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Eröffnung: Freitag, 16.05.2008, 18.00 - 20.00 Uhr

Pressetext:

Iris Kettners lebensgrosse figurale Skulpturen repräsentieren auf den ersten Blick vertraut anmutende, oft ärmliche Gestalten des urbanen Grossstadtlebens. Aus Altkleiderlumpen geformt, die mit Klebeband über Holzkonstruktionen gewickelt und mit gebrauchten Kleidungsstücken angezogen werden, erwecken die Figuren den Eindruck von Unauffälligkeit und Anonymität, der durch die bedeckten Köpfe bzw. maskierten Gesichter noch verstärkt wird. Bei genauerer Betrachtung weicht der Eindruck der Vertrautheit jedoch dem der Irritation: Kettner interessiert sich nicht einfach für eine Inszenierung der figürlichen Skulptur als Durchschnittstypen, der meist übersehen wird, sondern überspitzt dessen Unauffälligkeit durch die Substraktion jeglicher individuierender oder anderer charakterisierender Merkmale. Ihre Figuren erscheinen als Prototypen einer uniformen physischen Masse, die auf die schiere Existenz in spätkapitalistischen Gesellschaften hinweisen.

Dass Kettners Fokussierung eben dieser Masse, die gerade im 21. Jahrhundert immer grösser zu werden scheint, aktuelle gesellschaftliche Brisanz hat, wird immer wieder an den Reaktionen von Menschen deutlich, die auf ihre z.T. im öffentlichen Raum präsentierten Skulpturen treffen. Die Figuren des Projektes "Superheroes" wurden für vier Wochen auf Bänken oder Pfeilern der Bahnsteige der U-Bahn-Linie 2 am Berliner Alexanderplatz installiert, sodass sie wie lebensechte Passanten wirkten. Ihre maskierten Gesichter und ihre eher ärmliche Kleidung evozierten interessierte Kontaktaufnahme, aber auch Aggressionen und Gewalt. Offenbar rief die permanente, unbewegte Präsenz anonymisierter Durchschnittstypen im öffentlichen Raum die medial gezielt verdrängte Beharrlichkeit sozialer Missstände in Erinnerung mitsamt dem schichtenübergreifenden Problem sozialen Scheiterns, das nicht unkommentiert bleiben konnte.

Sein bedrohliches, allgegenwärtiges Potenzial wird durch Kettners "Rosa Tier" symbolisch auf den Punkt gebracht: Die auf dem Boden hockende, mit einer rosafarbenen Tiermaske und einem weissen Bademantel nur unvollständig bekleidete Figur, deren Füsse, Hände, Unterarme und Kopf ihr aus Altkleiderlumpen geformtes Innenleben sichtbar machen, wirkt wie ein Dämon, ein "tierköpfiges Mischwesen", das ganz im Sinne der Bedeutung des ursprünglich griechischen Wortes (griechisch daimon) als Schicksalsmacht oder Verhängnis den Menschen jederzeit unsichtbar begleitet.

Kettners Figuren aus der Serie "M" (Madonnen) präsentieren junge Frauen in modischer, billiger Kaufhauskleidung, die ein Kleinkind auf dem Arm tragen. Die intime Nähe zwischen Mutter und Kind erzeugt einen gewissen Kontrast zum extrovertierten Styling der Mütter, das Kampfbereitschaft bzw. erotische Kontaktaufnahme signalisiert. Dieser Gegensatz zeigt die Widersprüche zwischen Verletzlichkeit und Aggression sowie Unterwürfigkeit und Dominanz, die im Verhalten ohnmächtiger sozialer Verlierer wirken. Doch durch die Funktion der Frauen als Mütter, die durch Titel und Komposition der christlichen Ikonographie zugeordnet werden, erfahren sie eine nahezu sakralisierende Aufwertung. Die Mutterschaft wird als etwas Heiliges inszeniert.

Margit im Schlaa

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Iris Kettner