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„Das Recht auf Stadt ist wie ein Schrei und ein Verlangen“, schrieb der französische Intellektuelle Henri Lefebvre in den 1960er Jahren. Seit dem Modernisierungsschock der Industrialisierung sind Städte mit schwierigsten Herausforderungen konfrontiert. Nicht nur zeitgenössische Krisen setzen urbane Ballungszentren weltweit unter Druck und machen Ansätze einer anderen Stadtentwicklung von unten sichtbar, auch historisch lässt sich von einem Krisen-Urbanismus sprechen, der zu Landnahmen in der Stadt, zu Selbstorganisation und zu informeller Stadtentwicklung führt. In Mangelsituationen erzeugen StadtbewohnerInnen seit jeher Lösungen. Siedeln und Nutzgärten führen zu alternativen Formen des Zusammenhalts, der Nachbarschaftlichkeit und der Verteilungsgerechtigkeit. Eine andere Welt ist pflanzbar, wie heutige GemeinschaftsgärtnerInnen betonen. Die Frühjahrsausstellung des Architekturzentrum Wien widmet sich einer Ideengeschichte von Landnahmen im urbanen Raum und zeigt Handlungspotenziale der BürgerInnen auf, die in Krisen agieren. „Hands-On Urbanism 1850 – 2012“ zeigt eine kritische raumpolitische Ideengeschichte. Stadtentwicklung von unten führt zu informeller und selbstorganisierter Produktion von Stadt, die jedoch nie außerhalb des Systems agiert. Selbstorganisation ist seit jeher sowohl Reaktion auf als auch Anstoß für Stadtplanung. Kuratorin Elke Krasny stellt eine andere Stadtgeschichte vor, die dringliche Fragen an die Verantwortung von ArchitektInnen und PlanerInnen und an den Umgang mit Ressourcen stellt.

Was lässt sich von dieser Stadtgeschichte von unten lernen und wie agieren ArchitektInnen in diesen Prozessen? Ihre Rolle reicht von InitiatorInnen über AktivistInnen bis hin zu ForscherInnen. Wie reagiert die Stadtplanung auf solche Entwicklungen? Das Spektrum reicht von Duldung über verspätete Infrastrukturmaßnahmen bis zu behördlich unterstützenden Maßnahmen oder der Einführung neuer Gesetze und Legalisierung.

Kuratorin: Elke Krasny Szenographie: Alexandra Maringer Ausstellungsgrafik: Alexander Schuh

ZUR AUSSTELLUNG

Gestützt auf mehrjährige Feldforschung zeigt Kuratorin Elke Krasny eine Geschichte der Stadt aus der Perspektive von Landnahmen und Stadtentwicklung von unten. Im Zuge ihrer internationalen Recherchen führte sie Interviews mit ArchitektInnen, PlanerInnen, AktivistInnen, KünstlerInnen, ForscherInnen, SiedlerInnen, SchrebergärtnerInnen und Community Gardeners. Die Ausstellung versteht sich konzeptuell als spezifischer Wissensproduktionsort der Geschichte des Hands-On Urbanism.

„Hands-On Urbanism 1850 – 2012“ gibt Einblick in selbstorganisierte, kollektive, informelle Bewegungen des Urbanen, in Projekte, die durch Selbsthilfe, aber auch von ArchitektInnen oder AktivistInnen initiiert wurden und die neuen Räume, die dadurch entstanden sind. An Hand von Beispielen in Europa, Lateinamerika, den USA und Asien wird dargelegt, wie oft kleine Projekte maßgeblich zu großen Veränderungen führen. Jedes Projekt wird im Kontext seiner spezifischen zeithistorischen Bedingungen analysiert. In der Verbindung von historischen Linien und Denkfiguren mit aktuellen Entwicklungen spiegeln sich die großen Bewegungen wider, die eine Ideengeschichte dieser Formation des Gärtnerischen erzeugen: Informelles, Freiheit, Nachbarschaftlichkeit, Verantwortung, Bottom Up, Top Down, Regeln, Grenzen, Überschreitungen, Illegalität, Partizipation, Urban Farming, Ökoästhetik ...

