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KOLLABORATIV, EMANZIPATORISCH, WIDERSTÄNDIG: DIE SCHIRN PRÄSENTIERT DIE FOTOGRAFIEN DER KÜNSTLERIN GAURI GILL IN EINER ERSTEN GROSSEN ÜBERBLICKSAUSSTELLUNG

GAURI GILL
ACTS OF RESISTANCE AND REPAIR
13. OKTOBER 2022 – 8. JANUAR 2023

Abseits der urbanen Zentren Indiens erkundet die Fotografin Gauri Gill (*1970) seit über zwei Jahrzehnten das Leben und den Alltag der ländlichen Bevölkerung. Dem vielschichtigen fotografischen Schaffen der Künstlerin widmet die Schirn Kunsthalle Frankfurt vom 13. Oktober 2022 bis zum 8. Januar 2023 erstmals eine große Überblicksausstellung und versammelt rund 240 Werke aus zentralen Serien.

Gills stille, konzentrierte Bilder richten den Blick auf kaum wahrgenommene Randbereiche der indischen Gesellschaft. In einem offenen, kollaborativen Prozess und entgegen dokumentarischen Konventionen widmet sich die Künstlerin Themen wie Überleben und Selbstbehauptung, Identität und Zugehörigkeit, aber auch konzeptuellen Fragen nach Erinnerung und Autorschaft. Die Dimension der Zeit und serielle Kontinuität sind ebenso wie Beharrlichkeit und Empathie entscheidende Faktoren ihrer künstlerischen Praxis, in der sie überkommene Narrative und Stereotype überwinden möchte. Im dialogischen Gebrauch der Kamera sowie im intensiven persönlichen Austausch über Klassen, Religionen und Generationen hinweg erforscht die Künstlerin dabei auf der Suche nach Vielstimmigkeit eine neue Form des „kollektiven Sehens“.

Fundament von Gills Arbeit und Ausgangspunkt mehrerer Fotoserien ist das archivarische Langzeitprojekt Notes from the Desert, in dem sie sich seit 1999 den marginalisierten Gemeinschaften Rajasthans im westindischen Grenzgebiet widmet. Hier wie in ihrem gesamten Werk bringt die Künstlerin insbesondere ihre freundschaftlichen Beziehungen zu Frauen in persönlichen Porträts zum Ausdruck. Als Gegenpol zu ihren Projekten in der Wüste widmet sich die Fotoserie The Americans (2000–2007) der vielfältigen Lebenswelt der indischen Diaspora in Hinblick auf Migration, Heimat und kulturelle Verbundenheit. Die Ausstellung in der Schirn zeigt zudem Gills kollaborativen Ansatz, u. a. in der Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern aus ländlichen Regionen. In ihrem jüngsten Werkkomplex Acts of Appearance (seit 2015) etwa bezieht sie Masken von Pappmaché-Künstlern der Kokna- und Warli-Gemeinschaften in Jawhar, Maharashtra in improvisierte Alltagsszenen ein und entwickelt so einen faszinierenden Dialog zwischen Wirklichkeit und Fiktion.

Die Ausstellung „Gauri Gill. Acts of Resistance and Repair“ wird gefördert durch den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. und die Hessische Kulturstiftung.

Sebastian Baden, Direktor der Schirn Kunsthalle Frankfurt, betont: „Gauri Gill eröffnet den Betrachterinnen und Betrachtern einen ganz unmittelbaren Zugang zu ihrem Werk. Durch zutiefst menschliche Themen sowie die Aktualität und politische Tragweite ihrer Fotografien verbindet sie in ihrem Werk das Soziale mit dem Ästhetischen. Ihre oft in Kooperation und über viele Jahre entstehenden Projekte zeugen von einer engen Verbundenheit mit dem Land und den Menschen und vermögen es auf einzigartige Art und Weise, als emanzipatorisches künstlerisches Mittel stereotypische Vorstellungen zu überwinden. Es ist mir eine große Freude, dass wir Gauri Gills einzigartiges Œuvre in der Schirn Kunsthalle Frankfurt erstmals in einer großen Überblicksausstellung zeigen können.“

