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9. Oktober 2022 – 17. September 2023

Doris Salcedo
Palimpsest

Ab dem Herbst zeigt die Fondation Beyeler die raumgreifende Installation Palimpsest der international renommierten kolumbianischen Künstlerin Doris Salcedo. 1958 in Bogotá geboren, beschäftigt sich Salcedo in Objekten, Skulpturen und grossen ortsspezifischen Interventionen mit den Auswirkungen von Gewalt und Ausgrenzung in ihrer Heimat Kolumbien sowie in anderen Regionen der Welt. In Palimpsest widmet sich Salcedo den Flüchtenden und Migrantinnen, die in den letzten zwanzig Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben in Europa bei der gefährlichen Überquerung des Mittelmeers oder im Atlantik ertrunken sind. Palimpsest wird bis September 2023 in der Fondation Beyeler zu sehen sein, wo Doris Salcedo im Sommer 2023 eine grosse Einzelausstellung gewidmet sein wird.

Auf der Grundlage mehrjähriger Recherchen nähert Salcedo sich immer wieder Konfliktsituationen, in denen Gewalt und ihre Opfer allgegenwärtig sind. Die Künstlerin richtet ihr Augenmerk dabei auf den sich stets wiederholenden Kreislauf von Gewaltakten, Empörung, Erinnerung und Vergessen. Dabei gewinnt ihre Herangehensweise oft eine geradezu unheimliche Qualität, durch die sie die Abwesenheit der Menschen – Vermisste, Geflüchtete, Ermordete oder Vergessene – auf eindrückliche Weise zu thematisieren vermag. Salcedos Arbeiten, gleichermassen poetisch wie zerbrechlich, beschwören die Erinnerung an die Menschen, die mit ihrem Tod dem Vergessen anheimzufallen drohen, und sind eine Hommage an die Trauer der Lebenden.

In den Jahren zwischen 2013 und 2017 verloren über 15’600 Flüchtende und Migrantinnen auf dem Weg von Nordafrika, dem Nahen Osten, Irak, Afghanistan und Syrien vor den Küsten Griechenlands, Italiens und Spaniens ihr Leben. Fast fünf Jahre lang verfolgte die Künstlerin die internationale Berichterstattung und sprach mit Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer. Die erschütternden Geschichten und Schicksale sowie die tiefgreifenden Folgen jedes einzelnen Todesfalls für die Angehörigen und Freunde veranlassten sie, die Namen über 300 zu Tode gekommener Geflüchteten und Migrantinnen in einer Arbeit festzuhalten, welche dieser abstrakten Tragödie Ausdruck verleiht.

Der Titel des Ausstellungsprojekts geht auf das altgriechische Wort «Palimpsest» zurück, welches Manuskriptseiten bezeichnet, die im Verlauf der Antike und des Mittelalters mehrmals beschriftet, gereinigt und neu beschrieben wurden. Die Spuren der ursprünglichen Zeilen blieben dabei zum Teil unter der neuen Schrift sichtbar, was die Überlieferung der alten Texte erst ermöglichte. Doris Salcedos Palimpsest ist eine begehbare Installation aus sandfarbenen, porösen Bodenplatten. Das Werk besteht aus zwei sich überlagernden Namenszyklen Die Namen der während einer Fluchtbewegung vor 2010 Verstorbenen sind mittels feinen Sands farblich abgesetzt und in die Steinplatten eingelassen; jene der zwischen 2011 und 2016 Verstorbenen erscheinen darüber als sich zu Buchstaben verbindende Wassertropfen, die anschliessend wieder versickern, dies in einem ständigen Kreislauf von Einschreibung und Auslöschung. In der Fondation Beyeler wird Palimpsest im grössten Saal des Museums installiert. Auf rund 400 Quadratmetern werden 66 Steinplatten verlegt, auf denen 171 der insgesamt 300 Namen zu lesen sein werden.

