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documenta. Politik und Kunst

18. Juni 2021 - 9. Januar 2022

Die documenta verdankt ihren Aufstieg zur erfolgreichsten deutschen Kunstausstellung nicht zuletzt der politischen Dimension: der Absetzung vom Nationalsozialismus und der Blockbildung im Kalten Krieg. Einerseits war sie bestimmt von dem Versuch, sich von der NS-Kulturpolitik vermeintlich radikal abzugrenzen, während sie zugleich eine offene Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verweigerte. Andererseits schloss ihre politisch motivierte Westorientierung eine entschiedene Distanzierung und Abwertung von der sozialistischen Kunst des „Ostblocks” ein.

Das Deutsche Historische Museum zeigt mit „documenta. Politik und Kunst” (18.6.21 –9.1.22) die erste Ausstellung, die anhand der berühmten Kassler Großausstellung die vielfältigen Wechselwirkungen von Politik und Kunst in der bundesrepublikanischen Gesellschaft nach 1945 in den Blick nimmt. Parallel untersucht die Ausstellung „Die Liste der ,Gottbegnadeten`. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik“ (27.8.21 – 6.2.22) erstmals die Nachkriegskarrieren ehemals sogenannt „gottbegnadeter" bildender Künstler, die ab 1944 als „unabkömmlich“ bezeichnet worden waren und vom Front- und Arbeitseinsatz verschont blieben.

Prof. Dr. Raphael Gross, Präsident der Stiftung Deutsches Historisches Museum: „Mit den Ausstellungen möchten wir eine neue Perspektive auf die Geschichte der Bundesrepublik in ihrem internationalen Kontext eröffnen. Beide korrigieren die Vorstellung eines radikalen ästhetischen Neuanfangs, der vielfach gerade mit der documenta verbunden wird und von den frühen documenta-Machern kräftig bedient worden war. Es gab Kontinuitäten zum Nationalsozialismus. Werke ermordeter jüdischer Künstlerinnen und Künstler fanden keinen Platz in den Anfängen der documenta. In der Ausstellung über die bisher praktisch unerforschten ,Gottbegnadeten` zeigen wir, wie stark dagegen diese Gruppe bildender Künstler des NS-Kunstbetriebs öffentliche Räume nach 1945 dominierten und bis heute dominieren.“

Die documenta spiegelt die Geschichte der Bundesrepublik

Seit ihrer Gründung 1955 war die international orientierte Großausstellung ein Ort, an dem das westdeutsche Selbstverständnis verhandelt wurde. Seitdem erhoben die Macherinnen und Macher alle vier, später fünf Jahre den Anspruch, Einblicke in aktuelle künstlerische Tendenzen zu geben. Das Deutsche Historische Museum stellt die Geschichte der ersten bis zehnten documenta erstmals in den Kontext der politischen, kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1955 und 1997. Kunstwerke, Filme, Dokumente, Plakate, Oral-History-Interviews und andere kulturhistorische Originalzeugnisse illustrieren über zwei Ausstellungsetagen, wie die documenta als Kunstereignis und zugleich als historischer Ort politisch-sozialen Wandel kommentiert, einfordert und widerspiegelt. Die Museumsgäste begegnen dabei berühmten documenta-Exponaten von Joseph Beuys, den Guerrilla Girls, Hans Haacke, Séraphine Louis, Wolfgang Mattheuer, Jackson Pollock, Emy Roeder oder Fritz Winter (wieder).

Seit 1955 präsentierte sich dem documenta-Publikum mit der künstlerischen „Moderne” eine Epoche, die in Deutschland bis 1945 als „entartet“ gegolten hatte. Das Programm, mit dem sich die Bundesrepublik ihren westlichen Partnern hier empfahl, speiste sich aus einer Vergangenheit, die man vorgab, überwinden zu wollen. Dabei war fast die Hälfte derjenigen, die an der Organisation der ersten documenta mitwirkten, Mitglied von NSDAP, SA oder SS gewesen. Zu ihnen zählte auch der Kunsthistoriker, wissenschaftliche Berater und Kurator Werner Haftmann, dessen NSDAP-Mitgliedschaft bereits auf dem DHM-Symposium „documenta. GESCHICHTE / KUNST / POLITIK” im Oktober 2019 thematisiert worden war. Werke jüdischer, emigrierter oder kommunistischer Künstlerinnen und Künstler waren in Kassel hingegen nicht vertreten. Für die Opfer von Verfolgung, Krieg und Massenmord schien kein Platz in der Erzählung vom vermeintlichen Neuanfang der nur scheinbar entpolitisierten Kunst der jungen Bundesrepublik.

Die documenta war eng an das politische Programm der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre gebunden. Sie spiegelte die Spannungen des Kalten Kriegs wider. Die ehemals diffamierte moderne Kunst stieg dank beträchtlicher Förderung und Indienstnahme von Seiten der Politik zur Staatskunst und damit zum Mittel der Anbindung an den „Westen” auf. Gerichtet war die Grossveranstaltung in „Zonenrandlage” zwar auch an ein ostdeutsches Publikum, ostdeutsche Kunst blieb jedoch unerwünscht. Ab der documenta 2 im Jahr 1959 galt die Abstraktion als Königsstil zeitgenössischer Kunst und Inbegriff künstlerischer Freiheit, während der sozialistische Realismus zur linientreuen Nicht-Kunst des „Ostens” erklärt wurde. Erst in den 1970er Jahren rückten im Zuge von Willy Brandts neuer „Ostpolitik” ostdeutsche und osteuropäische Künstlerinnen und Künstler in den Blick.

Die documenta machte Karriere als internationales Großereignis mit Festivalcharakter, bevölkert von jungen Menschen, die vor Ort mit Künstlerinnen und Künstlern diskutierten. Der Bildungsboom der 1960er Jahre trug maßgeblich zu ihrem Erfolg bei. In bildungsbürgerlichen Teilen des Publikums sorgte sie verlässlich für Irritationen bis hin zu Gegendemonstrationen. Die Marke „documenta” stieg in den folgenden Jahrzehnten endgültig zum Modell eines ebenso populären wie wirtschaftlich orientierten Kunstevents in einer globalisierten (Kunst-) Welt auf. Sie war immer wieder auch eine Plattform für politischem Aktivismus, wie nicht nur die feministische Künstlerinnengruppe Guerrilla Girls 1987 auf der documenta 8 eindrucksvoll bewies.

Die Ausstellung wird von Dr. Lars Bang Larsen, Dr. Alexia Pooth, Prof. Dr. Julia Voss und Prof. Dr. Dorothee Wierling unter der Projektleitung von Dorlis Blume vorbereitet.