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Es gibt kaum einen anderen Künstler des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, dessen Werk so skurril, ironisch, tiefgründig und reich an Interpretationsmöglichkeiten ist wie das des belgischen Malers James Ensor. Seine von Masken, Skeletten und Phantasiegestalten bevölkerten Gemälde sowie seine theatralisch inszenierten Stillleben sind zum unverwechselbaren Sinnbild für die Absurdität des Daseins geworden und haben die deutschen Expressionisten ebenso beeinflusst wie die französischen Surrealisten. Auch in Hinblick auf Tendenzen in der Gegenwartskunst – Rückkehr zum Figurativen und Narrativen, Gleichzeitigkeit von Malerei und Zeichnung oder Manifestationen des Grotesken und Komischen – gewinnt Ensors Schaffen erneut an Aktualität. Mit etwa achtzig Meisterwerken auf Leinwand und rund sechzig Arbeiten auf Papier aus internationalen Museen und Privatsammlungen präsentiert die Schau Schlüsselwerke aus allen Schaffensperioden.

Max Hollein, Direktor der Schirn: „Die Retrospektive in der Schirn ist die erste umfassende Ensor-Ausstellung in Deutschland seit 1972. Wurde Ensor damals noch als Maler des 19. Jahrhunderts präsentiert, ist der Blick auf sein Werk heute ein anderer. Die Ausstellung in der Schirn zeigt ihn als Meister der Mo-derne, der in seiner Nonkonformität bis heute zahlreiche Künstler späterer Generationen beeinflusst hat.“

Ingrid Pfeiffer, Kuratorin der Ausstellung: „Ensors Werk ist voller unterschiedlicher Themen und Stile, die im Ganzen jedoch stärker aufeinander bezogen sind, als es auf den ersten Blick erscheint. Einen roten Faden bildet dabei der exzentrische Ensor, dessen unablässiges Experimentieren, Spielen mit kunsthistorischen Vorbildern und überbordende Phantasie wir noch heute als überraschend modern empfinden.“

James Ensor (1860 Ostende – 1949 Ostende) war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Seine Räume über dem Kuriositätenladen seiner Mutter im belgischen Ostende, die er ein Leben lang bewohnte, glichen in seinen späteren Lebensjahren einem Wallfahrtsort für Künstler, Sammler und Museumsleute, die ihm ihre Aufwartung machten. Dort, inmitten seiner Bilder und Zeichnungen, empfing er unter anderen Emil Nolde, Erich Heckel und Wassily Kandinsky. Neben Vincent van Gogh und Edvard Munch gilt er als einer der einflussreichsten Künstler der Avantgarde des Nordens.

Ensor war ein bewusster und ausgeprägter Stilpluralist. In seinem Werk dominiert das Phänomen der Gleichzeitigkeit der Erscheinungsformen, das Paraphrasieren und Wiederaufgreifen früherer Themen und Motive, das permanente Hinterfragen des eigenen künstlerischen Kosmos. Das wiederholte Aufnehmen von Sujets hat jedoch dazu geführt, dass sich in der traditionellen kunsthisto-rischen Forschung die Meinung etabliert hatte, Ensor habe alle wichtigen Themen wie Masken, Tod oder Selbstbespiegelung bereits bis ca. 1900 entwickelt gehabt und danach wenig Innovatives und künstlerisch Bedeutendes geschaffen. Selbst in den jüngeren europäischen Retrospektiven (Zürich 1983, Brüssel 1999) wurde nur eine kleine Anzahl später Werke gezeigt.

Die Ausstellung in der Schirn bezieht nicht nur das Spätwerk stärker ein, sondern zeigt durch die thematische anstatt chronologische Gliederung, dass die Brüche in Ensors Werk weniger gravierend sind als bisher behauptet. Sie präsentiert erstmals nach Themen und Motiven wie „Selbstporträt“, „Tod und Masken“, „Christusdarstellungen“, „Landschaften“, „Stillleben“, „Theater und Musik“ oder „Karikatur“ gegliedert eine Auswahl von zentralen Werken aus allen Schaffensphasen. Auf diese Weise erschließt sich Ensors künstlerisches Konzept, gliedert sich das Gesamtwerk in schlüssige Serien und eröffnet somit die Sicht auf neue Zusammenhänge. Ebenso werden Malerei, Zeichnungen und Radierungen gemeinsam präsentiert, da für Ensor die verschiedenen Medien einander bedingten.