Esther Schlicht, Kuratorin der Ausstellung, über die Arbeitsweise der Künstlerin: „Gauri Gill verfolgt vom intimen Schnappschuss bis zum konzeptuellen Motivinventar, von der übermalten Landschaftsfotografie bis zum Tableau vivant ein überaus vielfältiges Repertoire an bildnerischen Strategien. Ihr beeindruckendes Œuvre durchzieht über alle formalen und konzeptuellen Unterschiede hinweg ein tief empfundenes Interesse am Menschen sowie seiner Widerständigkeit und Kreativität, das sich in einer auf Dialog und Kooperation basierenden Vorgehensweise zeigt und eine dezidiert politische Haltung zum Ausdruck bringt.“

THEMEN UND WERKE DER AUSSTELLUNG

Gauri Gill bereist seit 1999 als freie Fotokünstlerin die karge Region im Westen Rajasthans. In den intimen Szenen und Porträts ihrer als offenes Archiv angelegten und mehrere tausend vornehmlich schwarz-weiße Fotografien umfassenden Serie Notes from the Desert fängt sie das Leben marginalisierter ländlicher Gemeinschaften ein. Frei von Sentimentalität und Folklore zeichnet Gill ein Bild der Widerständigkeit und des Überlebens in einer von Extremen geprägten Lebenswelt. Elementarer Teil ihrer fotografischen Praxis sind dabei die persönlichen Begegnungen und langjährige Freundschaften zu lokalen Bevölkerungsgruppen.

Ausgehend von dem Werkkomplex Notes from the Desert entstanden mehrere zentrale Fotoserien, in denen Gill das Verhältnis zwischen Fotografin und Fotografierten neu zu definieren sucht und in denen insbesondere ihre Solidarität mit Mädchen und Frauen zum Ausdruck kommt. Ein Zeugnis enger freundschaftlicher Verbundenheit ist die Serie Jannat (1999–2007). Der 52-teilige Zyklus kleinformatiger Silbergelatineabzüge begleitet das muslimische Mädchen Jannat und schildert das prekäre Leben ihrer vom Vater verlassenen Familie in alltäglichen, oft beiläufig erscheinenden Situationen. Gills Anliegen, vor allem Frauen aus den von patriarchalen Machtstrukturen geprägten ländlichen Regionen Sichtbarkeit zu verleihen, zeigt sich auch in Balika Mela (2003 und 2010). Diese Serie versammelt inszenierte Porträts von Mädchen und jungen Frauen verschiedener Dorfgemeinschaften, die im Rahmen eines von Gill initiierten Workshops in der Stadt Lunkaransar in einem Studio-Zelt entstanden. Indem die Porträtierten auch selbst die Position hinter der Kamera einnahmen, partizipierten sie zugleich an den Bedingungen ihrer Repräsentation. Ebenso entstammt die siebenteilige Serie Ruined Rainbow (1999–2010) einem Projekt mit Kindern und Jugendlichen aus dem Distrikt Barmer in Rajasthan. Die falsch belichteten und vermeintlich misslungenen Schnappschüsse einer bereitgestellten Kodak-Kamera offenbaren eine spielerisch-experimentelle Begegnung mit Momenten des Kindseins und einen anderen Blick auf ihr Dorf.

Andere aus Gills Fotoarchiv Notes from the Desert hervorgegangene Werkreihen haben einen stärker dokumentarischen Charakter. So zeigt die fortlaufende Serie The Mark on the Wall (seit 1999) handgezeichnete Schaubilder an den Innen- und Außenwänden von Dorfschulen im Hinterland Rajasthans als Relikte eines staatlichen Bildungsförderprogramms. Ein alternatives Archiv bildet auch die in Anlehnung an Toni Morrison betitelte Serie Rememory (seit 2003) mit Fotografien verlassener, neu gebauter oder verfallender Gebäude, Tore und Wege, die Gill auf ihren Reisen durch ganz Indien festhielt. Es sind Zeugnisse von Orten zwischen Land und Stadt, die subtil die Gentrifizierung und deren Auswirkungen auf die Lebensrealität der Menschen in den Blick nehmen. Darüber hinaus porträtieren die großformatigen Aufnahmen des Projekts Traces (seit 1999) Grabstätten von muslimischen wie hinduistischen Gemeinschaften aus vorgefunden, manchmal handgravierten Steinen, Ästen, Tonscherben und persönlichen Gegenständen und reflektieren den in die Landschaft eingebundenen Zyklus des Lebens, das Werden und Vergehen. Als Gegenpol zu Traces hält die 2005 entstandene, acht kleinformatige Aufnahmen umfassende Reihe Birth Series das intime Ereignis einer Geburt unter Anleitung einer erfahrenen Hebamme in einem entlegenen Dorf in der Wüste Thar fest.