Szenographin Alexandra Maringer setzt diese kuratorisch gesetzte Geschichte der Stadtentwicklung von unten räumlich um und entwickelt ein städtisches System als Grundstruktur der Ausstellung. Baustellengitter als Trägerelemente verweisen direkt auf die Qualitäten der Transformation, der Veränderung von Stadt, auf den Akt des Bauens, der im Falle der Stadtentwicklung von unten oft ein Selbst-Bauen ist. An diese Gitter gehängt, erzählen zeitgenössische und historische Fotografien, Filme, Pläne und Skizzen die Auswirkungen des Hands-On Urbanism.

Die Baustellengitter sind Träger für den Hauptaspekt der Ausstellung, das Recht auf Grün: Verschiedenste Nutz-, Zier- und Wildpflanzen werden daran befestigt. Stadt und Land, das Gärtnerische in der Stadt als Praxis des Überlebens, der Subsistenz, der Gemeinschaft und der Freude am Anpflanzen werden so direkt in den Ausstellungsraum übersetzt und durch den Geruch und die Textur der Pflanzen evoziert. Nicht zuletzt wird, wie oft bei der Stadtentwicklung von unten, Recycling und intelligente Ressourcen-Nutzung betrieben: Nutzung & Adaption von vorgefundenem Material (Gitter, Flaschen, ...), Stadtressourcen (MA 42, MA 48) und Sitzwürfel aus Holzmüll. Eingetopft in durchsichtige Gefäße sieht man zwei weitere Ressourcen, die urbane Landwirtschaft und Community Gardens einsetzen: Erde und Wasser.

Die Erzählung der einzelnen Fallstudien ist in diese Stadtstruktur eingelassen. Die Stationen der Ausstellung werden von den BesucherInnen im zeitlichen Bogen von 1850 bis 2012 durchwandert. Ihre komplexen und vielschichtigen inhaltlichen Bezüge werden über Durchblicke durch die Gitterstruktur räumlich übersetzt.

FALLBEISPIELE HANDS-ON URBANISM 1850 – 2012

Der Bogen der von Elke Krasny in mehrjähriger Feldforschung recherchierten Case-Studies wird gespannt vom „Schreberplatz“ in Leipzig Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu aktuellen Entwicklungen in Paris, London, Berlin, Hong Kong, Porto Alegre und Quito. Auch die Wiener Siedlerbewegung und ihr genossenschaftliches Erbe sowie die historische Kleingartenbewegung, aber auch die Schrebergärten und eine informelle Gartenkultur von Flüchtlingen und Asylsuchenden im heutigen Wien spielen in dieser anderen Stadtgeschichte eine Rolle.

