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03.09.2021 – 14.11.2021
Eröffnung: 02.09.2021

Kevin Jerome Everson: Recover

Online Viewing Room:
https://halle-fuer-kunst.at/ausstellungen/kevin-jerome-everson-recover/

Der Künstler Kevin Jerome Everson (*1965 Mansfield, lebt in Charlottsville) zählt zu den renommiertesten Experimentalfilmemachern unserer Zeit. Die unmittelbare Nähe zu den gefilmten Personen, die unterschiedlichen afroamerikanischen Lebens- und Arbeitswelten angehören, kennzeichnen das langjährige Schaffen des Künstlers. Die Einzelausstellung des Künstlers wird im großzügigen Erdgeschoss der HALLE FÜR KUNST Steiermark präsentiert und gibt einen Überblick ins langjährige Schaffen des Künstlers.

Galileo Galilei führte zu Beginn des 17. Jahrhunderts erstmals das Teleskop in die Astronomie ein. Als erster Mensch blickte er auf Mondkrater, entdeckte Sonnenflecken, die vier Monde des Jupiter und sah die Ringe des Saturns. Mehr als vierhundert Jahre später blicken wir auf eine totale Sonnenfinsternis. Condor (2019), ein achtminütiger Schwarz-Weiß-Film, mit einer analogen 16mm-Kamera gedreht, hält ein astronomisches Ereignis fest, wie es am 2. Juli 2019 in der Region rund um den Südpazifik zu beobachten war.

Der Experimentalfilmemacher Kevin Jerome Everson befand sich an diesem Tag im Norden von Chile und richtete gegen 19:22 Uhr Ortszeit seine Kamera gen Himmel. Die Arbeit Condor (2019), benannt nach dem Greifvogel und Nationalsymbol des Landes, nimmt den kompletten Hauptraum der HALLE FÜR KUNST Steiermark ein und initiierte die groß angelegte Ausstellung. Die Entscheidung des Künstlers, die Finsternis mit einem Schwarz-Weiß-Film festzuhalten, spiegelt seine Sensibilität für das essentielle Wesen der Dinge wider: zum Höhepunkt des Filmes, bei dem sich der Mond vor die Sonne schiebt, ist diese nur noch als weiß glühender Ring zu sehen. Das minimalistische Bild auf das man blickt könnte für ein paar Sekunden unbestimmt vieles wiedergeben: eine runde Zelle, die Linse der Kamera oder eine Pupille.

Neben der Projektion des Filmes befinden sich in der Halle zwei Objekte, die der Künstler auf einfache Sockel platziert. Die beiden Arbeiten sind aus Bronze und Kunststoff gegossene Ferngläser und gehören zu einer Serie von Werken, die in manchen Filmen als Requisiten auftauchen.

In den Filmen Cardinal (2019) oder Brown Trasher (2020) konzentriert sich die Kamera auf Menschen, die Vögel beobachten. Suchend blicken sie in den Himmel. Doch während die Betrachter​innen der beiden Filme wiederum die Suchenden beobachten, sehen deren Darsteller​innen durch die Werke ins Nichts. Die Konstellationen dieser unterschiedlichen Blickachsen sind nicht nur für die formale Konzeption der Ausstellung relevant, sondern durch sie wird auch ein Nachdenken über Perspektive im gesellschaftlichen Sinne möglich: So definieren die oftmals stark eingeschränkten sozialen und ökonomischen Bedingungen die Lebenswelten schwarzer Amerikaner_​innen und deren Fähigkeiten, ob und wie lange das eigene Leben selbst voraussehbar beziehungsweise gestaltet werden kann.

Obwohl Recover fast nur aus der Präsentation von Filmen besteht sind es die beiden Objekte aus Bronze und Kunststoff, die hier eine Öffnung der Black Box, also des kinematischen Raumes innerhalb der Ausstellung anstoßen und die Narration weitertragen. So ist es nicht verwunderlich, dass das Abformen von Alltagsobjekten und das mehrfache Abgießen dieser Objekte in Metall oder Kunststoff zu einem integralen Bestandteil der Praxis des Künstlers gehört.

Dieses Interesse für die serielle Produktion von Werken findet man ebenfalls in seiner Arbeit mit der Kamera. So wie jeder Abguss in seiner Materialität und Beschaffenheit einzigartig ist, ist auch jeder Film mit dem vermeintlich gleichen Motiv, wie einer Sonnenfinsternis, die auch im Zentrum des Films Polly One I (2018) steht, in seiner ​„Stofflichkeit” einmalig. Das Arbeiten mit der 16mm-Kamera, der Mechanik und Reibung zwischen dem Apparat und dem Zelluloidfilm, den unterschiedlichen Lichtverhältnissen und der manuellen Kameraführung lässt ​„Fehler” entstehen, die sich in das Zelluloid und so auf der Oberfläche der Bilder einschreiben. Die Hingabe zur Materialität der Dinge, der analogen Herstellungstechnik und der handwerklichen Produktion, formen den Kern der Praxis des Künstlers. Sie zeichnen seine einzigartige Herangehensweise aus, Film und Objekt in Beziehung zu setzen.

