press release only in german

Der Irre war eine zentrale Figur im Ideenfundus der Expressionisten. Was steckt hinter der Beschäftigung mit dem Thema Wahnsinn bei einer Künstlergeneration, die selbst immer wieder der Diffamierung als geisteskrank ausgesetzt war, schon lange bevor die Nazis ihr mit der Femeschau Entartete Kunst den vernichtenden Schlag versetzen wollten? Die Ausstellung Expressionismus und Wahnsinn lotet mit rund 180 Exponaten erstmals das Verhältnis bildender Künstler des Expressionismus zum Phänomen Wahnsinn aus und nimmt deren Faszination für psychische Krankheit und die sogenannte Bildnerei der Geisteskranken in den Blick. Daneben präsentiert die Ausstellung einige künstlerisch tätige Patienten psychiat-rischer Anstalten – deren Werke damals entdeckt wurden – und stellt sie als Zeitgenossen der Expressionisten vor.

Expressionismus und Wahnsinn setzt die Reihe erfolgreicher Ausstellungen zu Aspekten des Expressionismus fort, die Schloß Gottorf in den letzten Jahren gezeigt hat. Als Kurator konnte Dr. Thomas Röske, Leiter der Sammlung Prinzhorn, gewonnen werden; diese ist eine historische Sammlung von künstlerischen Werken psychisch Kranker, die der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg angeschlossen ist.

Die Ausstellung auf Schloß Gottorf hat zwei Vorläufer: Parallel Visions, 1991/92 im Los An-geles County Museum und in der Kunsthalle Basel zu sehen, und Kunst und Wahn, von Peter Gorsen 1997 für die Kunsthalle der Bank Austria in Wien zusammengestellt. In beiden wurde, mit Blick auf das 20. Jahrhundert sowie die westliche Welt, sogenannte Hochkunst der Kunst von Psychiatriepatienten und anderen gesellschaftlichen Außenseitern gegenübergestellt, um Beeinflussungen oder kreative Parallelprozesse nachzuweisen. Kunst und Wahn zeigte außerdem eine Reihe von Werken professioneller Künstler, die Wahnsinn thematisieren. Obgleich in beiden Fällen umfangreiche Kataloge erschienen, konnte wegen des Materialumfangs keine vertiefte sozialgeschichtlich kontextualisierende Analyse geleistet werden. Die Schau Expressionismus und Wahnsinn konzentriert sich demgegenüber auf ein überschaubares historisches und geographisches Gebiet – in dem überdies die ersten gro-ßen wissenschaftlichen Abhandlungen über künstlerische Werke von Psychiatriepatienten verfaßt wurden (siehe v.a. das Buch ”Bildnerei der Geisteskranken” von Hans Prinzhorn aus dem Jahre 1922). Die Ausstellung macht die eingehende Untersuchung der Kunstwerke zu ihrem Hauptanliegen. Dabei wird die Haltung der Künstler des Expressionismus gegenüber dem Wahnsinn ausgelotet. Viele von ihnen waren fasziniert vom Irren in seinem Abseits von gesellschaftlichen Konventionen und identifizierten sich mit ihm, fürchteten sich aber zugleich, durch mißliebige, konservative Kritiker in eine allzu große Nähe zum Irren gebracht zu werden. So blieb ihr geäußertes Urteil oft ambivalent. Die Ausstellung gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil veranschaulicht anhand einer Gruppe von mehr als 50 Gemälden, Zeichnungen und Druckgraphiken, in welcher Weise sich Expressionisten der ersten und zweiten Ge-neration (zwischen 1905 und 1935) mit dem Wahnsinn als Bildthema auseinandergesetzt haben. Dafür ist vor allem die Stellung der Anstaltspatienten am Rande der Gesellschaft wichtig, mit der sich Künstler identifizierten. Über die Jahrzehnte zeigt sich eine deutliche Entwicklung in der Haltung zum Irren, für welche die Kriegseindrücke, aber auch Verände-rungen der Mediziner gegenüber psychisch Kranken verantwortlich sind. Gezeigt werden Werke von Alfred Kubin, Erich Heckel, Conrad Felixmüller, Christian Schad (aus der Zeit vor seinen neusachlichen Porträts, die ihn berühmt machten), Otto Dix, Walter Gramatté, Heinrich Ehmsen und Elfriede Lohse-Wächtler.

