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Der Maler Ernst Wilhelm Nay gehört zu den bekanntesten deutschen Nachkriegskünstlern. Seine abstrakten Gemälde sind in nahezu allen wichtigen öffentlichen und privaten Sammlungen zu jener Epoche vertreten. Weniger bekannt und bisher noch weitgehend unterschätzt jedoch ist Nays Spätwerk der 1960er-Jahre, das vor allem in den Jahren nach Nays Teilnahme an der documenta III im Jahr 1964 bis zu seinem Tod 1968 entstanden ist. Die Ausstellung in der Schirn konzentriert sich mit etwa 30 großformatigen Gemälden und 86 Arbeiten auf Papier erstmals auf dieses Spätwerk und entdeckt einen Künstler, der mit seinen über den Bildraum hinausweisenden dynamisch-flächigen Formen und klaren Farben keineswegs historisch, sondern überraschend aktuell wirkt. Zudem rekonstruiert die Ausstellung den spektakulären Nay-Raum der documenta III im Jahr 1964, in dem drei großformatige Werke des Künstlers von der Decke abgehängt als Environment präsentiert wurden.

Die Ausstellung „E.W. Nay. Bilder der 1960er Jahre“ wird durch die Bank of America gefördert.

Ernst Wilhelm Nay (1902 Berlin – 1968 Köln) zählte spätestens ab Mitte der 1950er-Jahre zu den renommiertesten Vertretern der abstrakten Malerei in Deutschland. Seine Beschäftigung mit Malerei begann als Autodidakt. Nachdem er sich 1924 mit drei Bildern bei Karl Hofer vorgestellt hatte, wurde er von Hofer als Stipendiat in seine Malklasse an der Hochschule für bildende Künste in Berlin aufgenommen, wo Nay sein Studium 1928 als dessen Meisterschüler beendete. Nach Sommeraufenthalten an der Ostsee entstand ab Mitte der 1930er-Jahre Nays erste große Werkgruppe der Dünen- und Fischerbilder, kraftvolle dynamische Kompositionen mit stilisierten Landschaften und Figuren. 1937 wurden bei der Aktion „Entartete Kunst“ zehn Werke Nays von den Nationalsozialisten aus öffentlichem Besitz beschlagnahmt. Nay wurde in Deutschland mit Ausstellungsverbot belegt. Von 1940 bis 1945 nahm Nay am Zweiten Weltkrieg teil, fand jedoch unter strenger Geheimhaltung immer wieder Gelegenheit zu malen. Nach dem Krieg lebte Nay bis 1951 in Hofheim im Taunus, wo er auf Vermittlung von Hanna Bekker vom Rath ein Atelierhaus beziehen konnte. Hofheim und das Blaue Haus waren bereits vor und dann auch nach dem Krieg Treffpunkt moderner Künstler und ihrer Anhänger. Hier entstanden die vorwiegend kleinformatigen Hekate-Bilder, deren expressive abstrakte Formen mit eingewobenen Figuren- und Landschaftsassoziationen Nay in der darauf folgenden Phase zugunsten von klar konturierten Formen aufgab. Im Jahr 1951 zog Nay mit seiner zweiten Frau Elisabeth nach Köln, das bis zu seinem Tod sein Lebensmittelpunkt blieb. Eine seiner stärksten Werkphasen begann 1954 mit den Scheibenbildern, mit denen ihm nicht nur den Durchbruch in Europa mit Teilnahmen an den ersten drei documenta-Ausstellungen und der Biennale in Venedig, sondern auch in den USA gelang. In den Scheibenbildern löste sich Nay von allen eckig-kantigen Formen. In kristallklarer, heller Farbigkeit komponierte er große und kleine Scheiben und ihre Zwischenformen zu einer bewegten Farbchoreografie auf der Fläche. Auf die Werkgruppe der Augenbilder, die ab 1963 entstand und deren Höhepunkt die Arbeiten für die documenta III im Jahr 1964 darstellen, folgte ab 1965 die letzte Werkphase der Elementaren Bilder, die durch Nays Tod 1968 beendet wurde.

