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Kontamination
Hannah Black, Rindon Johnson, Mire Lee, Eoghan Ryan

27.03.2021 – 16.05.2021

Pressegespräch nach Vereinbarung
ab Do, 25.03.2021

Begegnungen, Berührungen und Zusammenschlüsse sind Prozesse der Kontamination. Unterschiedliches trifft aufeinander und verändert sich. Eine Substanz, ein Lebewesen, eine Gemeinschaft wird von etwas anderem verunreinigt, korrumpiert oder befallen. Reinheit ist eine Illusion. Phantasmen der Reinheit kennzeichnen das Projekt der europäisch-westlichen Moderne. Sie finden sich u.a. in Erkenntnisprojekten, in Bestrebungen nach stabilen Kategorien, klaren Grenzziehungen und eindeutigen Identitäten. In ihrem Zentrum steht häufig die Figur eines rationalen, selbstbestimmten Subjekts – allzu oft: weiß, männlich, heterosexuell –, das für sich beansprucht, das Menschliche in seiner reinsten Form zu verkörpern.

Die Arbeiten in der Ausstellung Kontamination stellen in Frage, was als menschlich definiert wird. Sie untergraben die Idee eines unabhängigen Individuums, das in Abgrenzung zu einem Anderen seine hervorgehobene Stellung behauptet. Lebewesen sind immer ineinander verstrickt, durch unzählige Verbindungen der Kollaboration und Kontamination; sie werden durch ihre Umwelt konstituiert und selbst Körpergrenzen sind durchlässig. Sie sind eingebunden in metabolische Prozesse und Abhängigkeiten, in teils toxische Systeme, die von Ausbeutung und Gewalt, von Formen der Einverleibung und des Kannibalismus, von Mechanismen des Kolonialismus und Rassismus geprägt wurden und werden. Der Begriff der Kontamination dient der Ausstellung als loser konzeptueller Rahmen, um Arbeiten und Neuproduktionen von vier Künstler*innen zusammen zu bringen, die wiederum auf teils sich überkreuzenden Pfaden aus diesem Rahmen hinausführen. Die Ausstellung ist nicht als Kommentar zur Corona-Pandemie zu verstehen, sondern geht allgemeiner konfliktreichen Prozessen und Dynamiken zwischen Kontamination und Politiken der Reinheit nach.

Über den Verlauf der Ausstellung wird sich eine zweiteilige Tonskulptur von Hannah Black Stück für Stück selbst kannibalisieren. Ihr Video Aeter (Jack) porträtiert einen jungen, weißen Mann, der über seine Obsession des Nägelkauens spricht, während in dem Video Aeter (Sam) von einer Knochentransplantation berichtet wird. Im Zusammenspiel mit sechs von Black ausgewählten Zitaten aus verschiedenen Quellen – darunter das Manifesto Antropófago (1928) von Oswald de Andrade – verweisen Blacks Arbeiten darauf, wie Kolonialismus und Rassismus mit europäisch-westlichen Mythen und Praktiken des Kannibalismus und der Konsumption verflochten sind.

Die kinetischen Objekte von Mire Lee destabilisieren Grenzen – Körpergrenzen und andere Trennungen zwischen Subjekt und Umwelt, wie auch Grenzen zwischen Natur und Kultur, zwischen Lebewesen und Maschinen. Es sind Geschöpfe, deren körperliche Integrität angegriffen ist, aus denen Flüssigkeiten austreten, die mechanisch zucken, deren Inneres nach außen gekehrt scheint. Lee bezieht sich in ihrer künstlerischen Praxis auf die Vorarephilie, ein sexueller Fetisch, der darin besteht, dass man ein anderes Wesen bei ganzem Leib verschlingen oder von etwas verschlungen werden möchte. Für die Ausstellung produziert Lee eine neue Skulptur, die sich wie ein Parasit in der cleanen Ausstellungshalle einnistet und eine schleimige Substanz auf dem Boden verteilen wird.

Die Videoinstallation Truly Rural von Eoghan Ryan kombiniert Eindrücke von Faschingsfeiern in einer Gemeinde im ländlichen Hessen mit dokumentarischen Aufnahmen der BSE-Krise in Großbritannien. Eine Ursache des sogenannten „Rinderwahns“ lag bekanntlich darin, dass, aus Gründen der Profitmaximierung, Fleisch- und Knochenmehl wieder an Rinder verfüttert wurde. Bilder von formierten Menschenmassen überlagern sich in dem Video mit Szenen der Kontroll- und Gewaltausübung. In einer Atmosphäre drohender sozialer Unruhe und des Ekels werden Auflösungsängste und Fantasien der Homogenität beschworen. Ryans Video fragt nach den psychosozialen Dynamiken, die hinter dem Erstarken rechtspopulistischer und (neo-)faschistischer Bewegungen stehen.

