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Gelatin & Liam Gillick - Stinking Dawn

Eröffnung: Donnerstag 4. Juli 2019, 19 Uhr

„Was bedeutet es heute, ein Revolutionär zu sein? Was heißt es, sich an die ideelle Basis jener Willenskraft zu erinnern, die die Gesellschaft verändern wollte? Nicht nur das revolutionäre Geschick steht auf dem Spiel, es geht auch um die Agitation aller Frauen und Männer, die die Welt verändert haben!“

Stinking Dawn ist eine Ausstellung in Form eines begehbaren und sich wandelnden Bühnenbilds, die den Produktionsprozess für einen abendfüllenden Spielfilm von Gelatin und Liam Gillick abbildet. Unter der Regie von Gillick und auf Basis seines Drehbuchs werden Gelatin die Hauptrolle in einem experimentellen Film spielen, der die Grenzen menschlicher Toleranz angesichts von Unterdrückung, politischen Krisen und überbordender Selbsttäuschung auslotet. Sie spielen die Hauptdarsteller – vier privilegierte junge Leute, die in einer Zeit der Krise aufwachsen und verschiedene Stadien der Entwicklung und Selbstreflexion durchlaufen bis zu einem endgültigen Moment der Krise, des Zusammenbruchs, der Verschwörung und der gescheiterten Träume.

Alle, die in Gillicks und Gelatins Film Stinking Dawn mitspielen – während der Drehtage (4. – 13. Juli) wird das gesamte Publikum zu potenziellen Akteur/innen – werden Fragen, Statements und Phrasen wie die obigen von sich geben, laut oder leise, je nach Regieanweisung. Innerhalb eines von Gelatin gestalteten, begeh- und veränderbaren Bühnenbildes – einer monumentalen, scheinbar steinernen Bauklotz-Architektur aus Kolonnaden, Amphitheatern, Nachtclub-Interieurs und Gefängniszellen – tippt Regisseur und Drehbuchautor Gillick seine Texte in eine alte Schreibmaschine und verteilt die Rollen an von ihm spontan ausgewählte Besucher/innen. Das heißt auch: Er stellt ihnen mit dem Text etwas zur Seite, das ihnen die Möglichkeit gibt, zwischen Aktion und Reflexion zu wechseln.

Permanente Akteure sind allein die vier Mitglieder von Gelatin, die in selbst produzierten Kostümen jene „bedauernswerten jungen Snobs“ spielen, die, wie Gillick erläutert, „versuchen, sich in dem, was man schon jetzt als Post-Linksradikalismus bezeichnen könnte, über Wasser zu halten“. Was sich zunächst anhört wie die Verwirklichung eines sozialistischen Wunschtraums, wird rasch zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Idealen und Wertvorstellungen, die unter den aktuellen Bedingungen der „postutopischen Situation“ zusehends erodieren – jener sehr realen Ängste, Neidgefühle und Konformismen, die von der „neoliberalen Gegenreformation“ geschürt werden.

Das Filmskript rekurriert in Teilen auf das 1998 erschienene Buch Vivre et penser comme des porcs. De l’incitation à l’envie et à l’ennui dans les démocraties-marchés (engl. Ausgabe 2014: To Live and Think Like Pigs – The Incitement of Envy and Boredom in Market Democracies) des französischen Philosophen und Mathematikers Gilles Châtelet. Das „Schwein“ ist hier der neoliberale Egomane, dessen Begierden, Strategien und Projekte allein auf die Steigerung der Produktivität und Profitabilität des eigenen Humankapitals ausgerichtet sind. Stinking Dawn bezieht auch die Lebensgeschichte des Verlegers und aktiven Kommunisten Giangiacomo Feltrinelli mit ein, der einer reichen italienischen Familie entstammte und 1972 unter umstrittenen Umständen ums Leben kam, nachdem er den Staat direkt attackiert hatte.

Liam Gillick geht es in seiner künstlerischen Praxis seit den 1990er Jahren darum, jede Art auktorialen Machtgebarens auszuschließen und ihm durch die eigene Praxis etwas qualitativ Neues entgegenzusetzen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Zusammenarbeit mit anderen Produzent/innen; das, was die Soziologie als Parallelspiel bezeichnet. So ist auch Stinking Dawn das Ergebnis langer Gespräche mit Gelatin, die bereits in den frühen 2000er Jahren begannen. Auch Gelatin haben immer wieder Alternativen zu herkömmlichen Kunstmodellen gesucht und neue Wege der Lebensgestaltung künstlerisch umgesetzt. Sie werden das Drehbuch kontinuierlich um parallele Erzählungen zu dessen Haupttext erweitern.