Die Ausstellung in der Schirn konzentriert sich ganz auf Nays wenig bekanntes Spätwerk, das hauptsächlich in den Jahren von der documenta III bis zu seinem Tod entstand. Einer der Gründe für die mangelhafte Kenntnis seines Spätwerks liegt in der Rezeptionsgeschichte. Eine aus heutiger Sicht weitgehend unverständliche Debatte, die durch den Maler und Kunstkritiker Hans Platschek ausgelöst wurde, setzte nach Nays Teilnahme an der documenta III ein. Platschek griff Nay in einem polemischen Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit vom 4. September 1964 an; zahlreiche Kommentare und Stellungnahmen sowohl von Nay-Anhängern als auch von seinen Gegnern schlossen sich an. Kern der Vorwürfe war unter anderem Nays herausgehobene Position auf der documenta III, bei der die drei großformatigen Augenbilder nicht nur in einem gesonderten Raum, sondern spektakulär von der Decke hängend präsentiert wurden. Dass die Idee zu dieser Hängung von Arnold Bode, dem Leiter der documenta, und nicht von Nay selbst ausging, störte die Kritiker in ihren Angriffen nicht. Betrachtet man die übrigen Formulierungen und wenig stichhaltigen Argumente Platscheks näher – z. B. dass Nays Scheibenbilder „nichtssagend“ oder Ausdruck einer „rückgerichteten Utopie“ seien –, fällt es heute schwer, diese Angriffe so ernst zu nehmen, wie es damals offenbar geschah. Die Folgen dieser Debatte waren jedenfalls nicht nur für Nay persönlich belastend, sondern wirkten sich auch auf die öffentliche Wahrnehmung seiner nach der documenta entstandenen Elementaren Bilder aus.

Einige wichtige und einflussreiche Freunde und Unterstützer von Nays Werk – wie der Kunstkritiker Will Grohmann, der Galerist Günther Franke, der documenta-Leiter Arnold Bode, Werner Haftmann, späterer Direktor der Neuen Nationalgalerie Berlin, oder Arnold Rüdlinger, Leiter der Kunsthalle Basel – nahmen die letzte Werkphase Nays positiv auf und betrachteten sie als interessante Weiterentwicklung seines lebenslangen Konzepts. Andere Kritiker und besonders Privatsammler konnten Nay auf seinem neuen Weg aber nicht mehr folgen – zu radikal erschien ihnen der stilistische Wandel im Spätwerk. So befinden sich bis heute im Vergleich zu Nays wesentlich bekannteren Werkgruppen der 1950er- und frühen 1960er-Jahre, den Scheibenbildern und den Augenbildern, weitaus weniger späte Werke in Museen und privaten Sammlungen. Die Augenbilder entstanden durch das Hinzufügen horizontaler Elemente bzw. das „Durchstreichen“ der Scheiben, sodass beim Betrachter die Assoziation von Augen aufkam, obwohl sich Nay bereits Anfang der 1950er-Jahre ganz der reinen Abstraktion zugewandt hatte.

Waren die Augenbilder, zu denen auch die in der Schirn präsentierten documenta-Gemälde zählen, noch voll räumlicher Elemente, Expressivität und gegenständlicher Assoziation, so wirken die Elementaren Bilder mit ihren großflächigen grafischen Formen einfach und komplex zugleich. Mit den Elementaren Bildern vollzog Nay ab 1965 den letzten, entscheidenden stilistischen Wandel in seinem Werk. Vegetabile und anthropomorphe Formen wechseln ab, dazu kommen Spindeln, Ketten, ovale Scheiben, Farbbänder und Bogenmuster. Die Zweidimensionalität, der Verzicht auf illusionistische Bildräume, erzeugt Positiv- und Negativformen, Eingrenzendes und Ausgrenzendes. Auch die Malweise veränderte sich hin zu einem besonders dünnen, lasierenden und die Klarheit steigernden Farbauftrag. Zusätzlich entwickelte Nay seine Farbpalette hin zu kühlen und gemischten Farben in manchmal kühnen Kombinationen wie Lila-Zitronengelb oder Blaugrün-Schwarz-Weiß. Durch das Stehenlassen der weißen Grundierung bilden sich weiße Muster und Ornamente. Schmale Ellipsen, gezackte Kanten und die Reduktion auf drei der Primär- bzw. Nichtfarben erzeugen dynamische und kontrastreiche Kompositionen, die sich optisch über die Bildränder hinauszubewegen scheinen.

