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Das Bild, das Abbild, der Abdruck und die Abnahme sind Dorothee von Windheims Themen. In Rheinsberg präsentiert sie erstmals den Zyklus „basia mille“ (2003–2015), der alltägliche Hinterlassenschaften der Künstlerin in Gestalt von Abdrücken ihrer geschminkten Lippen umfasst. Sie materialisiert diese Abdrücke, die sonst übersehen oder beseitigt werden, durch die Vervielfältigung von Trägerobjekten mit Lippen-Spuren oder konserviert die Abdrücke auf Dauer. Dazu setzt sie sich auch mit Texten ihres ‚Gastgebers’ Kurt Tucholsky auseinander.

Dorothee von Windheim beschreibt ihre Arbeitsweise mit „Bild – Abbild – Abdruck – Abnahme. Von der Imagination zur Realität – und umgekehrt“. Diese Art der künstlerischen Vervielfältigung und des Festhaltens von Bildern, Objekten sowie emotionalisierten menschlichen Bewegungen und Regungen steht auch im Zentrum der Ausstellung SELBSTBILDEND („Eine Zeitaufnahme war beabsichtigt, …“). Der Werkkomplex basia mille, den die Künstlerin nun erstmals vorstellt, gehört wohl zu den persönlichsten ihrer Art. Am Anfang der Reflexion über dieses Thema standen „Aufzeichnungen der Erinnerung an gegebene und nicht gegebene Küsse, an hinterlassene und nicht hinterlassene Spuren . . . und das daran zu erahnende Wechselspiel zwischen Intimität und Norm“, beschreibt von Windheim.

„Gib mir tausend und hunderttausend Küsse,
Noch ein Tausend und noch ein Hunderttausend,
Wieder tausend und aber hunderttausend!

Sind viel tausend geküsst, dann mischen wir sie
Durcheinander, dass keins die Zahl mehr wisse
Und kein Neider ein böses Stück uns spiele,
Wenn er weiß, wie der Küsse gar so viel sind.“

Eduard Mörike nach Catull (84 – 53 v. Chr. )

Der Text von Catull, hier in der Übersetzung von Eduard Mörike, diente Dorothee von Windheim als Inspirationsquelle für den Titel basia mille. Dem Kuss scheint demnach Magie und Geheimnis inne zu wohnen, denn er ist nicht immer von Liebe erfüllt. Tausend Küsse können nicht durchweg von gleichbleibender Qualität, Intensität und Konstanz sein. „Geht es um Quantität oder Qualität?“ fragt sich der Betrachter wohl, denn viele Küsse sind nicht unbedingt gute Küsse. In der Bibel wird der Kuss als Zeichen für Verrat, Verehrung und Verbundenheit verstanden. Bei Catull bzw. Mörike sowie Kurt Tucholsky – auf dessen Bilderbuch für Verliebte (1912) sich das geklammerte Titelzitat bezieht – und heute, im 21. Jahrhundert, werden durch den Kuss Gedanken an Liebe und Erotik, kindliche Liebe, Abschied und Begrüßung, Berührungen und damit auch Hinterlassenschaften hervorgerufen. Der Kuss, und alles, was ihn umgibt, scheint ein zeitloses Medium des emotionalen Ausdrucks und der persönlichen Signatur zu sein.

Tausend Küsse beginnt mit den Kussabdrücken in der Betrachtung und beim Festhalten von alltäglichen Hinterlassenschaften in Gestalt von Abdrücken geschminkter Lippen. Windheim hat schon früh, damals noch in kindlicher Neugierde, Lippen gerötet. Die Lippenabdrücke werden im Alltag üblicherweise übersehen, gänzlich vermieden, mit Tüchern abgetupft, von Ess- und Trinkgeräten als unangenehme Reste beseitigt oder heute als Werbebild gefeiert. Im zweiten Schritt versucht die Künstlerin dann „anhand von Abdrücken“ ihre „Reflexion über Selbstvergewisserung zu visualisieren und zu materialisieren“. Durch Vervielfältigung von Abdruckträgerobjekten wird diese Materialisierung von Spuren ad absurdum geführt. Auf Porzellanbechern und Petits Fours, ebenfalls Träger von Abdrücken, werden die Lippenspuren konserviert, restauriert und damit besonders kostbar – oder: ebenso absurd. Der flüchtige individuelle Kussmund begegnet dem Besucher in der Ausstellungen vielfach bis hin zum eigens angefertigten Kussmundstempel. Hier treffen – wie in vielen anderen Werkkomplexen der Künstlerin – Bildwerdungsprozesse aufeinander, befruchten und ergänzen sich, indem sie das Eigene und das für die Künstlerin Fremde vereinen. „Gemeint sind damit solche Prozesse, die auf übernatürliche Weise etwas entstehen lassen genauso wie solche, hinter denen keine künstlerische Absicht steht oder solche, die sich von selbst ereignen.“ (D. v. Windheim, 2010). Die Angesichter in Jacquard-Gewebe, die in den Stoff eingewebt und damit beidseitig sichtbar sind, entstehen aus vergänglichen Bildern, die im öffentlichen Raum in Platanenstämme geritzt wurden. Die Künstlerin entdeckte im Jahr 2000 diese Baumbilder nach ihrer Reise zum einem der „wahren Tücher“ mit dem auratischen Antlitz Christi im italienischen Manopello. Die Immaterialität der Fotografie und des Abdruckes mit Gazetüchern der vergänglichen Abbilder in Baumrinden forderten von der Künstlerin die Suche nach einem Material, dem Jacquard-Gewerbe, das spontan entstandene Bilder vervielfältigt und abbildet: „Halb nicht von Menschen – halb nicht von Künstlerhand geschaffen“ (D. v. Windheim 2010). (Anke Hervol)

Zur Ausstellungseröffnung sprechen Peter Böthig, Wulf Herzogenrath und Hubertus von Amelunxen.

Eine Kooperation der Akademie der Künste und des Kurt Tucholsky Literaturmuseum Schloss Rheinsberg