Nach den Drehtagen im Juli beginnt im Studio die Postproduktion des Films, wobei im Laufe der Ausstellung immer wieder neue – ganz oder teilweise fertig geschnittene – Sequenzen auf die Kulissen im Raum projiziert werden. Dem prozesshaften, nie stringent durchchoreografierten Charakter des Films entspricht somit auch die Ausstellung, die sich bis zum Ende laufend verändern wird. Deren „Ende“ ist zugleich der Auftakt zur Uraufführung des Films, die im Herbst 2019 an einem noch nicht genannten Ort außerhalb der Kunsthalle Wien stattfinden wird.

There are four kinds of silence:
Literal, allegorical, moral, divine.
And putting all four together is difficult, almost impossible.
And then, there is harmony.
And this happens a few times in a life time, then you die.
This is very important.
(aus: Liam Gillick, Drehbuch zu Stinking Dawn, 2019)

Mitwirkende (u. a.): Nik Amato, Artjom Astrov, Ines Ballesteros, Michela Brollo, Hugo Canoilas, Oleg Eliseev, Scott Evans, Christoph Harringer, Helmut Heiss, Kolbeinn Hugi Höskuldsson, Lisa Jäger, Chris Janka, Jen Kratochvil, Yukika Kudo, Jenyia Kukerov, Bert Löschner, Cristian Manzutto, Sandra Margeth-Theuer, Maria Metsalu, Josephine Reither, Olivia Reither, Nicolás Rosés Ponce, Manuel Scheiwiller, Kazuto Taguchi, Catharina Wronn

Musiker/innen: Music for Your Plants, Ratkiller, Regret

Kuratoren: Lucas Gehrmann, Luca Lo Pinto

Gelatin sind vier Wiener Künstler, die sich 1978 in einem Ferienlager kennengelernt haben und seither zusammen arbeiten und spielen. Seit 1993 stellen sie international aus. Gelatin machen sich in ihrer Praxis die Codes relationaler Ästhetik zueigen und haben eine anarchische und durch und durch unkonventionelle skulpturale Sprache und Herangehensweise erfunden. Humor und Logik, aber auch chaotische Genauigkeit sind Schlüsselinstrumente bei der Konzeption neuer Arbeiten. Ihre Werke schlagen einen Bogen von Individuum und isoliertem Phänomen zu ergebnisoffener Kollektivität, von unverhohlener Erotik zum sublimierten Genuss des Zusammenseins. Austellungsbesucher/innen werden oft Teil ihrer Performances, die darauf abzielen, ein Publikum in eine Gemeinschaft zu verwandeln. Gelatins Arbeiten waren international in Institutionen wie dem Museum Boijmans van Beuningen, Rotterdam; der Fondazione Prada, Mailand; dem Musée d’Art Moderne de la Ville de Paris; dem Kunsthaus Bregenz; der Kunsthalle Krems und dem 21er Haus in Wien zu sehen, außerdem auf der Manifesta 11 in Zürich, der 49. und 54. Venedig Biennale, der 1. Moskau-Biennale, der Aichi-Triennale, der Gwangju-Biennale, der Shanghai-Biennale, der Liverpool-Biennale und der EXPO 2000.

Der New Yorker Künstler Liam Gillick (geboren 1964 in Aylesbury, Großbritannien) bedient sich zahlreicher Formate, um ein Schlaglicht auf die neuen ideologischen Steuerungssysteme zu werfen, die seit den frühen 1990er Jahren entstanden sind. Er hat eine Reihe von Schlüsselerzählungen entwickelt, die oft einer ganzen Werkgruppe zugrunde liegen. Gillicks Arbeiten zeigen die dysfunktionalen Seiten des Erbes der Moderne auf, vor allem der Abstraktion und der modernen Architektur, wie sie sich im Spiegel eines globalisierten neoliberalen Konsenses darstellen. Seine Arbeiten waren in der documenta und den Biennalen von Venedig, Berlin und Istanbul zu sehen; 2009 vertrat er Deutschland in Venedig. Museale Einzelausstellungen fanden im Museum of Contemporary Art, Chicago; dem MoMA, New York und der Tate, London statt. Außerdem schreibt Gillick seit 25 Jahren und hat sich insbesondere als Kunstkritiker einen Namen gemacht. Er ist Autor mehrerer Bücher, darunter eines Bandes gesammelter kritischer Schriften. Aufsehenerregende Kunstwerke im öffentlichen Raum entstanden u. a. für das britische Innenministerium in London und das Lufthansa-Hauptquartier in Frankfurt. Zugleich hat Gillick seine Praxis durch Arbeiten für experimentelle Kunsträume und in der Zusammenarbeit mit Künstler/innen wie Philippe Parreno, Lawrence Weiner und Louise Lawler erweitert.