequenzen oder elektromagnetische Felder sowohl mit den Augen als auch mit dem Gehör- und Tastsinn erfahrbar zu machen. Seinen Installationen ist eine minimalistische Ästhetik eigen, die durch Eleganz, Schlichtheit und Technizismus besticht. Nach Beteiligungen an wichtigen internationalen Ausstellungen wie der documenta in Kassel und der Biennale in Venedig präsentiert die Schirn erstmals eine große Überblicksausstellung, für die der 1965 in Chemnitz geborene Künstler eine Reihe neuer Arbeiten produzieren wird.

Max Hollein, Kurator der Ausstellung: „Carsten Nicolai verbindet in seiner Arbeit wissenschaftliche Analyse und Methodik von Laborversuchen mit einer intuitiven Suche nach einer neuen Sprache für sein künstlerisches Schaffen. Er bedient sich komplexer physikalischer Prozesse und transferiert sie in ästhetisch erfahr- und begreifbare visuelle und akustische Signale.“

Carsten Nicolai über seine Beziehung zur Wissenschaft: „Ich arbeite gern unter sehr präzisen Bedingungen, und in diesem Sinn sind wissenschaftliche Forschung und künstlerische Prozesse mehr oder weniger das Gleiche. Wer nur der bestehenden Logik folgt, verhält sich wie eine Maschine. Erst wer diese Gesetze durchbricht und etwas Unvorhergesehenes tut, betritt neuen Boden. Viele berühmte wissenschaftliche Erfindungen sind durch Zufälle entstanden; oft sind es die unerwarteten Augenblicke, die zu neuen Entdeckungen führen.“

Die Ausstellung wurde durch die Kulturstiftung der Länder sowie die Merck KGaA gefördert. Zusätzlich wurde sie von der Schott AG unterstützt.

Das Nebeneinander des Akustischen und Visuellen ist ein ständig wiederkehrendes Thema im Werk Carsten Nicolais. Der Tradition Ernst Chladnis (1756–1827), des Begründers der modernen Akustik, folgend, versucht Nicolai, unterschiedliche Sinnesempfindungen miteinander zu verknüpfen. In wiederholten Versuchsanordnungen werden beispielsweise Flüssigkeiten mit Tonsignalen verschiedener Frequenzen animiert, sodass Wellen entstehen, die sich in Form von konzentrischen Kreisen kräuseln, aufeinander stoßen, sich verbinden und dabei Schwingungsknoten und Störungsmuster erzeugen. Durch den visuellen Sinneseindruck von Nicolais teils großräumigen Installationen wird das Klangerlebnis in Porträts der Frequenzen umgewandelt. Die aus einem ähnlichen Experiment resultierende Fotoserie „milch“ besteht aus Abbildungen unterschiedlicher Milchoberflächen, die durch ansteigende Frequenzen in Schwingung gebracht worden sind. Während die niedrigen Frequenzen eine chaotisch anmutende Fläche erzeugen, bilden hohe streng rhythmisch geordnete Muster. Die Arbeiten sind gleichermaßen Visualisierungen eines akustischen Phänomens wie eigenständige Kunstwerke, die aus der ihnen innewohnenden Ästhetik wirken. In anderen Arbeiten wie „void“ versucht Nicolai, in Glasrohren Ton zu versiegeln und damit unsere Wahrnehmung zu hinterfragen sowie die Lebenspanne von Geräuschen zu thematisieren. Nicolai geht es dabei weniger um das Begreifen des einzelnen Objektes, sondern vielmehr um Relationen, um einen Systemzusammenhang, in dem kausale Abhängigkeitsverhältnisse herrschen. Klänge durchdringen den Raum, greifen auf Bilder und Objekte über und verleihen damit der gesamten Ausstellung eine Art von Polyrhythmik.

