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In "Out and About" wird zum ersten Mal eine Werkgruppe von Landschaften gezeigt, mit der Christopher Muller schon seit vielen Jahren beschäftigt ist. Nur wenige waren bisher zu sehen und auch diese Motive wurden für die Ausstellung einer Revision unterzogen.

In Bezug auf seine Stillleben ist bekannt, wie sorgfältig und minutiös der sie vorbereitende Kompositionsprozess abläuft. Nachdem Muller eine Konstellation für ein Motiv in seinem Lebensumfeld aufgespürt hat und er diese Konstellation photographisch in der Form eines genauen Gedächtnisses festgehalten hat, fängt er mittels Zeichenskizzen an, diese Konstellation zu analysieren und seine eigene intuitive Faszination an dem Motiv genauer zu untersuchen. Dies kann sich über einen langen Zeitraum hinziehen. Einem Konvolut an Zeichnungen folgen immer neue, häufig werden nur minimale Veränderungen vorgenommen. Ist der Kern des Motivs in seinen räumlichen Eigenschaften, d.h. der Tiefenstaffelung und des Umraumes und dem ?charakterlichen' und kommunikativen Verhältnis der Dinge zueinander geklärt, dann erfolgt die Feinarbeit an der Umsetzung der Motivkonstellation in eine adäquate Bildvorstellung. Eine interessante Motivkonstellation ergibt erst dann ein autonomes Bild, wenn sie in die vier Grenzen des Bildformates so eingepasst sind, dass das Bild einen Eigenwert gegenüber der bloßen abbildlichen Funktion erhält. Die Motivkonstellation, um Bild zu werden, darf sich nicht durch ihre Bezüge auf unsere alltägliche Lebenswelt definieren, sondern muss eine Stimmigkeit aus einer intuitiv plausiblen Bezogenheit zu seinen Bildgrenzen und aus der formalen Struktur des Zueinanders der Bildbestandteile beziehen. Die Bildgrenzen müssen unverrückbar sein, es gibt kein Darüberhinaus, das Bild geht nicht jenseits seines Randes weiter. Wir sehen ein Bild nicht wie mit dem Blick aus dem Fenster, wo wir durch Drehung des Kopfes immer noch weiteres sehen können. Auch wenn Mullers Stillleben auf den ersten Blick wie Dokumente der lebensweltlichen Realität erscheinen, erhält bei eingehender Betrachtung das formale Verhältnis der Eingepasstheit der dinglichen Konstellation in den innerbildlichen Raum eine ganz andere Bedeutung. Es kommt darauf an, wie viel raumgebend sich das Bild zu den Dingen verhält, welche Ansichtsseite sie den Dingen einräumt, welches Entfaltungsleben den Dingen auf der Bildfläche in den Nachbarschaften und in ihrem Bezug auf den Bildrand gegeben wird, wie der Bildrand sich in das Leben der Dinge einschneidet. Es wird offensichtlich, dass jedes Stillleben von Muller einen eigenen unverwechselbaren Bildraum konstituiert in Abhängigkeit davon, aus welcher Perspektive die Dinge dargestellt und durch den Bildrand überschnitten werden. Minimale Grenzveränderungen würden in Mullers neueren Arbeiten ganz andere Bilder ergeben. Auf diesen Umstand ist deswegen auch die Sorgfalt zurückzuführen, mit der Muller über die jeweiligen Bildgrenzen nachdenkt und immer wieder leichte Veränderungen für sich durchspielt, um dann eine endgültige Entscheidung über sie zu treffen.

