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DIE SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT WIDMET GUSTAVE COURBET DIE ERSTE UMFASSENDE AUSSTELLUNG IN DEUTSCHLAND NACH ÜBER DREISSIG JAHREN

Der französische Maler Gustave Courbet (1819–1877) ist einer der faszinierendsten Künstler des 19. Jahrhunderts. Er gilt als bedeutendster Vorkämpfer einer politisch-realistischen Malerei und als Revolutionär der Pariser Commune. Courbet hat aber auch eine ganz andere Seite: Er war einer der großen Träumer der Geschichte. In seinen Porträts, aber auch in seinen Landschaftsbildern, Zeichnungen und Stillleben schildert er eine Welt der Nachdenklichkeit und der Wendung nach innen – ganz im Gegensatz zur hektischen Industrialisierung seiner Zeit. Anhand von rund 100 Werken aus 11 Ländern – darunter Leihgaben aus Stockholm, Paris, Montpellier, Los Angeles, New York und Oslo – wird vom 15. Oktober 2010 bis 30. Januar 2011 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt erstmals dieser „andere“ Courbet vorgestellt. Mit der von Professor Klaus Herding kuratierten Ausstellung wird gezeigt, wie Courbet ausgehend von der deutschen Romantik die Vision einer poetischen Kunst der Moderne realisiert hat, wie sie in der Folge bei Cézanne und Picasso, aber auch im Symbolismus, im Surrealismus und im magischen Realismus weiterentwickelt wurde. Die traumwandlerische Sinnlichkeit, die viele von Courbets Werken ausstrahlen, aber auch die Versenkung in entlegene, der Außenwelt verborgene Gegenden, sind ein Grund dafür, dass sich heute viele Künstler der Gegenwart auf ihn berufen.

Die Ausstellung steht unter der gemeinsamen Schirmherrschaft von Christian Wulff, Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, und Nicolas Sarkozy, Präsident der Französischen Republik.

Die Ausstellung wird durch die Hessische Kulturstiftung und die Aventis Foundation gefördert. Zusätzliche Unterstützung erfährt sie durch die Ernst von Siemens Kunststiftung, die Georg und Franziska Speyer’sche Hochschulstiftung, die Polytechnische Gesellschaft e.V. und die Deutsche Bahn.

Gustave Courbet, 1819 in Ornans bei Besançon in der Region Franche-Comté als Sohn einer gutbürgerlichen Familie geboren, gilt seit jeher als Verfechter einer sozial engagierten Kunst. Berühmt ist in diesem Zusammenhang vor allem sein Gemälde „Die Steinklopfer“ (1849, 1945 vermutlich zerstört), in dem er den harten Alltag der Tagelöhner unbeschönigt vor Augen führt. Courbets Schaffen wird außerdem mit seinem Engagement in der Pariser Commune in Verbindung gebracht. Für den Sturz der die napoleonischen Kriege ehrenden Vendôme-Säule durch die Pariser Commune im Mai 1871 wird Courbet 1873 allein verantwortlich gemacht. Er flüchtet noch vor dem Urteilsspruch in die Schweiz, wo er 1877 in La Tour-de-Peilz am Genfer See stirbt. Courbets Zeitgenossen, darunter der Schriftsteller Jules Champfleury und der Philosoph Pierre-Joseph Proudhon, haben die bis heute dominante Sicht von Courbets Rolle als Verfechter des Realismus maßgeblich geprägt. Unerschrockene Wahrhaftigkeit und die Darstellung politisch- gesellschaftlicher Themen sowie der Personen in ihrer Alltäglichkeit im Anschluss an die SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, PRESSEINFORMATION „COURBET“, 24. SEPTEMBER 2010, SEITE 2 VON 3 spanische und niederländische Malerei des 17. Jahrhunderts gelten als wichtige Merkmale des Realismus. Gerade in Deutschland, wo Courbet in den 1850er-Jahren besonders in Frankfurt und München größere Erfolge als in Frankreich selbst feierte, wurde er als wegweisender Maler des Realismus verehrt. In der Definition von Realismus ist jedoch auch eine Komponente enthalten, die über die schiere Abbildung des Gegenstands hinauszielt. Denn der Künstler, der etwas „realistisch“, das heißt unbeschönigt, darstellt, will in der Regel eben dadurch diese „schlechte“ Wirklichkeit überwinden: Realismus enthält, im Gegensatz zum Naturalismus, einen idealistischen Impuls.

Bewusst rückt die Ausstellung in der Schirn das Phänomen des Realismus in den Hintergrund und kehrt den „anderen“, träumerischen Courbet hervor. Aus gutem Grund: Denn selbst wo es bei Courbet einen unmittelbaren Zugriff auf die Realität gibt, erweist sich dieser als ein Mittel der Innenwendung und Verfremdung. Courbets Porträts zeigen oft einen träumerischen Hang zur Introspektion, Landschaftsbilder stellen abgelegene Fels- und Waldgebiete vor, Meeresbilder zeugen von Einsamkeit, Jagdbilder sprechen von Identifikation mit dem Opfer, Stillleben führen uns in eine verwunschene Welt, in der die Maßstäbe der Außenwelt nicht mehr gelten. Nicht wenige Figuren sind traumverloren, werden schlafend oder im Halbschlaf vorgestellt, oft mit Anzeichen jener Sehnsucht, die auf einen Wunschtraum schließen lässt. Selten sind Courbets Figuren handelnd dargestellt, mitunter ist die Erzählung innerhalb eines Bildes unterbrochen, manchmal bricht ein heftiges Gefühl hervor, meist aber herrschen leise Zwischentöne vor.

