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„Ich spreche fuer Menschen, die gewohnt sind, die entsetzlichsten Bewegungen noch in der Regungslosigkeit zu erblicken“. Indem Balzac in seiner „Allgemeinen Pathologie des Soziallebens“ die gesellschaftlichen Vorstellungsbilder unter dem Mikroskop seziert, entlockt er dem Individuellen die allgemeine Bedingung und lockt aus den Bildern die zum Stillstand gebrachte Bewegung, den Gestus heraus. Schon dieser pathologisch-mikroskopische Blick auf soziale Form und Oberflaeche deutet an, was erst durch die Parallelen von Psychiatrie und Kino sowie durch heutige Formen von Biopolitik deutlich wird: dass es bei der Geste um soziale Positionierung, Mobilitaet und die Bewegung verinnerlichter Bilder geht, um die Verbindung zwischen „innerer Bewegung“ und dem Werden der sozialen Person. Und damit geht es auch darum, zu lernen, wieder bewegt zu sein, „wie Menschen, welche nichts mehr ruehrt und anruehrt, im Kino wieder das Weinen lernen“ (Walter Benjamin).

Was Balzac vorschwebte, durchdringt heute den Alltag, nicht zuletzt durch jene Industrien der Kreativitaets- und Kommunikationsstrategien, die sich die zahlreichen Wissenschaften und Pseudo-Wissenschaften von der Seele, dem sozialen Miteinander und der Produktivitaet von Affekten zu Nutze machen. Bewegt-Sein und Anders-Werden ist jetzt der Kern des Produkts: „Nach der Erlebnis-Oekonomie kommt die Transformations-Oekonomie“, propagiert eine Wirtschaftsbibel der spaeten 90er Jahre, „der Kaeufer der Transformation sagt im Prinzip: ‚Veraendere mich!’“. Veraenderung, aber nur im Rahmen des Produkts. Wenig wird zur Zeit wohl so intensiv betrieben wie „soziale Mengenlehre“, Verhaltensforschung am Menschen und den Moeglichkeiten des Zugriffs auf seine kostbarsten Gueter: Aufmerksamkeit, Emotion, Kreativitaet. Der Mensch wird in dieser hyper-pragmatischen Industrie meistens als animalische (Koerper-)Hardware verstanden, dessen humane Software seine sozialen und seelischen Kompetenzen darstellen. Womit wir inmitten einer Klinik waeren - und einer Pathologie der Gesten, denn als Gesten druecken sich diese Kompetenzen aus, als Mittel zum Zweck, deren Verinnerlichung, so hofft man, sie normalisieren und naturalisieren wird. Die Klinik ist immer nur ein Durchgangsstadium, das auch dann noch Hoffnung auf Normalitaet verspricht, wenn sie zum Dauerstadium geworden ist.

„Klinik – Eine Pathologie der Gesten“ findet an zwei Abenden statt und behandelt das Theater wie einen Ausstellungsraum, in dem, neben Installationen in den Foyers und auf der Buehne, im Zuschauerraum durch ein Programm wie von Ausstellungs-Skizzen gefuehrt wird. Denn war nicht das buergerliche Theater selbst ein klinisch-symptomatischer Raum, in dem man in dem Masse empathisch anders wird, wie man es anderswo nicht mehr kann? Michael Taussigs Eroeffnungsvortrag ueber Mimesis als derjenigen Faehigkeit zur Imitation und Repraesentation, die es erlaubt, sich die Macht des Imitierten anzueignen, nimmt hier seinen Ausgang. Sein Vortrag ueber den „Mimetischen Exzess“ und das Verhaeltnis von Gesten zu Natur schafft das Fundament dieses ersten Abends, in dessen weiterem Verlauf kurze audiovisuelle Praesentationen Verbindungslinien von Mimesis zu Imagination, zum Vermoegen von Empathie und zur performativen Geste ziehen: Die Psychoanalytikerin Suely Rolnik aus S‹o Paulo spricht ueber die Psychopathologien der Subjektwerdung und Kreativitaet seit den 70ern, die Filmwissenschaftlerin Ute Holl ueber delirierend-pathologische (Kamera-) Blicke frueher ethnographischer Filme und die Choreografien der Filme von u.a. Jean Rouch und Maya Deren. Der Kunstkritiker Jan Verwoert erklaert, was in der zeitgenoessischen Kunst auf die Gesten der Aneignung folgt: das Vermoegen der Beschwoerung, konstitutive Gesten zur Einberufung neuer Gemeinschaften. Die Praesentationen werden ergaenzt durch Videos und Filme von Catherine Sullivan und Jean Painleve, in denen ebenfalls das mimetische Anders-Werden und dessen Verhaeltnis zur Pathologie zentrale Motive sind, und Tom Holert produziert ein Video zu Persoenlichkeits- und Intelligenztests.

