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„Ich hatte also heute früh mit dem Mittelpunkt der Erde angefangen, dann die verschiedenen Herrlichkeiten ihrer Oberfläche bewundert und nach einem flüchtigen Besuch auf sämtlichen Planeten in der Sonne aufgehört.“ Diese erstaunliche und merkwürdige Erlebnisbeschreibung stammt aus der Feder des Fürsten Hermann von Pückler-Muskau und komprimiert in gewisser Weise seine Medienerfahrungen eines einzigen Tages - des 16. Februar 1829 - in Paris, zehn Jahre vor der öffentlichen Bekanntgabe des ersten praktikablen Verfahrens zur Herstellung von Photographien. Der Fürst schrieb weiter, daß er mit dem Ama der Geographie, dem Georama‘ begonnen habe, um gleich darauf im Diorama eine halbe Stunde weiter auf dem Boulevard‘ eine Ansicht des Gotthards und Venedigs zu besichtigen. Beim Neorama sah er sich in die Mitte der Peterskirche von Rom versetzt, bemängelte aber, daß die Täuschung nur mittelmäßig sei und schloß den Tagesbericht mit der Äußerung: „Mit Übergehung der bekannten Panoramas und Kosmoramas bringe ich Dich endlich in das Uranorama, im neuen Passage Vivienne. Das ist eine sehr ingeniöse Maschine, um den Lauf der Planeten unseres Sonnensystems anschaulich zu machen.“

Das Diorama als transitorische Einbildpräsentation, das Panorama als 360 Grad (Rundum)- Illusionsgemälde, das kaum bekannte und nur kurz existierende Neorama und die übrigen künstlichen Erlebnisräume so schnell hintereinander zu betrachten und kritikfreudig zu studieren, bedeutet schon ein beachtliches Interesse (und Bedürfnis) nach innovativer Bild- und Medienerfahrung, signalisiert eine besondere Leidenschaft sich vorsätzlich visuellen Illusionen hingeben zu wollen und deutet auch schon die drohende Bereitschaft an, bei nur mittelmäßiger Täuschung der Sinne, schnell die gute Flanierlaune gegen eine unerfreuliche Verstimmung vertauschen zu können. Jeder kann heute diese Eintrübungen des freizeitlichen Alltagslebens als Mißbehagen am Fernsehprogramm oder als Frust über einen schlechten Film für den man gerade noch gutes Geld gegeben hat nachvollziehen. Aber dies sind Launen und nicht zwangsläufig Erkenntnisprozesse.

Denn für uns sind Photographie, Film und Fernsehen aus dem Alltag kaum wegzudenken und so präsent, daß ihr Wesen als durch Apparate gesteuerte 'Sichtweise von Wirklichkeit‘, als mediale Technik montierter Kompositionen von Wirklichkeitsausschnitten und als Konstruktion absurder Illusionismen kaum noch eine öffentliche (geschweige denn private) Reflektion findet. In fast alle Bereiche des menschlichen Lebens und Zusammenlebens sind diese Medien tief eingedrungen. Die unmittelbare Geschichte und die jüngst vergangenen Wirkungsweisen mögen noch im Bewußtsein bestehen, kaum jedoch die komplexe Vorgeschichte dieser 'Neuen Medien‘, die bis ins 16. Jahrhundert, in den Kontext der Aufklärung des 18. Jahrhunderts und der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts zurückreicht: Die Bilderwelten von Camera Obscura, Laterna Magica, Guckkasten, Panoramen, Dioramen und Photographie popularisierten über den Zeitraum von annähernd 500 Jahren die optische Schaulust und gelten als Wegbereiter der Kulturgeschichte von Photographie und Film und damit auch unseres Medienzeitalters.