Die Technik des Künstlers entspricht diesem Hang zu Zwischentönen. Grelle, ungemischte Farben sind selten. Courbet meidet Eindeutigkeit. Vielfach bezeichnet die Farbe nicht mehr einen bestimmten Gegenstand, sondern reicht über diesen hinaus oder „unterwandert“ ihn sogar, verteilt sich über das Bild und gibt dem Zufall Raum. Durch die Methode, Farbe mit dem Spachtel auf- und wieder abzutragen, hat Courbet eine „ordentliche“, sprich akademische, Feinmalerei buchstäblich unmöglich gemacht. Auch kommt es zu erstaunlichen Umkehrungen. Das Feste (wie Felsgestein) wird transparent, das Unfeste (wie Wasser) wird undurchdringlich wiedergegeben. Dabei wechselt der Maler oft sprunghaft zwischen beiden Arten des Farbauftrags. Solche Verfahren haben die Sehgewohnheiten des 19. Jahrhunderts erschüttert und wirken bis zur Kunst der Gegenwart weiter, sodass wir Courbets Bedeutung heute in dieser Umwälzung und weniger in revolutionären Gesten erkennen.

Schließlich offenbart Courbet in seinen Gemälden und Zeichnungen ein ungewöhnlich breites emotionales Spektrum, das von Erschrecken und Selbstzweifeln spricht, aber auch kranke und misstrauische Züge von Zeitgenossen einfängt oder aber Überlegenheit und selbstbewusstes Auftreten zeigt – dies alles, ohne sich je dem zu seiner Zeit vorherrschenden Bedürfnis nach idealisierender Repräsentation zu beugen. Die in den Porträts betriebene Erforschung der Innenwelt und die in den Landschaftsbildern erreichte Auflösung der Materie sind neben den politischen Inhalten seiner Malerei die beiden großen künstlerischen Neuerungen. Diese drei großen Verdienste Courbets – Gesellschaftskritik, Abstraktion, Introspektion – lassen sich jedoch nicht immer trennen, greifen vielfach ineinander. Wenn Courbet einmal sagte: „Ich bringe selbst die Steine zum Denken“, dann zeigt das, wie sehr er in die Innenwelt der Dinge eindrang, um die Wirklichkeit poetisch reflektierend umzuformen.

Wie fruchtbar die durch Courbet provozierte Erschütterung der Tradition für Manet und Cézanne, aber auch für Picasso oder de Chirico, für Beckmann und Duchamp gewesen ist, sieht man daran, dass jeder dieser Künstler, aber auch viele Maler der Gegenwart wie Gerhard Richter oder Neo Rauch ganz unterschiedliche Qualitäten Courbets für sich in Anspruch genommen haben. SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT, PRESSEINFORMATION „COURBET“, 24. SEPTEMBER 2010, SEITE 3 VON 3 Die Ausstellung in der Schirn ist auch aufgrund der persönlichen Beziehung des Künstlers zur Stadt Frankfurt von besonderer Bedeutung. Mit Courbet war Frankfurt dem Pariser Kunstleben so nah wie noch nie. Bereits 1852 stellt Courbet in Frankfurt aus. In der Lederhalle zeigt er seine Arbeit „Ein Begräbnis in Ornans“ (1849) und löst damit heftige Debatten aus. Es galt als unerhört, eine alltägliche Szene wie ein dörfliches Begräbnis in der Form eines Historienbildes zu gestalten. Nach weiteren Ausstellungen in der Stadt weilt er 1858/59 für mehrere Monate erstmals persönlich in der Region und schafft hier bedeutende Werke wie die „Dame auf der Terrasse“ und „Ansicht von Frankfurt“. Eines seiner größten Jagdbilder, der „Hirsch am Wasser“ (1858–1861), wurde hier begonnen. Im Übrigen knüpft Courbet hier viele Kontakte und begründet eine Frankfurter Malerschule. Später übt er entscheidenden Einfluss auf so bedeutende Künstler wie Wilhelm Leibl, Hans Thoma, Carl Schuch und die Kronberger Malerschule aus.

Einen Höhepunkt der Ausstellung bilden neben den Landschaftsbildern die Meeresbilder, sowohl im Hinblick auf die Eigenständigkeit der Materie wie auch aufgrund der antizivilisatorischen Eigenständigkeit dieser Gemälde, die zwischen 1865 und 1873 entstehen. Zur gleichen Zeit, vor allem nach dem Scheitern der Pariser Commune, malt Courbet selbstreflexive Stillleben, in denen er über Leben und Tod, auch über sein eigenes Ende, reflektiert. KH

KATALOG: Gustave Courbet. Ein Traum von der Moderne. Herausgegeben von Klaus Herding und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Sylvain Amic, Bettina Erche, Paul Galvez, Michèle Haddad, Klaus Herding, Werner Hofmann, Florence Hudowicz, Ségolène Le Men, Stephanie Marchal, Linda Nochlin, Ulrich Pfarr, James Rubin, Margret Stuffmann und Gilbert Titeux. Deutsche Ausgabe, 304 Seiten, 220 Abbildungen, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, ISBN 978-3-7757-2628-3.