Die Arbeit thematisiert die Unfähigkeit, kollektiv zu trauern, und hinterfragt, wie das Erinnern in Gesellschaften gelebt wird, die im Vergessen geübt sind und in denen jede neue Tragödie das Bewusstsein für die vorherige auslöscht. Die Installation spiegelt Salcedos kontinuierliche Beschäftigung mit dem Zusammenhang zwischen persönlichem Leid und dem öffentlichem Raum wider. Palimpsest ist daher auch als ein Ort der Begegnung und Trauer gedacht. Die Darstellungsformen der Künstlerin wecken bei den Betrachtenden universelle Empfindungen wie Empathie, Trauer und Verlust – eine ebenso zeitlose wie kulturübergreifende Erfahrung. Das angesichts aktueller politischer Missstände erwachende Verantwortungsgefühl, das Salcedo umtreibt, tritt in ihren Werken geradezu als eine Notwendigkeit zum Vorschein und verleiht diesen die Anmutung von Mahnmalen. Obwohl ihre Arbeiten häufig konkrete Ereignisse als Entstehungshintergrund haben, bieten sie Raum für persönliche Interpretationen und gewinnen eine universale Gültigkeit und Wirksamkeit.

Doris Salcedo zählt zu den wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart. Sie wurde 1958 in Bogotá, Kolumbien, geboren, wo sie auch heute noch lebt und arbeitet. Sie studierte zunächst Malerei und Kunstgeschichte an der Universität von Bogotá, dann in den frühen 1980er-Jahren Bildhauerei an der New York University. 1985 kehrte die Künstlerin nach Kolumbien zurück, wo sie auf zahlreichen Reisen innerhalb ihres Landes Überlebende und Angehörige von Opfern brutaler Gewaltübergriffe kennenlernte. Die dadurch bewirkte Sensibilisierung für die Themen Krieg, Entfremdung, Orientierungslosigkeit und Heimatverlust bildet seitdem die Basis ihrer Arbeit.

Salcedo sorgte unter anderem mit raumgreifenden Installationen wie Untitled, 2003, Shibboleth, 2007 oder Plegaria Muda, 2008–2010 für Aufsehen. Untitled, 2003, realisiert für die 8. Internationale Istanbul Biennale, bestand aus etwa 1550 Holzstühlen, die zwischen zwei Gebäude gestapelt wurden, und die die Geschichte von Migration und Vertreibung in Istanbul thematisierten. Für Shibboleth, 2007, schuf sie in der Turbine Hall der Tate Modern, London, eine felsspaltenartige Kluft, die sich durch den ganzen Raum zog und damit Ab- und Ausgrenzung aber auch Trennung räumlich erfahrbar machte. Mit seinen sargähnlich aufeinandergestapelten Tischen, durch deren Böden zarte Grashalme spriessen, lässt Plegaria Muda, 2008–2010, an einen frisch angelegten Friedhof denken und gemahnt sinnbildlich der Tausenden von Zivilisten, die in Kolumbien in den vergangenen Jahren verschwunden und vermutlich getötet worden sind. Das Museum of Contemporary Art Chicago präsentierte 2015 die erste Retrospektive der Künstlerin. Dieses Jahr ist ihr eine Soloausstellung in Glenstone, Maryland gewidmet. In der Fondation Beyeler war Doris Salcedo 2014 in einer Sammlungspräsentation mit Werken aus der Daros Latinamerica Collection vertreten.

Palimpsest wurde 2017 im Palacio de Cristal, vom Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid gezeigt und danach bei White Cube in London. Die eindrückliche Installation wird nun parallel zur grossen Sammlungsausstellung anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Fondation Beyeler erstmals im deutschsprachigen Raum präsentiert. Im Jahr 2023 widmet die Fondation Beyeler Doris Salcedo eine umfassende Ausstellung, in welcher wichtige Werke aus unterschiedlichen Schaffensperioden der Künstlerin gezeigt werden.

Palimpsest wird in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin Doris Salcedo, ihrem Studio und White Cube, London, realisiert. Projektleiterin ist Fiona Hesse, Associate Curator an der Fondation Beyeler.

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25 Jahre Fondation Beyeler. 2022 feiert die Fondation Beyeler ihr 25-jähriges Bestehen. Das Museum in Riehen bei Basel ist international bekannt für seine hochkarätigen Ausstellungen, seine bedeutende Sammlung der klassischen Moderne und der Gegenwartskunst sowie sein ambitioniertes Veranstaltungsprogramm. Das von Renzo Piano entworfene Museumsgebäude ist idyllisch im Park mit seinem alten Baumbestand und den Seerosenteichen gelegen. Die Lage inmitten eines Naherholungsgebiets mit Aussicht auf Kornfelder, Kuhweiden und Rebberge an den Ausläufern des Schwarzwalds ist einzigartig. Im angrenzenden Park realisiert die Fondation Beyeler mit dem Schweizer Architekten Peter Zumthor einen Museumsneubau und verstärkt so die harmonische Verbindung von Kunst, Architektur und Natur.