Anders als in ihren vornehmlich in Schwarz-Weiß fotografierten Projekten in der Wüste widmet sich Gill in der farbigen Fotoserie The Americans (2002–2007) der Lebenswelt der indischen Diaspora in den USA. Auf ihrer fotografischen Reise von New York über Kalifornien und den Mittleren Westen bis in die Südstaaten dokumentierte Gill in der Begegnung mit Verwandten, Freundinnen und Freunden sowie neuen Bekannten – und in Anlehnung an das gleichnamige epochale Werk des Fotografen Robert Frank von 1958 – persönliche Momente von Erfolg und Erschöpfung, Trauer und Freude, Religion und Kultur aus transkultureller Perspektive.

In jüngeren Projekten hat Gill ihren kollaborativen Ansatz um neue Dimensionen erweitert. Seit 2013 entsteht in gemeinsamer Autorschaft mit dem Indigenen Künstler Rajesh Chaitya Vangad aus der Gemeinschaft der Warli die Werkgruppe Fields of Sight. Schwarz-Weiß-Fotografien Gills werden mit darauf ausgeführten filigranen Zeichnungen Vangads kombiniert. Den Bildern werden somit ortsgebundene Erinnerungen und lokal überlieferte Geschichten eingeschrieben. Die Schirn präsentiert erstmals das 2021 entstandene Triptychon Jal, Jungal, Jameen (Wasser, Land, Wald). Der Titel verweist auf die drei Grundwerte des Warli-Lebens, die die politische Bewegung der Indigenen Bevölkerung in allen Teilen Indiens als Schlagworte ihres Protests gegen Vertreibung und ökologische Zerstörung nutzt.

Für die Werkgruppe Acts of Appearance (seit 2015) arbeitet Gill mit Pappmaché-Künstlern und -Künstlerinnen der Adivasi-Gemeinschaften der Kokna und Warli in Jahwar zusammen. Wie bei Fields of Sight führt Gills Zugang über lokale kunsthandwerkliche Traditionen, ihre Fotografie wird zu einer Art Bühne für neue Formen künstlerischer Artikulation. Mittels der für Acts of Appearance kollektiv gefertigten Masken entwickelt sich ein spielerisch-experimenteller Prozess der Selbstreflexion und Selbstdarstellung basierend auf der alltäglichen Lebenswirklichkeit der Dorfgemeinschaft.

Neben Gills zentralen Werkserien präsentiert die Ausstellung in der Schirn einzelne von Gill ausgewählte Werke einiger ihrer künstlerischen Partnerinnen und Partner sowie von Personen, die ihr Schaffen maßgeblich begleitet haben. Dazu zählen Fotografien ihres Vaters Manohar Singh Gill vom Leben indischer Migranten in London sowie Landschaftszeichnungen ihrer Mutter Vinnie Gill. Eine Dokumentation ihrer kollaborativen Projekte, ihre Filme On Seeing (2020) und Paper to Figure (2022 mit Pradip Saha) sowie das von ihr mit anderen herausgegebene Magazin Camerawork Delhi (2006–2011) ermöglichen zudem einen Einblick in Gills künstlerische Entwicklung und ihr Selbstverständnis als Fotografin.

Gauri Gill, geboren 1970 in Chandigarh, studierte angewandte Kunst am Delhi College of Art, New Delhi und Fotografie an der Parsons School of Design, New York, bevor sie an der Stanford University in Kalifornien einen MFA in Kunst erwarb. Heute lebt und arbeitet sie in New Delhi. Ihre Arbeiten wurden in Indien und international in wichtigen Ausstellungen präsentiert, unter anderem auf der 58. Biennale von Venedig, der documenta 14 in Athen und Kassel, der 7th Moscow Biennale und der Kochi-Muziris Biennale 2016. Einzelausstellungen fanden zuletzt u. a. im Columbus Museum of Art, Ohio, dem MoMA PS1, New York, dem Museum Tinguely in Basel und der Smithsonian Institution in Washington statt.

Eine Ausstellung der Schirn Kunsthalle Frankfurt in Zusammenarbeit mit dem Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk.