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Wie zuletzt die Ausstellung Faces in the Crowd / Volti nelle Folla in London und Turin gezeigt hat, sind soziokulturelle Fragen, die Wahrnehmung des Einzelnen durch die Masse und die Sicht des Einzelnen auf die Masse ein beständiges Thema künstlerischer Auseinandersetzung. Wie bewegt sich der individuelle Mensch in der modernen Metropole, wie inszeniert er sich selbst und wie trägt er seine vermeintliche Individualität zur Schau? Das Verständnis von Identität ist sowohl im historischen als auch im zeitgenössischen Kontext zeit- und kulturgeschichtlich bedingt und trotz allen Individualitätsbestrebens immer auch mit gängigen Vorstellungen von Schönheit, Ästhetik und Stil geknüpft. Wie wir uns anziehen, ist nicht immer nur Ausdruck unserer selbst, sondern dessen, was wir vermitteln und sein wollen. Kleidung fungiert in diesem Sinne als Identifizierungscode - ein zentrales Thema im Werk von Jochen Twelker.

Ornamente und Muster erlangen nach den im 20. Jahrhundert lange Zeit vorherrschen puristischen Tendenzen in der Mode, Kunst und Architektur mit Ausstellungen wie Die Macht des Ornaments im Belvedere in Wien neue Aktualität, wobei der konzeptuelle Ausgangspunkt die von Adolf Loos 1909 in Ornament und Verbrechen formulierten Leitgedanken sind. Die Frage nach der Symbolfunktion, kulturellen Aussagekraft und potentiellen Geschichtsträchtigkeit von Ornamenten und Mustern konterkariert ihre Verurteilung durch Loos und beschränkt sie nicht länger auf einen reinen Dekorationswert. In Jochen Twelkers neuester Arbeit I’m not there, die als Auftakt einer Reihe verstanden werden kann, greifen beide Untersuchungsfelder – die soziokulturelle Studie und mit zeitgenössischen Konnotationen und Bedeutungen belegte Muster und Motive – ineinander über. Dass der Titel der Arbeit auf den gleichnamigen Film von 2007 zurückgeht, in dem sechs verschiedene Schauspieler einzelne Phasen aus dem Leben Bob Dylans darstellen, erscheint wie ein deutlicher Verweis auf das im Bild - neben formalen Aspekten - offensichtliche Thema: das Verständnis von Identität und Individualität im urbanen Kontext. Wie der Bildtitel bereits suggeriert begründen Präsenz und Absenz dabei eine Twelker eigene Bilddialektik.

I’m not there basiert auf einer gefundenen Bildvorlage, die eine alltägliche Verkehrssituation in Tokio zeigt. Twelker macht sich die Situation von Chaos und Massenbewegung zu Eigen, in dem er sie für die Inszenierung der verschiedenen Muster und Motive der Kleidungsstücke nutzt. Da kein Muster exakt dem anderen gleicht, individualisiert er seine „Darsteller“, lässt sie aber gleichzeitig wieder in der farbgewaltigen Masse, in der Anonymität verschwinden. Ihre Gesichter undefiniert belassend macht Twelker deutlich, dass es ihm primär um Verhaltens- und Selbstdarstellungsweisen des Menschen in einem scheinbar unbeobachteten Moment geht. Die Ambivalenzen setzen sich in der Kontrastierung der kontrollierten Muster und Motive mit der scheinbaren Unkontrollierbarkeit der Situation fort. Als ignorierte Ordnungsprinzipien unterstreichen die Zebrastreifen dieses Gegensatzpaar von Ordnung und Chaos. Durch die Dynamik der Bildsituation entspricht die Bildwirkung einem Filmstill.

Indem Twelker die Kleidungsstücke nicht erfindet, sondern auf ein aus jahrelanger Beobachtung resultierendes Repertoir zurückgreift, doppelt sich der durch die Bildvorlage bereits gegebene Realitätsbezug. Jedes Kleidungsstück birgt in diesem Sinne seine eigene Geschichte und dient nicht nur dem formalen Experiment. Die japanische Bildvorlage ist lediglich der Aufhänger einer generellen Beschäftigung mit der Idee von Individuum und Masse.

Twelker erweitert in I’m not there das Prinzip seiner ausschnitthaften Porträts von Kleidungstücken, die lediglich die Körperformen ihrer Träger andeuten, indem er letztere zwar eingeschränkt, aber dennoch zu Individuen werden lässt. Obwohl zuerst entstanden erscheinen Bilder wie Belle de Nuit, Striptease, Miss Morris oder Vertigo nun wie bewusste Ausschnittvergrößerungen aus I’m not there. Uta Ruhkamp, 2009