Der zweite Teil der Ausstellung stellt einige künstlerisch tätige Patienten psychiatrischer An-stalten der Zeit (vornehmlich Deutschlands und der Schweiz) als Zeitgenossen der Expressi-onisten vor. Gezeigt werden jeweils 8 bis 14 Werke von Else Blankenhorn, Franz Karl Bühler, Paul Goesch und Johann Faulhaber. Außerdem sind Zeichnungen des Schwedischen Künstlers Ernst Josephson aus der Zeit seiner psychischen Erkrankung zu sehen, die seit 1909/1910 großen Eindruck auf viele expressionistische Künstler gemacht haben. In diesem Teil der Ausstellung geht es darum, die Entdeckung dieser Patientenkünstler im Expressio-nismus nachzuzeichnen, und deren Werke historisch zu kontextualisieren, zu zeigen, daß diese angeblich vollkommen in sich eingeschlossenen Menschen durchaus auf ihre Zeit rea-giert haben - allerdings in einer Weise, die zugleich eingeschränkter und freier ist als die ihrer geistig gesunden Kollegen. Dabei wird nicht geleugnet, daß die Krankheit Einfluß hatte, insbesondere auf die Ideenwelt, die sich in den Werken spiegelt. Doch ist mit Blick hierauf bisher zumeist vorschnell geschlossen worden, daß es für den geistig gesunden Betrachter keinen Zugang jenseits psychologischer Analyse gäbe. Auch in den beiden oben genannten Ausstellungen wurde zu wenig Wert auf eine eingehende interpretierende Darstellung der Werke von sogenannten Outsider-Künstlern gelegt. Das stilistische Moment des Expressiven ist ein augenfälliger Vergleichspunkt bei der Gegenüberstellung mit Hochkunst der Zeit.

Der dritte Teil veranschaulicht vor allem den Einfluß von Werken einiger Psychiatriepatienten auf Künstler des Expressionismus anhand von drei Gegenüberstellungen: Ernst Ludwig Kirchner und Else Blankenhorn, Emil Nolde und Ernst Josephson, Alfred Kubin und Franz Karl Bühler. Die Beschäftigung dieser Expressionisten mit dem Thema Wahnsinn war nicht oberflächlich. So stand etwa Nolde spätestens ab 1912 im Austausch mit Hans Prinzhorn, half diesem später auch mit Material und Hinweisen für seine Bücher Bildnerei der Geistes-kranken und Bildnerei der Gefangenen (1926). Kirchner setzte sich 1924 kritisch mit Prinz-horns erstem Buch auseinander und verglich auch später noch Werke von Künstlerkollegen mit den Eindrücken, die er 1917/18 bei seinem Aufenthalt im Nerven-Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen gesammelt hatte. Kubin besuchte die Heidelberger Sammlung 1920, tauschte Bildgeschenke mit deren Leitern aus und verfaßte 1922 einen Bericht über seine Erlebnisse für eine Kunstzeitschrift. Dieser dritte Teil der Schau ist sicherlich der originellste, zumal die vorgeschlagenen Konfrontationen neu sind und bislang weder in Ausstellungen gezeigt noch in der Literatur behandelt wurden. Hinzu kommt, daß gerade die Werke Else Blankenhorns, Franz Karl Bühlers und Ernst Josephsons von faszinierender Qualität sind.

only in german

Expressionismus und Wahnsinn
Ort: Schloß Gottorf - Kreuzstall

Künstler: Alfred Kubin, Erich Heckel, Conrad Felixmüller, Christian Schad, Otto Dix, Walter Gramatté, Heinrich Ehmsen, Elfriede Lohse-Wächtler, Else Blankenhorn, Franz Karl Bühler, Paul Goesch, Johann Faulhaber, Ernst Josephson, Ernst Ludwig Kirchner, Emil Nolde ...