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Mit der raumgreifenden Installation Cut and Run, die sie eigens für das Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr entwickelt hat, eröffnet Julia Oschatz ein neues Kapitel ihres enzyklopädischen Projektes Paralysed Paradise. In diesem spielt ein merkwürdiges, gesichtsloses Mischwesen mit langen Ohren - halb Mensch, halb Tier, weder männlich, noch weiblich - die Hauptrolle. Egal wohin uns die Reise in Oschatz' begehbaren, aus Pappkartons gefertigten Ruinen, Höhlen oder Schiffe, in ihren gezeichneten, gemalten, gefilmten oder animierten Landschaften führt, die Stellvertreterfigur mit ihrer Tarnkappe war schon vor uns da, um als Abenteurer fremde Landschaften zu erkunden und mögliche Erfahrungen zu prüfen. Julia Oschatz bedient sich aus dem großen Fundus vorhandener Bilder und Geschichten. Dabei greift sie einerseits das Thema des durch Jahrhunderte mit vielfältigen Metaphern belegten Natur- und Landschaftsbegriffes auf, um es mit dem nicht minder metaphernreich besetzten Klischee des Heldentums zu kombinieren. Cartoons, mittelalterliche Druckgrafik, Expeditionsberichte, Abenteuerfilme, Reiseprospekte, Computerspiele oder Highlights der Kunstgeschichte dienen ihr gleichermaßen als Vorlagen wie als Aktionsraum.

Da sich das identitätslose Wesen stets in klischeehaften Bildern wieder findet, ohne so recht zu wissen, wie es dorthin gekommen ist, stellt es die Frage, wie es aus diesen Bildern und ihren Vorstellungsräumen wieder herauskommt.

Kleinformatige, von einem bleichen Grauton überschattete Landschaftsdarstellungen werden in Petersburger Hängung wie Ausschnitte aus Filmsequenzen präsentiert. Schnell wechselnde Erzählfragmente und eine offene Dramaturgie kennzeichnen die Videoarbeiten, die aus einem Mix an geklauten Filmschnipseln, eigenen Aufnahmen und Zeichnungsanimationen bestehen. Unter Hinzuziehung von Sprach- und Symbolspielen webt die Künstlerin ein dichtes Netz an widersprüchlichen Bezügen und Bedeutungen, in dem sich die hybride Stellvertreterfigur zurechtfinden muss. Da sie jedoch keine Augen hat fehlt ihr die Orientierung. Dieser skurrile Umstand führt zu Handlungen, die den vorgegebenen Szenerien stets zuwiderlaufen. Mit Witz und Humor thematisiert Julia Oschatz unser Verhältnis zu Kunst, Utopien und der Konstruktion von Realität. Dabei wirft sie vor allem Fragen auf, die um die Verortung des Ich im eigenen Körper und in der Gegenwart kreisen.

Der Titel der Mülheimer Ausstellung ist zugleich der Titel von Julia Oschatz' neuestem Video. Cut and Run, aufgeschnappt im Seefahrtsbereich, besagt, dass im Falle eines Angriffs der Kleinere und Schwächere Leinen und Anker kappen und die Flucht ergreifen soll. Dieser Ausspruch findet im Video sein Pendant in einer an Fäden hängenden und auf der Stelle tretenden Gliederpuppe, die durch diese Empfehlung erst recht manövrierunfähig gemacht werden würde. Zentrales Motiv des Clips ist wie schon in anderen Arbeiten ein Bild von Caspar David Friedrich. In der Szenerie der Kreidefelsen auf Rügen (um 1818) macht sich, fast 200 Jahre später, das Wesen von Julia Oschatz auf den Weg, um das Terrain zu erkunden. Es ergötzt sich natürlich nicht, wie die Figuren des Bildes, ehrfurchtsvoll und schaudernd ergriffen, nur am Anblick. Es steigt hinab in den geheimnisvollen, verborgenen Ort. Unten angekommen stolpert es durch staubiges, gar nicht mehr erhabenes Geröll und versucht vergeblich, aus der isolierten Bucht herauszukommen. Im Gegensatz zu den Rückenfiguren des romantischen Malers, die stellvertretend für den Betrachter eingesetzt sind, winkt es uns freundlich und um Hilfe rufend zu.

Das Video ist Leitmotiv der Ausstellung und kann in einem monumentalen Pappkartonschiff betrachtet werden. Die Schiffsattrappe steht im Zentrum einer vielteiligen, theatralisch inszenierten und dicht ineinander verzahnten Erlebniseinheit, die jedoch nie pathetisch wirkt, sondern auch im Dreidimensionalen bei aller Ernsthaftigkeit der aufgeworfenen Fragen für Kurzweiligkeit sorgt. Motive wie Schiff, Leuchtturm und Insel sind facettenreich als sprechende Bilder eingesetzt.

Julia Oschatz wurde 1970 in Darmstadt geboren und lebt in Berlin. Sie studierte von 1989-1993 und von 1995-1998 an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, 1993/1994 an der Städelschule in Frankfurt/Main. Sie erhielt verschiedene Stipendien und absolvierte von 1998-2000 Aufbaustudien in Reykjavik und Bourges. Sie zeigte bislang ihre Arbeiten in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen. Für eine Reihe von Theaterprojekten entwarf sie Bühnenbilder und Computeranimationen. Die Ausstellung im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr in der Alten Post ist ihre erste Museumsausstellung.

Ein Katalog mit aktuellen Aufnahmen der Ausstellung und Texten von Beate Ermacora, Ludwig Seyfarth und Ines Wiskemann erscheint in Kürze.

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