„Bilder kommen aus Bildern“ ist ein Zitat Nays, das ganz besonders auf die Gruppe der Elementaren Bilder zutrifft. Der serielle Charakter, der Nays Arbeitsweise von Anfang an bestimmte, findet hier seinen Höhepunkt. Vieles in diesen Gemälden das Ausgreifen in den Umraum, die monumentale Flächigkeit scheint vorwegzunehmen, was später bei den um eine Generation jüngeren Hard-Edge-Malern zu beobachten ist. Nay seinerseits wurde wiederum von den Scherenschnitten von Henri Matisse beeinflusst.

Neben dem rekonstruierten documenta-Raum und den Elementaren Bildern des Spätwerks zeigt die Schirn als dritte Besonderheit erstmals eine umfangreiche Auswahl von Nays insgesamt über 2500 Bleistift-, Filzstift- und Tuschezeichnungen aus seinem Spätwerk. Die meisten dieser hauptsächlich im DIN-A4-Format entstandenen Zeichnungen sind lineare Strukturen in Schwarz. Ein unendlicher Fluss von Ideen schien aus Nay herauszuquellen: Manche wirken wie direkte Vorzeichnungen zu den elementaren Gemälden, viele tragen Zahlen oder Farbbezeichnungen am Rand. Doch es fällt auf, dass sich Nay fast nie exakt an die Skizze hielt. In der Zusammenschau wirken die Zeichnungen ausgesprochen zeitlos.

Kein anderer deutscher Maler der 1960er-Jahre hat sein Thema mit solcher Intensität variiert wie E.W. Nay. Das Prinzip des „roten Fadens“, des Wiederaufgreifens grundsätzlicher Methoden, des unablässigen Veränderns, um trotzdem dasselbe zu suchen und den eigenen Weg konsequent zu verfolgen, war typisch für ihn. Nay wollte, dass seine Kunst über alle Phasen hinweg „dynamisch und gegenwärtig“ sei. Sein wichtigster Wert als Künstler war Freiheit, und diese bestand für ihn darin, sich von religiösen, formalen oder ideologischen und damit einengenden Regeln fernzuhalten. Auch deshalb wechselte er von Zeit zu Zeit zu neuen Werkserien, immer in der Angst, mit einer erfolgreichen Phase in lähmende Routine zu verfallen.

Nay gehörte einer Generation an, die mit den Texten von Friedrich Nietzsche und Gottfried Benn besonders vertraut war. Das Bild des Künstlers, das darin gezeichnet wurde, entsprach dem eines freien und unabhängigen Außenseiters, eines Nichtkorrumpierbaren und Ausnahmemenschen. Kunst hatte die Religion weitgehend ersetzt und nahm in Nays Weltbild einen ähnlich hohen Stellenwert ein. „Gegen die Geometrie, gegen die Illusion, gegen den Mythos“ fasste Nay selbst 1968 kurz vor seinem Tod seine Philosophie als Maler zusammen. In diesem Sinn können seine Werke aus den Jahren 1965 bis 1968 als Höhepunkt einer viele Jahre andauernden Entwicklung angesehen werden.

Zweite Station: Haus am Waldsee, Berlin (7. Mai – 5. Juli 2009).

KATALOG: E.W. Nay. Bilder der 1960er Jahre. Herausgegeben von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Elisabeth Nay-Scheibler, Ingrid Pfeiffer und Katja Blomberg. Deutsch-englische Ausgabe, ca. 128 Seiten, ca. 185 Abbildungen, Hirmer Verlag, ISBN 978-3-7774-6065-9.

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Ernst Wilhelm Nay
BILDER DER 1960ER JAHRE

Kuratorin: Ingrid Pfeiffer

Stationen:
22.01.09 - 26.04.09 Schirn Kunsthalle, Frankfurt
07.05.09 - 05.07.09 Haus am Waldsee, Berlin