Warum hat dieser Arbeitsprozess bei den Landschaften noch länger gedauert als bei den Stillleben? Man würde doch eher das Umgekehrte vermuten. Eine Landschaft lässt sich in ihrer Konstellation nicht verändern. Mullers Landschaften bestehen bildlich aus zwei Ebenen. Die eine ist die dokumentierte Situation eines landschaftlichen Raumes in einer bestimmten Beleuchtung und einer jahres- und tageszeitlichen Entfaltungsform. Die gewählte photographische Perspektive bestimmt über die Art der Tiefenstaffelung des Raumes. Die zweite Ebene ist der kollagierende Eingriff einer bildlichen Hinzufügung im Vordergrundbereich. Welchen Charakter hat dieser interpretierende Eingriff, wie weitgehend ist er und gleichzeitig wie selbstverständlich stellt er sich dar? Motivisch verweist diese zweite Bildebene immer auf den Menschen. Mullers Landschaften sind von ihrem Ausgangsmaterial keine rohen Naturräume, sondern unterschiedlich überlagerte Schichten kultivierter Naturräume. Seine Ausgangslandschaften sind keine eindimensionalen landwirtschaftlichen Funktionsräume. Muller interessiert sich gerade für die Überlagerung verschiedener Schichten kultivierender Eingriffe. Der bildliche Eingriff besteht darin, Möglichkeiten der menschlichen Verfügbarkeit über und seines Eindringens in diese Räume auf eine sehr unterschwellige Weise anzudeuten. Muller bringt unterschiedliche Maßstäblichkeiten menschlicher Verfügungen ins Gespräch miteinander und gibt damit dem landschaftlichen Raum insbesondere, was seine Tiefenstaffelung anbetrifft, eine neue Ausdeutung. Er bezieht sich hierin auf klassische Malereitradition. Als bildlich geprägter Raum ist Landschaft in der Malerei das Ineinander-Gefügtsein von bildlichem Vordergrund, der immer als möglicher Greifraum für den Betrachter fungiert, bildlichem Mittelgrund als innerbildlichem Akteursraum und bildlichem Hintergrund als dem Raum des Ausblickes auf Vergangenheit oder Zukunft des bildlichen Geschehens. Mullers Vordergrund-Eingriffe sind ein Ins-Bild-Nehmen des Betrachters, der die landschaftliche Tiefenstaffelung sodann auf den Aktionsradius für sich selbst innerhalb des Bildes befragt. Die Licht- und Schattenkonstellation fungiert dabei als eine Art von emotionaler Befeuerung des Betrachters. Licht und Schatten teilen ihm in abstrakter Weise mögliche unterschiedliche Empfindungsschicksale in der Landschaft zu und prägen ihre unterschiedlich erfahrbaren Dichtigkeiten.

In der Weise, wie Muller sich auf die intimen Erfahrungsmöglichkeiten des Betrachters in der Landschaft einlässt und ihnen einen Bildraum verschafft, arbeitet Muller eine Frage aus, die selten in der heutigen Gegenwartskunst anzutreffen ist, die Frage nach dem humanen Maß des Menschen in seiner Lebenswelt. Die Kunst der Moderne und insbesondere die Gegenwartskunst verstehen sich zumeist als Abstoßung von Wirklichkeiten, als Negierung eines affirmativen Zugangs. Distanz, Verweigerung, Entfremdung sind beschreibende Begriffe, mit denen sich die Kunst heute vielfach assoziiert. Die zunehmende Unverfügbarkeit der Welt, ihre überbordende Komplexität wird in der Kunst zumeist als Unmöglichkeit interpretiert, angemessene Maßstäbe zu finden und drückt sich in einer forcierten Maßstablosigkeit in ihr selber aus, oder in einem Formalismus, der für intime menschliche Maßstabsetzungen keinen Raum bietet. Diesem Sog der Negativität setzt Muller eine ganz unmodische Suche nach intimer Humanität entgegen. Die Beiläufigkeit seiner Arbeiten lässt leicht übersehen, wie viel schwieriger und wie viel mehr an Präzision und ausgefeilter Ausarbeitung eine solche Befragung heute erforderlich macht. Die Schwere dieser Frage - und das ist das Paradoxe - erfordert als überzeugendes Ergebnis die Leichtigkeit des ästhetischen Resultats.

Rolf Hengesbach