- „Schreberplatz“, Leipzig. Ein selbstorganisierter Verein um den Pädagogen Ernst Hauschild gründete 1865 den ersten Schreberverein und initiierte in Folge einen Garten, der auf Selbstregierung setzte. - Hull House, Chicago, ab 1889. Jane Addams, Feministin und spätere Friedensnobelpreisträgerin, initiierte in einem von Immigration geprägten Armenbezirk Chicagos das Hull House Settlement. - Schrebergärten, Zukunft auf der Schmelz, Wien. Während des ersten Weltkriegs wurden informell erste KriegsgemüsegaÅNrten auf dem Areal angelegt, das heute die größte Kleingartenanlage Mitteleuropas ist. - Siedlerbewegung, Wien. Ab 1918 organisierten sich die informellen wilden SiedlerInnen und GärtnerInnen sukzessive in Genossenschaften. - Auf Parzelle, Bremen, ab 1945. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die selbstorganisierte informelle Besiedlung und die Subsistenzwirtschaft auf den Kleingartenparzellen. - Ma Shi Po Village, Hongkong, ab 1947. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden informelle Squatter Cottages in Selbstbau errichtet. Heute sucht Becky Au, die Initiatorin der Ma Po Po Community Farm, die Felder vor dem Developerdruck zu retten. - The Cook, the Farmer, his Wife and their Neighbor, Amsterdam. In dem nach dem Zweiten Weltkrieg als rationalisierte Gartenstadt geplanten Stadtteil Nieuw West realisierten die Gruppe Wilde Westen (Architekturschaffende, DesignerInnen, KulturproduzentInnen) und die Künstlerin Marjetica Potr? 2008-2009 einen Gemeinschaftsgarten. - Macondo, Wien. Seit 1956 kamen Flüchtlinge aus verschiedensten Ländern hier an. Eine informelle Gartenkultur entstand. Als diese in ihrem Weiterbestehen bedroht war, begann die KünstlerInnengruppe Cabula6 2009 hier zu arbeiten und realisierte einen Recycle-Garten. - Sarigöl, ein Gecekondu, Istanbul. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte die informelle Stadterweiterung in Istanbul. Heute sind die Gecekondus von Developerdruck bedroht. - Bowery-Houston Community Farm und Garten, New York. Liz Christy, lokale Anwohnerin und Künstlerin, initiierte 1973 diesen Garten. Unter Bürgermeister Giuliani wurden viele der Loisaida Gärten zerstört. - Mexicali Experimental Project, Mexiko. Christopher Alexander realisierte ab 1975 partizipativ diese Siedlung, die in Folge vollkommen informell überbaut wurde. - La Quebrada Navarro, Quito. In den Schluchten von Quito errichten Andinos informelle Siedlungen und betreiben Landwirtschaft. Pablo Molestina und Catherine Venart arbeiten seit 2010 an Planungen, die das komplexe Ökosystem und seine Nutzung erhalten. - Organopónicos Havanna. Die seit Auflösung der UdSSR erst informell begonnene und dann auf der ganzen Insel Kuba eingeführte städtische Landwirtschaft wurde von Bohn und Viljoen Architects als exemplarische Continuous Productive Urban Landscape untersucht. - Centro de Educação Ambiental da Vila Pinto, Bildungszentrum und Recycling Anlage, Porto Alegre. Doña Marli Medeiros initiierte in dieser Favela 1994 eine kooperativ geführte Recyclinganlage. Sie wandte sich 2010 an Architekt Felipe Hernández, um eine gemeinsame Freiraumgestaltung zu erarbeiten. - What will the Harvest be? London. Eine Gruppe von AnwohnerInnen, die Friends of Abbey Gardens, und die Künstlerinnengruppe Somewhere (Karen Guthrie & Nina Pope) realisierten seit 2006 mitten im drohenden Developer- und Gentrifzierungsdruck durch die London Olympics 2012 diesen öffentlichen Nachbarschaftsgarten mit Honesty Store. - Prinzessinnengarten, Berlin. Auf einer jahrzehntelang ungenutzten städtischen Brache in Kreuzberg betreiben Robert Shaw und Marco Clausen seit 2009 diese mobile urbane Landwirtschaft mit Gartencafé als Angelpunkt für die Nachbarschaft, aber auch TouristInnen. - More than Shelters. Seit 2010 arbeitet der Künstler Daniel Kerber anknüpfend an die Selbsthilfe- Ideologie John Turners an einem Konzept für mobile modulare Notunterkünfte für akute Krisensituationen und Obdachlosigkeit. - R-Urban, Colombes / Grand Paris. Seit 2011 arbeiten aaa atelier d’architecture autogerée (Constantin Petcou und Doina Petrescu) an einem Pilotprojekt, das auf geschlossene lokale Kreisläufe setzt und urban farming, eine Recyclinganlage, ein kooperatives Wohnprojekt mit dem Recht auf Stadt und dem Recht auf Zukunftsfähigkeit verbinden. Zur Ausstellung erscheint das Buch „Hands-On Urbanism 1850 – 2012. Vom Recht auf Grün“ im Verlag Turia + Kant.

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Hands-On Urbanism 1850 - 2012
Vom Recht auf Grün
Kuratorin: Elke Krasny