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Wie ein Zimmer mit einer besseren Aussicht

Das banale Leben kann eine so einnehmende Erfahrung sein, dass man nicht weiß, wohin man sie ablegen soll. In seinem Internettagebuch „Abfall für alle“ benennt der Autor Rainald Goetz in Hinblick auf diesen Umstand sein künstlerisches Kriterium: „alles ist Text“ – egal, was sich im Leben ereignet, es ist aufzeichnungswert. Nicht die intentionale Entscheidung über ein Sujet oder dessen bewusste Durchdringung geben so Aufschluss über den Zusammenprall zwischen dem Ich und der Welt, sondern die kontinuierliche Darstellung des Ist-Zustands. Die Beschreibung der „Banalität der Dämonie des Alltags“ (Goetz), lässt sich als Ort der „Ablage“ für die tagtägliche, persönliche Erfahrung „in der Welt zu sein“ verstehen. Es geht hier wohl weniger um den Versuch, ein Modell für das Leben zu schaffen, als eher ein erzählerisches Instrument zu entwickeln, mit dem sich die Möglichkeit eröffnet, den Kontext des Seelischen aufzuzeichnen und zu deuten.

Esther Ernst lehnt sich mit einer Arbeit, die sie seit Jahren kompromisslos verfolgt, an das literarische Genre des Tagebuchs an. In einer Tag für Tag wachsenden Anzahl von Zeichnungen schafft sie eine visuelle Bestandsaufnahme ihrer persönlichen Alltagserfahrungen. Es ist im Goetzschen Sinne kein Tagebuch, das Einblicke in besondere Vorkommnisse gibt, vorsätzlich fiktionalisiert oder portraitiert, sondern Szenen und Szenarien des Banalen zum Gegenstand hat. Die Bilder des eigenen Lebens entstehen unter der selbst auferlegten Regel, mindestens eine Zeichnung pro Tag zu erstellen. Unter dieser methodischen Voraussetzung ist es eine Ausdrucksform, die sich gleichermaßen verselbständigt, wie sie auch das Prinzip „alles ist Zeichnung“ garantiert – die Dinge werden nicht nachträglich verändert oder zu mehr gemacht, sondern so aufgezeichnet, wie sie „unmittelbar“ erfahren wurden. Das gezeichnete Tagebuch ist geprägt durch die subjektive Wahrnehmung eines Moments, durch den nicht wiederkehrenden Augenblick – es wächst und verändert sich mit jedem Tag, an dem es entsteht.

Esther Ernsts Zeichnungen erinnern im Sinne dieser Vorgehensweise an Schnappschüsse, über die Nan Goldin einmal sagte, es sei „die Form der Fotografie, die sich am stärksten durch Liebe definiert.“ Vielleicht ist damit auch gemeint, dass durch ein spontan ausgelöstes Bild – von Orten, Erlebnissen, Begegnungen mit Menschen und Artefakten – impulsiv biografische Bezüge in einen visuellen Wert verwandelt werden. So sind auch die gezeichneten „Schnappschüsse“ von Esther Ernst Reaktionen auf äußere Bedingungen und Geschehnisse, jedoch behandeln sie die Auswirkungen der Außenwelt auf das innere Leben und testen auf dem Papier die Möglichkeit seiner bildlichen Darstellung aus. Die Motive der Zeichnungen sind geprägt durch die Intimität dieser Innenweltbilder – anstelle einer hyperrealistischen Wiedergabe entsprechen sie eher einer Art zu zeichnen, wie man denkt. So sind sie auch unterschiedlich präzise ausformuliert. Mal wirken sie melancholisch, paranoid oder „normal“. In Esther Ernsts Bildkontinuum haben sowohl die Leichtathletik EM im Fernsehen, der Besuch beim Zahnarzt, das Rumstehen auf einer Eröffnung, die Sicht auf eine Landschaft, sowie etliche potentiell peinliche oder intime Momente ihren Platz.

Gleichzeitig Teil des Zusammenhangs zu sein und ein Bild von eben diesem zu schaffen, erfordert einen spielerischen Umgang mit der eigenen Position, die zwischen dem Gefühl der Entfremdung und dem der Zugehörigkeit zu changieren scheint. Die stilistische Erscheinung der Zeichnungen entspricht dabei der „Unmittelbarkeit“ der Erfahrung. In schnellen Strichen oder groben Markierungen wird eine Szene reduziert angedeutet, manchmal verflüchtigt sie sich in Farbfeldern und Mustern, ein anderes Mal ist sie ein klar konturierter Raum. Die Masse der Tagebuchzeichnungen funktioniert wie ein Bild-Album, das weniger der künstlerischen Abstraktion der eigenen Erinnerungen dient, noch konkrete Geschichte aufdeckt, sondern auch unsere persönlichen Beziehungen zur visuellen Welt befragt.

Circa 2500 dieser Tagebuch-Zeichnungen präsentiert Esther Ernst auf elf kleinen, mit Linoleum bezogenen Holztischen, die in einem schrägen Winkel von der Wand installiert sind. Auf ihnen sind schwarze Archivlampen befestigt und handelsübliche Bundesordnerbügel montiert. In Sichthüllen stecken Zeichnungen, die alle im einheitlichen DIN A5 Format sind, und sich so einzeln durchblättern lassen. Das Setting, mit dem die Zeichnungen im Ausstellungsraum präsentiert werden, erinnert an den Leseraum einer Bibliothek. Der objektivierende Blick des Wissenschaftlichen, dessen Anwesenheit eine solche Umgebung vermuten lässt, steht in einem Spannungsverhältnis zu dem intimen Ausdruck, der die Zeichnungen ausmacht. Es wirkt als würde eine rückwirkende Distanzierung stattfinden und eine Skepsis dem eigenen „authentischen“ Material gegenüber formuliert.

Es öffnet sich dadurch ein weiterer Raum, der zwischen dem Ich und der Darstellung des Persönlichen angesiedelt ist. Den wird bei der Eröffnung Tim Staffel füllen und über Esther Ernsts Biografie sprechen. Er tut das nicht als Chronist, sondern als Autor und wirft damit die Frage auf, ob nicht alles doch ganz anders war. Das banale Leben als Gegenstand der Kunst ist hier weniger Mittel der Selbstvergewisserung, als viel mehr Auslöser für die Schaffung eines Berichts, der eine Verbindung zur Welt herstellt und auch für den Betrachter wie ein Zimmer mit einer besseren Aussicht funktioniert.

Mirjam Thomann Pressetext