Der zweite Abend eroeffnet mit einem Vortrag des Theoretikers und Filmemachers Gregg Bordowitz ueber das Verhaeltnis von Denken und Affekt, von Tod und Sexualitaet, Bezug nehmend auf linke Konventionen und eine Reihe von kuenstlerischen Arbeiten, u.a. von Paul Chan und Andrea Fraser. Die anschliessenden kurzen Praesentationen und Filme kreisen um grundlegende Erfahrungen des subjektiven Positioniert- Werdens und Formen der Anrufung aus Bildung, Werbung und populaerer Kultur. Die Filmwissenschaftlerin Antje Ehmann exemplifiziert den historischen Uebergang von gestischem Schauspiel zu innerer Agitation, Armin Schaefer erklaert das Pathologisch-Werden der Gesten in der Erschoepfung und Harun Farocki untersucht heutige Formen Brechtscher Pathologien des Schauspiels zwischen Darstellung und Sein. Ausserdem zeigen wir eine neue Arbeit der franzoesischen Kuenstlerin Valerie Mrejen, des hollaendischen Kuenstlers Erik van Lieshout und einen kurzen Film des ungarischen Kuenstlers Tibor Hajas aus den 70er Jahren, mikrosoziologische Studien zur bildhaften Verbindung von Geste, Emotion und kommentierender Interpretation. Ebenso werden wiederum Videos von Catherine Sullivan und Tom Holert gezeigt.

An der Fassade, in den Foyers und auf der Buehne werden Installationen gezeigt von Liam Gillick, Antje Ehmann/Harun Farocki sowie von Joerg Heiser kuratiertes Videoprogramme zu „Slapstick“ mit Arbeiten von Kirsten Pieroth, Ed Ruscha, Annika Stroem, Barbara Visser, Jakup Ferri u.a. Die Videoinstallation „Twelve” von Barbara Kruger ist das Zentrum dieser Ausstellung: sie verschraenkt zwoelf von Alltag und Machtstrukturen handelnde persoenliche Gespraeche in einem Raum und untersucht dabei, wie Kruger es nennt, „was wir fuer andere sind”. Das musikalische Konzept der Abendprogramme wird von Stefan Schneider/Mapstation erarbeitet. An beiden Abenden findet ausserdem um 23.00 Uhr die Premiere einer Performance der Kuenstlerin Tamy Ben-Tor statt.

Mit: Michael Taussig, Gregg Bordowitz, Suely Rolnik, Jan Verwoert, Tamy Ben-Tor, Tom Holert, Harun Farocki, Antje Ehmann, Valerie Mrejen, Tibor Hajas, Liam Gillick, Barbara Kruger, Catherine Sullivan, Erik van Lieshout, Ute Holl, Armin Schaefer, Susanne Buerner, Jean Painleve, Joerg Heiser und anderen.

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KLINIK - EINE PATHOLOGIE DER GESTEN
Ein Projekt von Anselm Franke und Hila Peleg
03. und 04. November / ab 20.00 Uhr / HAU 1

mit Michael Taussig, Gregg Bordowitz, Suely Rolnik, Jan Verwoert, Tamy Ben-Tor, Tom Holert, Harun Farocki, Antje Ehmann, Valerie Mrejen, Tibor Hajas, Liam Gillick, Barbara Kruger, Catherine Sullivan, Erik van Lieshout, Ute Holl, Armin Schaefer, Susanne Buerner, Jean Painleve, Joerg Heiser ...