Elementar für die Bildersprache der Neuzeit waren die Erkenntnisse um die Zentralperspektive, der Blick auf die Abbilder der äußeren Welt in der Camera Obscura, deren optisches Phänomen bereits auf ältere arabische und antike Quellen zurückreichte. Die Ordnung des Bildraumes durch das perspektivische Sehen revolutionierte die Darstellungen von Portraits, Landschaften und Architekturen, während weiterentwickelte Bilder und Bilderzeugnisse wie z.B. die Anamorphosen zu begehrten Gegenständen der Schaulust zwischen Illusion und Imagination wurden. Seit dem 18. Jahrhundert veränderte sich das Rezeptionsverhalten, indem die tragbare Camera Obscura nun als Instrument einer objektivierten Betrachtung der äußeren Welt und deren Abbilder als Garanten von Wahrheit Geltung bekamen. Der Schaulust dienten Panoramen und Dioramen und im Jahr 1839 wurde öffentlich die Erfindung der Photographie als Triumph über die Kräfte der Natur bekanntgegeben und propagiert. Ende des 19. Jahrhunderts begann die Geschichte des Films als konsequente Folge technisierter Bildproduktion von 'laufenden‘ Photographien und deren Projektion. Außer Photographie, Film und Fernsehen ist nur wenig von all dem als vitaler Erfahrungszusammenhang erhalten geblieben , sieht man von einer Handvoll Panoramen ab, die verstreut über die Länder Europas dem Besucher noch die alte Illusion einer umfassenden künstlichen Bilderfahrung suggerieren.

Den gesamten komplexen Zusammenhang dieser Geschichte der optischen Medien, der Sehmaschinen und Bilderwelten, zumindest teilweise wiederzugewinnen und in einer Ausstellung zu präsentieren erlaubt jetzt erstmalig eine Kollektion von internationalem Rang: Die Sammlung des Filmemachers Werner Nekes vereinigt alle relevanten Exponate zur Vielfalt visualisierter Erscheinungen und Erfahrungen der Kulturgeschichte aus den vergangenen 500 Jahren. Diese berühmte Sammlung eröffnet den weitgefächerten Blick auf diese spezielle Kulturgeschichte und die filmisch animierten Experimente des Sammlers weisen den Blick nach vorne in die Welt künstlicher Visualisierungen. Die Sammlung Werner Nekes erinnert an die legendären Kunst- und Wunderkammern und offeriert eine breit gefächerte Enzyklopädie des Wissens über die optischen Medien, einer „Academie des Sciences“ gleich, die einst angefüllt mit unendlichen Meß- und Maßgeräten, Instrumenten, Maschinen, Folianten und Bildern dargestellt wurde.Diese außergewöhnliche Sammlung hat schon für sich ganz allein die Qualität eines Medienmuseums für Photographie, Film, Fernsehen sowie deren Vorfahren und Verwandte.

Werner Nekes, Experimentalfilmer, Initiator, Besitzer vieler Auszeichnungen und Inhaber zahlreicher Gastprofessuren an nationalen und internationalen Hochschulen, schrieb 1971 einen ersten Text über das Filmemachen unter Einbezug einer Thaumatrop-Scheibe,die mit zwei Fäden zum Drehen gebracht wird, um deren Bilder zu einem Gesamtbild zu verschmelzen. Ab da überkam ihn das Verlangen, alle optischen Geräte, illusionistischen Schaustücke, bewegte Bilder, projizierte Ansichten, Objekte und Texte zur Vor- und Frühgeschichte von Photographie und Film zusammenzutragen. Der frühe Ansatz einer Pre-Cinema-Sammlung wurde allerdings schnell relativiert: Diese Sammlung zur Geschichte der Animation, zur Vielfalt der optischen Medien, zur weit ausgreifenden Geschichte von Film und Photographie hat inzwischen Weltgeltung erlangt. Werner Nekes, der Sammler mit obsessiven Zügen, ist selbst verantwortlich dafür, denn er erforscht gründlich sein Terrain, sucht nach Ursachen, Prinzipien und Folgen optischer Erfindungen, nach visualisierten Zeugnissen der Geschichte , rekonstruiert deren Darstellungen und analysiert die vielen Wirkungsweisen. Der Sammler war (und ist) stets erfolgreich bemüht nicht nur Objekte populärer Schaulust zusammenzutragen sondern vor allem auch die Verknüpfung der populären Medien zu reflektieren und die Vielfalt der Überschneidungen zu analysieren. Vom Sammler im traditionellen Sinn ist Werner Nekes damit weit entfernt: Er ist nicht mit der Anhäufung von Sammelgut sondern mit der kreativen und höchst innovativen Konstruktion und Erforschung (s)eines Sammelgebietes befaßt und der Analyse neuer aktualisierbarer Funktionsweisen seiner Objekte beschäftigt. Deshalb ist der Erlebnis- und Erfahrungswert dieser Sammlung von außerordentlicher Suggestiv – und von bezwingender Anziehungskraft: Hier werden nicht nur Bausteine, sondern die kulturgeschichtliche Gesamtsubstanz zu einer anschaulichen und erlebnisorientierten Medienschau aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dem Betrachter offeriert.