Diese besondere Sensibilität drückt sich in der Ausstellung ebenfalls in der Verwendung eines 16mm-Projektors aus, dessen mechanisches Rattern aus dem Seitenflügel in die restlichen Ausstellungsräume dringt und eine ständige Erinnerung an die fortwährende Leistung der Maschine ist, die das Bild erzeugt und an die Wand wirft. Recovery (2020), der als Inspiration für den Titel der Ausstellung diente, wurde auf der 14. Flieger-Ausbildungsstaffel (14th Flying Training Wing) der US-Air Force in Columbus, Mississippi gedreht und gehört im Oeuvre des Filmemachers zu den Arbeiten, die sich mit den Arbeitsabläufen von Afroamerikaner_​innen beschäftigen, die als Streitkräfte für die USA tätig sind. Auch in dieser Arbeit spielt der Himmel, wenn auch nur im Kontext der Narration, eine Rolle. Die Kamera richtet sich auf einen jungen Mann, der sich in der Ausbildung zum Flieger einem Schwindeltest unterzieht. Unentwegt dreht sich der Körper des Mannes um die eigene Achse, während er unterschiedliche körperliche Übungen ausführt.

Zwei weitere Filme im Zentrum der Ausstellung sind Beispiele dafür, dass Everson neben seinem Interesse für Formalismus und Abstraktion auch größtenteils Filme produziert, die essayistischen Charakter haben. Music from the Edge of Allegheny Plateau (2018) widmet sich beispielsweise Rappern und Gospelsängern in Eversons Heimatstaat Ohio und zeichnet ein intimes Porträt der Sänger, deren Musik Ausdruck ihrer Spiritualität ist. Der jüngste Film in der Ausstellung, May June July (2021), hält den bewegten Sommer 2020 durch die Linse des Künstlers fest. Gemeinsam mit dem Rollschuhfahrer Jahleel Gardner fuhr Everson nach Washington um auf der kürzlich neuernannten Black Lives Matter Plaza, die nach den Protesten rund um den Tod von George Floyd dort stattfanden, einen Film zu drehen. Die Bilder auf denen Gardner seine Runden dreht wechseln sich mit nächtlichen Aufnahmen prächtiger Pfingstrosen und in der Luft schwirrender Leuchtwürmer ab. Die Arbeit besticht durch ihre Aktualität und appelliert an unser kollektives Gedächtnis. Andererseits ist der Film exemplarisch für die subtile und poetische Herangehensweise des Filmemachers und zeigt wie durch die Aufzeichnungen von Nebensächlichkeiten politische Themen dargestellt werden können.

In der Ausstellung vereinen sich so poetische Bilder aus unterschiedlichen afroamerikanischen Lebenswelten mit den Beobachtungen von universellen Phänomenen wie dem Horizont und dem Kosmos. Durch dieses Nebeneinander entwickelt sich ein narrativer Strang, der es ermöglicht über die unterschiedlichen Bedeutungen von Perspektive nachzudenken. Ohne dass Everson konkrete Vorgaben zur Interpretation der Arbeiten festgelegt, stellt sich in der Ausstellung doch immer wieder die Frage: ​„Durch welche Blickwinkel sehen wir die Welt?“ Eine Frage, die sich kaum in einem Satz beantworten lässt, aber wesentlich ist.

Kuratiert von Cathrin Mayer

Kevin Jerome Everson
*1965 Mansfield, lebt in Charlottsville

Die Arbeit und Praxis von Kevin Jerome Everson umfasst Fotografie, Druckgrafik, Skulptur und Film. Everson hat an der University of Akron sowie an der Ohio University studiert und ist Professor für Kunst an der University of Virginia, Charlottesville. Er wurde mit dem Guggenheim Fellowship, dem Alpert Award in Film/​Video, dem Heinz Award in Arts and Humanities, dem Rome Prize der American Academy in Rom und dem Fellowship der American Academy in Berlin ausgezeichnet. Er erhielt verschiedene Stipendien, unter anderem von Creative Capital, dem National Endowment for the Arts, dem Hallwalls Contemporary Arts Center, Buffalo; dem Wexner Center for the Arts, Columbus; und dem Ohio Arts Council.

Seine Arbeiten waren Gegenstand von Retrospektiven und Einzelausstellungen im Whitney Museum of American Art, New York; Tate Modern/​Film, London; Centre Pompidou, Paris; Andrew Kreps Gallery, New York; Museum of Modern and Contemporary Art, Seoul; und dem Harvard Film Archive. Seine Werke wurden auf internationalen Filmfestivals und in Kunstinstitutionen präsentiert, darunter das Unknown Pleasures Festival, Berlin; Sundance Film Festival, Utah; International Film Festival Rotterdam; Images Film Festival Toronto; Venice International Film Festival; BFI/​London Film Festival; Internationale Kurzfilmtage Oberhausen; European Media Art Festival, Osnabrück; Viennale, Wien; BlackStar Film Festival, Philadelphia; Carnegie Museum of Art, Pittsburgh; MOCA, Los Angeles; Walker Art Center, Minneapolis; MoMA, New York; und im Smithsonian National Museum of African American History & Culture, Washington D.C. Seine Filme wurden auf der Whitney Biennale 2008, 2012 und 2017 sowie auf der Sharjah Biennale 2013 gezeigt.

Everson wird von Picture Palace Pictures, New York und der Andrew Kreps Gallery, New York; repräsentiert.