Die präsentierten Arbeiten von Rindon Johnson reflektieren Abhängigkeiten und Verstrickungen zwischen Menschen, Lebewesen und Ökosystemen, die von Unterwerfung und Konsum bis hin zu Intimität und wechselseitiger Zuneigung reichen. Gegerbte Rinderhäute, die über mehrere Monate auf dem Dach des Kunstvereins der Witterung ausgesetzt waren, nehmen auf das Organ der Haut als Körpergrenze Bezug. Zugleich thematisieren sie die Verwertung von „Nutztieren“, die Parallelen zu rassistischen Ausbeutungsverhältnissen aufweist. Auch in einer Virtual-Reality-Arbeit wird die Selbstverständlichkeit in Frage gestellt, mit der Lebewesen und Ökosysteme vergegenständlicht, zerstört und verwertet werden. Der*die Betrachter*in treibt stromaufwärts durch eine Traumlandschaft; vor ihm*ihr prallen zweiköpfige Kühe aufeinander und ballen sich zu einem monströsen Knäul zusammen. Das VR-Videospiel Meat Growers: A Love Story ist in einer postkapitalistischen Zukunft angesiedelt, in der fleischerzeugende Pflanzen zur Nahrungsgewinnung angebaut werden. Doch es stellt sich heraus, dass diese Pflanzen empfindungs- und emotionsfähig sind. Ergänzend produziert Johnson für die Ausstellung eine neue Videoarbeit. Anhand der Interaktionen fremdartiger Wasserwesen visualisiert sie Momente der Berührung und des Begehrens, die einen Vorschlag darstellen, unsere Beziehungen zu anderen Lebewesen neu zu imaginieren.

Künstler*innen

Hanna Black (* 1981, Großbritannien), lebt in New York. Einzel- (EA) und Gruppenausstellungen (GA) (Auswahl): Ruin/Rien, Arcadia Missa, London, 2020, (EA); Manifesta 13, Marseille, 2020, (GA); Beginning, End, Note, Performance Space, New York, 2019, (EA); Leaving the Echo Chamber, Sharjah Biennial 14, Sharjah, 2019, (GA); Dede, Eberhard, Phantom, Kunstverein Braunschweig, Braunschweig, 2019, (EA).

Rindon Johnson (* 1990, Vereinigte Staaten), lebt in Berlin. Einzel- und Gruppenausstellungen (Auswahl): Chisenhale Gallery, London, 2021 (EA); Law of Large Numbers: Our Bodies, Sculpture Centre, New York, 2021 (EA); Circumscribe, Julia Stoschek Collection, Düsseldorf, 2019 (EA).

Mire Lee (* 1988, Korea), lebt in Amsterdam. Einzel- und Gruppenausstellungen (Auswahl): Carriers, Art Sonje Center, Seoul, Korea, 2020, (EA); Where Water Comes Together With Other Water, 15th Biennale de Lyon, Lyon, 2019, (GA); War Isn’t Won by Soldiers It’s Won by Sentiment, Insa Art Space, Seoul, 2014, (EA).

Eoghan Ryan (* 1987, Irland), lebt in Amsterdam. Einzel- und Gruppenausstellungen (Auswahl): Truly Rural, Kunstfort Vijfhuizen, Vijfhuizen, 2020, (Performance); Juvenilia, Center, Berlin, 2019, (GA); Cut It Off At The Trunk, Rowing Project, London, 2017, (EA); Oh Wickend Flesh!, South London Gallery, London, 2013, (EA).

Programm

Do, 22.04.2021, 19 Uhr
Kuratorenführung mit Heinrich Dietz

Do, 29.04.2021, 19 Uhr
Öffentliche Führung mit Theresa Rößler

Di, 04.05.2021, 19 Uhr
Purity and Contamination
Gespräch mit Alexis Shotwell (online)

Sa, 08.05.2021, 14–17 Uhr
„Ich bin kein*e Rassist*in! Oder?“
Workshop mit Rebecca Renz und Jordan Schwarz von „Dear White People … “
(mit Anmeldung)