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»Eine Luft, die Schillern angenehm war, drückte auf mich wie Gift. Einmal in seiner Abwesenheit setzte ich mich an seinen Schreibtisch. Ich hatte aber nicht lange gesessen, als ich mich von einem heimlichen Übelbefinden überschlichen fühlte, welches sich nach und nach so steigerte, dass ich einer Ohnmacht nahe war. Endlich bemerkte ich, dass aus einer Schieblade neben mir ein sehr fataler Geruch kam. Als ich sie öffnete, fand ich zu meinem Erstaunen, dass sie voll fauler Äpfel war. Frau von Schiller sagte mir, die Schublade müsse immer mit solchen Äpfeln gefüllt sein, indem dieser Geruch Schillern wohltue und er ohne ihn nicht leben und nicht arbeiten könne.« (Johann Wolfgang von Goethe am 7. Oktober 1827 zu seinem Sekretär Eckermann)

Diese Vorliebe Schillers stammt vermutlich aus seiner Kindheit: Sein Vater sperrte den Jungen, wenn er nicht brav war, in eine kleine Kammer ein, in der unter anderem Äpfel lagen. Hat der junge Schiller in der Kammer geträumt, gedichtet, sich Geschichten ausgedacht? Jedenfalls schien der Geruch fauler Äpfel für Schiller bei der Arbeit unabdingbar zu sein.

Kerstin Schröder und Peter Stauss zeigen eine Zusammenstellung von Porträts (Schröder) und bemalten Äpfeln (Stauss). Wie Porträts von Ratsherren oder eine fürstliche Ahnengalerie dominieren die Bilder die Wand. Die Äpfel, selbst Insignien der Herrschaft (Reichsapfel), sind mit allerlei Symbolen der Macht versehen und liegen auf dem Boden. Dort faulen sie wie in der Ratssitzung schlafende Gemeinderäte unter den Blicken der ausnahmslos weiblichen Porträtierten vor sich hin.

Der Ausdruck von Freudentränen, den Schröder hier seriell zeigt (großer Raum), ist als bildhafter Begriff jedem bekannt. Tatsächlich finden lassen sich Bilder von Freudentränen in Filmen, in der bildenden Kunst jedoch kaum. Diesen insbesondere Frauen zugeschriebenen Emotionsausdruck musste die Künstlerin selbst nachstellen, um Vorlagen zu finden: Tränen als vor allem weiblich konnotierte Zeichen des instabilen Subjekts, das sich immer wieder neu konstituieren muss, haben als Symbole eigentlich keinerlei gesellschaftliche Relevanz, sind aber dennoch als Zeichen intstitutionalisiert. Die Emphase, auf die die Tränen eventuell hinweisen, ist jedoch insbesondere in Schillers Ästhetik als moralisch bedeutsam gekennzeichnet. Doch welche Emphase ist die sittlich „richtige“? Arachnes Hochmut handelte ihr einen Wettstreit mit Athene ein. Sie konnte aufgrund ihres handwerklichen Geschicks zwar gegen die Göttin bestehen, ihre Darstellung des frevelhaften Verhaltens der Götter brachte ihr jedoch Athenes Zorn ein und als Arachne sich daraufhin selbst töten wollte, verhinderte die Göttin dies aus Mitleid und verwandelte die Sterbliche stattdessen in eine Weberspinne (kleiner Raum).

Der Apfel als Gefährte diente schon Cezanne als Gegenüber und Bezug, um sich Faktizität zu verschaffen. Auch bei Giacometti lagen vier Äpfel auf dem Pult, die mit Fäden verbunden ein Wirklichkeitsnetz knüpften. Höchst fragwürdig wird mit dem Zerfall des Apfels, seiner Veränderung und seinen Metamorphosen jedoch die Dauerhaftigkeit dieser Realität. Die Phänomenologie des Vergänglichen lässt Stauss zudem von einer Parade aus Symbolen der Macht begleiten: Wappen, Markenzeichen, religiöse Zeichen, Streetculture-Icons überlagern sich auf den verschrumpelnden Äpfeln zu einem Spielfeld kollabierender Männlichkeit und einer Enzyklopädie des Ikonischen.

Die Form der Ausstellungs-Präsentation kommentiert zudem den gestalteten Auftritt des privaten Raumes: Die private Inneneinrichtung ahmt bis Ende des 19. Jahrhunderts den repräsentativen Stil öffentlicher Räume nach. Das Ausstaffieren der Privaträume findet in seiner erdrückenden Fülle einen ersten Höhepunkt im Biedermeier. Leergefegt durch Expressionismus und Bauhaus, wieder angefüllt mit den Symbolen des Wirtschaftswunders, silbrig glamourös strahlend in den Boomjahren am Ende des 20. Jahrhunderts bietet das Wohnzimmer die Bühne, die durch ihre Ausstattung vor allem den gesellschaftlichen Status und das Selbstverständnis der Bewohner untermalen soll.

Die strenge, herrschaftliche Anordnung der Frauen-Porträts und der häuslich liebliche Reigen der männlich gekleideten Äpfel tanzen in den Räumen des 1989 fertig gestellten Plattenbaus einen Ball Paradox, bei dem die Damen, die Herren scheinbar nicht nur auffordern, sondern fordern. Oder lösen die zerfallenden, verschrumpelnden Zeichen Freudentränen aus? Die Verschwisterung von Zeichen und Schematismus, von Präsenz und Repräsentation, Idealität und Identität, verwies bislang auf eine spezifische Grammatologie, deren Ordnung hier zugleich Folie ist und doch zusammengebrochen scheint. Darüber hinaus schimmert der Dualismus von Natur und Kunst auf, den Schiller mit den Begriffen des Pathetischen und des Erhabenen zu greifen suchte. Während vor dem Fenster der Friedrichstadtpalast für die Diskussion der Aufklärung um das Theater als sittliche Besserungsanstalt stehen mag, zeigen Schröder und Stauss im häuslichen Ambiente die leidende, triebhafte Natur und die überlegenen, geistigen Kräfte in einer Ko-Präsenz, die allerdings keinesfalls friedlich ist.

Der Titel der Ausstellung verweist auf die Episode „Gestern kam eine Ohnmacht zu mir“ aus Franz Kafkas Oktavheften (Oktavheft B, I 19, 1916-1918). Die handschriftliche Textsammlung stellt die Bruchstücke eines an die Topographie des Schriftträgers gebundenen Schreibstromes dar. Die Ohnmacht als von Kafka häufig verwendetet Bild verweist hier möglicherweise auf eine Beschreibung der eigenen literarische Tätigkeit über deren konzeptuelle Reflexion hinaus bis hin auf den physischen Akt des Schreibens.

Mit „Gestern kam eine Ohnmacht“ von Kerstin Schröder und Peter Stauss wird eine Reihe eröffnet, in der Künstlerpaare in der Bibliothekswohnung der Kuratorin und Autorin Anna-Catharina Gebbers zum Teil zum ersten Mal gemeinsam ausstellen. Ebenso wie alle anderen Veranstaltungen werden die temporären Installationen, Performances und Präsentationen die räumliche und örtliche Spezifik der Bibliothekswohnung sowie die Schnittstelle zwischen Öffentlichem und Privatem kommentieren. Die nächste Ausstellung dieser Serie werden am 29. Juli Alexander Heim und Nicole Wermers bestreiten.

Pressetext

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Kerstin Schröder + Peter Stauss
Gestern kam eine Ohnmacht
27.05.06, 11-15 Uhr