Immer wieder wird das Prinzip der Polarität erkennbar: Sichtbares und Unsichtbares, Licht und Dunkel, Positiv und Negativ, wissenschaftliche Labormethoden und metaphysische Weltinterpretationen. In der Ausstellung in der Schirn werden einander zwei Räume gegenüber-gestellt: „reflex“ und „anti“. Der eine Raum ist hell, der andere nahezu dunkel. Der Besucher verbindet die beiden Räume, indem er durch eine Passage geht, deren geometrische schwarzweiße Siebdrucktapete vom Auge als Ansammlung pulsierender Felder und visueller Rhythmen empfunden wird. Zentrales Element des „reflex“-Raums ist eine gleichnamige würfelförmige Skulptur. Sie besteht aus einer zwölfeckigen, 3 m hohen Box, die an einer Seite offen ist und den Besucher einlädt, den Innenraum zu betreten, wo aus zehn Lautsprechern mit hoher Geschwindigkeit Ton von Hochfrequenz-Weißem-Rauschen zirkuliert und die akustische Illusion erzeugt, dass in den Wänden der Box ein weiteres, dreidimensionales Objekt verborgen ist. Auch andere Werke in diesem Ausstellungsteil wie „visuelles feld“ beziehen den Betrachter ein. In dem Moment, in dem er die Installation betritt, gerät er in das visuelle Feld einer CCD-Kamera, wodurch das akustische Signal verändert und das Bild unterbrochen wird – Konzepte wie Zeit, Raum und Identität werden in Frage gestellt. An anderer Stelle steht ein „einkristall“ – ein Materialblock, der sich durch die regulärste existente Anordnung von Atomen auszeichnet und als hochwertigstes Speichermedium in der Mikroelektronik Verwendung findet – als Referenz für ein komplexes Muster der Natur.

Der zu „reflex“ korrespondierende Raum „anti“ enthält ebenfalls eine Skulptur – ein gleichförmiges schwarzes Pendant, das im Gegensatz zur Ersteren nicht betreten werden kann. Über eingebaute Subwoofer gibt „anti“ tiefe Frequenzen von sich, die nicht gehört, sondern nur gespürt und vom Besucher durch Berührung verändert werden können. Formal bezieht sich die Skulptur auf eine geometrische Form aus Albrecht Dürers Stich „Melancholia I“ und greift somit neoplatonische mathematische und geometrische Konzepte der Renaissance auf, die sie mit der zeitgenössischen Diskussion über akustische Dimensionen der Architektur verbindet. Physikalische Phänomene liegen auch der Arbeit „funken“ zugrunde, die Elektrizität in Form von aus der Wand kommenden Funken visualisiert.

Carsten Nicolai verbindet in seiner Arbeit unterschiedliche Naturphänomene und implementiert sie in seine eigene künstlerische Sprache. Der neuartige, erfrischende Eindruck, den seine Arbeiten hinterlassen, entsteht dadurch, dass sie jenen undeutlichen Grenzbereich hervorbringen, in dem Bewusstsein und Materie ineinander übergehen und der Betrachter der Realität einer sowohl innerlichen als auch körperlichen Erfahrung sehr nahe kommt. Er wird auf sein ureigenes Empfinden und somit auf die essenziellen Fragen nach der Ordnung der Dinge zurückgeworfen.

Nach Ausstellungen in der Neuen Nationalgalerie Berlin (1994), der New York Kunsthalle (1996) und dem Watari Museum of Contemporary Art in Tokyo (2002) sowie Teilnahmen an internationalen Gruppenausstellungen wie der documenta (1997) und der Biennale in Venedig (2001, 2003) präsentiert die Schirn die bisher größte Überblicksausstellung von Carsten Nicolai. Als Musiker, Produzent und Veranstalter hat Carsten Nicolai alias „noto“ alias „alva noto“ bei bedeutenden Festivals wie dem Sonar-Festival (Barcelona 1997), der ars electronica (Linz 1997, 2000 prix ars electronica für digitale Musik) oder der transmediale (Berlin 2000) mitgewirkt. Sein 1994 gegründetes Label „noton“ fusionierte 2000 mit dem Chemnitzer Label „Rastermusic“ von Olaf Bender und Frank Bretschneider zu „raster-noton“ und ist heute eine der wichtigsten Plattformen für Minimal Electronic Music. Durch seine konsequente Licht-Sound-Vernetzung verbindet die Labelstruktur von „raster-noton“ einmal mehr das Visuelle und Akustische. Begleitend zu der Ausstellung in der Schirn werden Performances mit Carsten Nicolai sowie Musikveranstaltungen stattfinden.

KATALOG: Carsten Nicolai. anti reflex. Hg. Von Max Hollein, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Beiträgen von Magnus Haglund und Yuko Hasegawa sowie Erläuterungen zu den Arbeiten von Carsten Nicolai. Deutsch/englisch, ca. 200 Seiten, ca. 120 Farbabbildungen, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2005, ISBN 3-88375-891-4

www.antireflex.de

only in german

Carsten Nicolai - anti reflex
Kurator: Max Hollein