Ensor bezeichnete sich zwar selbst als „Maler der Masken“, doch es wäre verkürzt, sein Werk da-rauf zu reduzieren. Trotzdem zählen die Arbeiten, in denen Gruppen von grotesken und verzerrten Maskengesichtern einen Totenkopf oder ein ganzes Skelett umringen, zu seinen berühmtesten. Mit den Skeletten griff Ensor ein klassisches Motiv der flämischen Tradition auf, so etwa die „Toten-tänze“ des Mittelalters, in denen das Publikum an die eigene Sterblichkeit erinnert werden sollte. Doch Ensors Alter Ego, der Tod, ist in seinem Werk nicht morbide, sondern meist humorvoll-ironisch dargestellt. Die Masken, die ihn bedrängen, sind nicht nur die Umsetzung der skurrilen und bis heute lebendigen Karnevalstradition Ostendes, sondern im übertragenen Sinn auch die Spießbürger, die ihm als Künstler mit Ablehnung und Spott begegneten. Ensors Ruhm als „Staunen erregender Kolorist“ ist bis heute besonders durch die Werkgruppe der Maskenbilder begründet, in denen er erstmals ungemischte, in kühnen Kontrasten gegeneinander gestellte Farben verwendete.

Masken und Totenköpfe finden auch oft Eingang in Ensors Stillleben, für die der Souvenirladen seiner Mutter in Ostende als eine Art „Kunst- und Wunderkammer“ des Alltags diente – ein Sammelsurium von Muscheln, Chinawaren, Andenken, ausgestopften Tieren und Kuriositäten aller Art. In seinem gesamten Werk, besonders aber in den Stillleben, spiegelt sich diese skurrile Welt auf das Deutlichste.

Eine weitere wichtige Themengruppe bilden die Selbstporträts. Im Frühwerk begegnen wir Darstellungen des jungen Künstlers, klassisch an der Staffelei stehend, mit einem Blumenhut als ironischem Kommentar zum großen Vorbild Rubens. Ebenso vereinnahmend sind Selbstporträts als melancholischer Pierrot oder als Christus, der von den Kritikern mehrfach gekreuzigt wird und als Antwort auf die jahrelangen Verrisse und Missbilligungen des erst in späten Jahren zu Ehren gelangten Künstlers gelten kann.

Ensor richtet seinen Blick jedoch nicht nur auf den Menschen, sondern auch auf die Landschaft. Das Licht als Ensors großes Thema sowie der Einfluss des berühmten englischen Malers William Turner lassen sich an einigen frühen Meereslandschaften ablesen. Dass Ensor sein Leben in Ostende an der See verbrachte, wurde von ihm selbst besonders hervorgehoben: "Ich lebe aus dem Meer", sagte er oft, und: "Die See ist meine wichtigste Inspirationsquelle". In diesen Arbeiten werden bereits atmosphärische Bildräume geschaffen, die sich zunehmend abstrakt und als "reine Malerei" begreifen lassen. Der unendliche Horizont, über den sich ein hoher Himmel wölbt, wird auch im Spätwerk wieder aufgegriffen, wenn der Karneval am Strand von Ostende erneut zum Thema wird. Neben den unterschiedlichen Themen sind es vor allem Ensors künstlerische Innovationen, die seine virtuos gemalten Bilder, seine Zeichnungen und seine bedeutsamen Radierungen auszeichnen. Kompositorisch trat Ensor besonders durch seine theatralischen, bühnenartigen Inszenierungen, seine Bild-im-Bild-Kompositionen sowie seine panoramahaften Bildlandschaften hervor, die typischerweise durch ein am Bildrand platziertes Publikum eingerahmt werden. Seine ungewöhnlichen Perspektiven und angeschnittenen Szenerien erinnern frappierend an heutige Bildlösungen.

Die Ausstellung „James Ensor“ wird durch den Verein der Freunde der Schirn Kunsthalle e. V. gefördert.

KATALOG: „James Ensor“. Hg. von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein, Schirn Kunsthalle Frankfurt. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Essays von Joachim Heusinger von Waldegg, Ingrid Pfeiffer, Rudolf Schmitz und Xavier Tricot sowie Texten von Sabine Bown-Taevernier, Susan M. Canning, Katharina Dohm, Patrick Florizoone, Eva Linhart und Xavier Tricot. Deutsche und englische Ausgabe, ca. 300 Seiten, ca. 204 Farbabbildungen, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2005, ISBN 3-7757-1702-1 (deutsch), ISBN 3-7757-1703-X (englisch)

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