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Wiedereröffnung am 16. Juni

John Akomfrah

21. Februar – 21. Juni 2020

Der Filmemacher und Drehbuchautor John Akomfrah untersucht in seinen atmosphärischen Filmen dieStruktur von Erinnerung, die Erfahrungen von MigrantInnen in ihren Diasporen und die historischen,gesellschaftlichen und politischen Hintergründe des Postkolonialismus. Als Gründungsmitglied deseinflussreichen Black Audio Film Collective (1982–1998) arbeitet er bis heute mit seinen Künstler-gefährten David Lawson und Lina Gopaul zusammen. Schon früh etablierte er den vielschichtigenvisuellen Stil seiner filmischen Essays, für die er Archivmaterial aus verschiedenen historischen Epochen,Texte aus literarischen und klassischen Quellen und neu gefilmte Sequenzen kombiniert und aufpoetische Weise ineinander schneidet. Seine filmischen Montagen widersetzen sich dabei stets einereinzelnen Erzählung oder historischen Chronologie. Vielfach bestehen die immersiven Videoinstallationendes Künstlers auch aus mehrkanaligen Bildkompositionen, in denen er mittels Gegenüberstellungen undDialogen zwischen den Bildern und Sounds die unterschiedlichen Momente und Erzählungen auslotet.

In der Secession zeigt John Akomfrah drei Filminstallationen, die sich thematisch ergänzen: DieDreikanal-ProjektionVertigo Sea (2015) sowie die zwei einfachen ProjektionenPeripeteia(2012)undMnemosyne (2010). Ein wiederkehrendes und alle drei Filmarbeiten verbindendendes Motiv ist dabei dasWasser. Es fungiert als Gedächtnisspeicher und bezeichnet in seiner unermesslichen Form des Ozeansjenen Ort, an dem die kolonialen Eroberungen und der transatlantische Sklavenhandel ebenso Formannahmen wie heutige Migrationsbewegungen.

In Vertigo Sea fokussiert der Künstler zudem den Klimawandel und verhandelt die komplexenVerflechtungen zwischen der Zerstörung der natürlichen Welt durch die Menschheit und derenSelbstzerstörung. Überwältigende Naturaufnahmen bilden den Hintergrund für eine vielschichtigeVerschränkung von Geschichte, Fiktion und Philosophie.

Die Palette der Bilder umfasst neben gefundenem Material aus dem BBC-Archiv für Naturfilme auchAusschnitte aus TV-Reportagen über die Walfangindustrie und Flüchtlinge im Mittelmeer sowie neu geschaffene Aufnahmen, die auf der Insel Skye, den Färöer-Inseln und im Norden Norwegens gedrehtwurden. Die Montage der Bilder wird abgerundet durch eine Komposition aus Walgesängen, Musik von Streichorchestern, Lärm von Gewehrschüssen und Explosionen und der Lesung literarischerMeisterwerke, die das Meer thematisieren, wie beispielweise Herman MelvillesMoby Dick, VirginiaWoolfsTo the Lighthouse und Heathcote Williams’ GedichtWhale Nation.

Mehrfach ist eine Figur in einer historischen Uniform zu sehen. Sie verkörpert Olaudah Equiano(1745–97), der als ehemaliger Sklave ein Kämpfer für das Verbot des Sklavenhandels und der Verfassereiner damals breit rezipierten Autobiographie war. Geboren in der Igbo-Region im heutigen Nigeria, wurde er als Zehnjähriger an Sklavenhändler verkauft, nach Amerika verschifft und mehrfachweiterverkauft, bevor es ihm mit Anfang Zwanzig gelang sich freizukaufen. Fortan führte er einselbstbestimmtes Leben: Er arbeitete auf verschiedenen Handelsschiffen, nahm an einerForschungsreise in die Arktis teil und verbrachte schließlich seinen Lebensabend in England. Akomfrahstellt Equiano einsam und verloren auf das Meer blickend in einer Form dar, die an die romantischenGemälde von Caspar David Friedrich erinnert. Dadurch wird er für die BetrachterInnen zu einerpotenziellen Identifikationsfigur. Mit ihm blicken wir auf die Komplexität der dargestellten Realität, in dererhabene Schönheit und existenzieller Schrecken gleichermaßen und gleichzeitig zu finden sind.

Durch die vielfache Gegenüberstellung scheinbar unvereinbarer Erzählstränge eröffnet Akomfrah in Vertigo Sea ungeahnte Deutungshorizonte. Dem Titel der Arbeit entsprechend, verdichten sich dieErzählstränge zu einer Art schwindelerregendem Strudel, in dem die Verflechtungen von geopolitischenKonflikten, die immer noch virulente Geschichte von Kolonialismus, Sklaverei und Migration und dieUnterwerfung der Natur durch die moderne kapitalistische Gesellschaft auf eine Zeit und Raumübergreifende Art und Weise sichtbar werden.Die beiden anderen Filme,MnemosyneundPeripeteia, sind Meditationen über das Leben in Diasporenund das Wesen der Erinnerung beziehungsweise auch das Verschwinden in der Geschichte. In Peripeteianimmt Akomfrah einige der ersten Darstellungen von schwarzen Menschen in der westlichen Kunst wieAlbrecht Dürers Charakterstudien Porträt eines Afrikaners (1508) undPorträt von Katharina(1521) alsAusgangspunkt, um nach dem Schicksal der dargestellten Menschen zu fragen und ihre Geschichtenneu zu denken. Gezeigt wird die Wanderung der anonymen Figuren, die durchnässt und verloren durcheine menschenleere Landschaft streifen. Der Film erinnert daran, wie sehr schwarze Identitäten demVergessen ausgeliefert sind; ein Umstand, der sich unter anderem auch in der langen Marginalisierungvon Bildern von Schwarzen in der Kunstgeschichtsschreibung ablesen lässt.

Mnemosynewiederum verhandelt die Geschichten von Nachkriegsimmigranten in Großbritannien.Akomfrah gliedert den Film in neun Kapitel, die er jeweils einer Muse widmet. In der griechischenMythologie gelten die Musen als Töchter von Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung. Indem der Künstlereine große Bandbreite an Archivmaterial neu zusammenstellt, fragt er nach dem Wesen der Erinnerungund forciert eine Geschichtsschreibung, die das persönliche ebenso wie das kollektive Gedächtniseinbezieht. Das historische Filmmaterial kombiniert er mit Aufnahmen von schwarzen Menschen in verschneiten Landschaften. Ähnlich wie Equiano in Vertigo Sea und die anonymen Figuren in Peripeteiazeigt er sie an Orten, wo wir sie trotz besseren Wissens nicht gewohnt sind zu sehen. Akomfrahunterstreicht damit die Erfahrung der Dislokation und den Verlust der Verankerung und verdeutlichtzudem, dass hier westliche Kulturgeschichte aus migrantischer Perspektive neu vermessen undvergegenwärtigt wird.

John Akomfrah, geboren 1957 in Accra, Ghana, lebt und arbeitet in London.

Das Ausstellungsprogramm wird vom Vorstand der Secession zusammengestellt.
Kuratorin: Annette Südbeck

Ausstellungsgespräch
Freitag, 21. 2., 18 Uhr
John Akomfrah im Gespräch mit Osei Bonsu
Osei Bonsu, Curator International Art, Tate Modern London Gesprächauf Englisch

Eine Veranstaltung der Freunde der Secession

Dialogführung
Sonntag, 15.3., 11 Uhr
Annette Südbeck, Kuratorin, und Andreas Ungerböck, ray Filmmagazin, führen durch die Ausstellungvon John Akomfrah