Die Ausstellung beginnt mit internationalen Exponaten zur Kultur und Geschichte des Schattentheaters, gefolgt von Zeugnissen zur Geschichte des perspektivischen Sehens und der Täuschungen. Mit Anamorphosen, Spiegeln und Kaleidoskopen werden vielfältige Möglichkeiten der optischen Täuschung, Verzerrung und Verwirrung des Betrachters dokumentiert. Die Camera Obscura erlaubte, die Außenwelt als flüchtiges Bild zu betrachten, lange bevor die Photographie für die Stabilität dieser Bilder sorgte. Der Guckkasten bot enzyklopädisches Bilderwissen an und kann als Fernsehen des 18. Jahrhunderts verstanden werden. Die Umkehrung der Camera Obscura als Instrument der Projektion, als Laterna Magica, beschwor magische Kräfte , Verwandlungsbilder verschafften dem Betrachter Bewegungsillusionen, bis die Trägheit der menschlichen Wahrnehmung erkannt und durch künstliche Bewegungsabläufe überlistet wurde . Damit sind nur einige Stichworte dieser Ausstellung genannt, die jeder als eine Entdeckungsreise in das Reich der Sehmaschinen und künstlichen Bilderwelten erleben kann. In dieser Ausstellung wird der Besucher eingeladen, wie Fürst Pückler vor 170 Jahren in Paris genußvoll flanierend seine eigenen Seherlebnisse zu machen, sich Wissen über die Geschichte der optischen Medien anzueignen, in Filmen die Funktionsweisen vieler Objekte zu studieren und Grundprinzipien der filmischen Bilderfahrung selbst spielerisch nachzuvollziehen. Ausführlich werden die vielen Bilder und Objekte durch lexikalische Angaben erklärt, die das Spektrum dieser Schau als Enzyklopädie der optischen Medien abrunden. Was in unseren Städten und Straßen lange schon nicht mehr präsent ist, als heimisches Spielzeug lange schon (wie Stereobetrachter) verloren gegangen ist, all diese wunderbaren Gerätschaften und magischen Bilderwelten können jetzt und hier in dieser Ausstellung betrachtet und in gewisser Weise als Erfahrungszusammenhang „wiedergewonnen“ werden.

„Ich sehe was, was du nicht siehst!“ ist ein bekanntes Gesellschaftsspiel und heißt im Englischen „I spy with my little eye“. Es basiert auf der spielerischen Provokation mehr zu sehen als Andere, auf der Herausforderung, die Wahrnehmung zu schärfen und den Konsens über Entdecktes herzustellen, um gleich danach das Spiel erneut zu beginnen. In dieser Ausstellung ist jeder gefordert hinzusehen, sich Täuschungen hinzugeben, über die eigene Wahrnehmung nachzudenken und sich an neuen und alten Seherlebnissen zu erfreuen.

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Ich sehe was, was du nicht siehst! - Die Sammlung Werner Nekes
Sehmaschinen und Bilderwelten