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Es ist ein existenzielles Bedürfnis jedes Menschen sein Leben und sich selbst unter Kontrolle zu haben. Menschen wollen ihren Wünschen und Vorstellungen gemäß auf ihre Umwelt einwirken, sie als handelndes Subjekt aktiv gestalten und nicht wie ein ohnmächtiger Spielball der Umstände ins Leben geworfen sein. Sie wollen nicht von ihren Ängsten, Leidenschaften und Süchten übermannt werden, sondern Herr ihrer selbst bleiben, handlungsfähig, autonom, selbstbestimmt. Spüren sie, dass ihnen diese Kontrolle verloren geht, fühlen sie sich ausgeliefert und verloren. Der reale oder nur gefühlte Verlust subjektiver Kontrolle über die Welt führt zu emotionalen, kognitiven und motivationalen Problemen. Mit dem Verlust der Kontrolle verlieren Menschen auch ihre Selbstachtung und die Fähigkeit angemessen und sensibel auf ihre Umwelt zu reagieren; sie verkriechen sich, neigen zu Passivität und Depressionen. Gegenspieler und doch Pendant der Depression ist die Manie: auch sie äußert sich durch einen Kontrollverlust, einen Verlust der Kontrolle über die Affekte. Gefühle werden ungehemmt gezeigt und ausgelebt. Das Verhalten bewegt sich außerhalb der Ratio, die Folgen des eigenen Tuns für sich und andere werden nicht mehr bedacht. Der Unterschied zwischen der inneren und der äußeren Wirklichkeit wird nicht mehr erkannt; die Wahrnehmung der Realität ist gestört. Beispiele für die daraus resultierenden katastrophalen Folgen finden sich bereits in der antiken Mythologie: Herkules tötet im Wahnsinn seine Kinder, Medea erdolcht ihre Söhne.

Das Denken des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt ein geradezu unbezähmbares Interesse an Situationen im Bereich des Kontrollverlustes. Neue empirische Wissenschaften – Psychologie, Soziologie, Ethnologie – begeben sich in dieser Zeit ausdrücklich auf die Spuren des Verborgenen in unserer Kultur und im Inneren des Menschen, der Schlaf, der Rausch, der Wahn, die Angst, das Vergessen werden untersucht, der Rationalität und der eng mit ihr verwobenen Gewissheit der Beherrschbarkeit von Welt wird der solide Boden ihrer verstandeskühlen Selbstgewissheit entzogen, sie wird auf den schwammigen Grund von Trieb, Verdrängung und Psychose gedrängt. Nebst Wahn, Angst, Traum, Psychose werden Erotik, Sexualität, Aggression, Gewalt und deren gegenseitige Wechselwirkungen Untersuchungsgebiete der neuen Wissenschaften. Auch in der Kunst dieser Zeit ist eine der großen Neuerungen der nun stattfindende permanente Austausch zwischen Kunst und (eigenem) Leben, zwischen Wahnsinn und Genie, zwischen Tod und Sexualität bis hin zur freiwilligen Entfernung vom determinierten und determinierenden Ich und dem Auflösen der Autorenschaft. Seit dem 19. Jahrhundert arbeiten Künstler, indem sie den Paradiesen ihrer Imagination und der Hölle ihrer inneren Zwangsvorstellungen und dadurch auch den Realitäten der jeweiligen Zeit Ausdruck zu verleihen suchen. Viele Menschen fühlen sich auch heute von der Welt mit dem rasanten Wandel unserer Gesellschaften und den Auswirkungen der Globalisierung mit ihren unzähligen und unüberschaubar wirkenden neuen Problemen ausgeliefert. Der Grund mag auch darin liegen, dass es einerseits immer schwieriger wird individuelle, wirksame Kontrollmöglichkeiten zu finden, andererseits die Kontrollmöglichkeiten weltweiter Konzerne und Regierungen stetig wachsen. Die Ausstellung KONTROLLVERLUST fasst sechs künstlerische Positionen zusammen, die sich auf unterschiedliche Weise mit Kontrollverlust beschäftigen, sich ihm psychisch oder physisch aussetzen, die Entstehung des Werkes von der Künstlerpersönlichkeit Materialprozessen übergeben oder ihn mit Blick von außen kühl konstatieren und aufzeichnen.

ANTJE BLUMENSTEIN untersucht in ihrer Werkgruppe lokal Grundbedingungen von Skulptur als Gleichnis des Herstellens und Zerstörens. Schwarze PE-Folie wird in mehreren Schichten um verschiedene Materialien und Gegenstände gewickelt. Im Anschluss werden diese Schichten aufgeschnitten. Die aufgebaute Spannung der dehnbaren Folie wird brachial aufgelöst. Gleich einer Zeitlupe zieht sie sich langsam zurück, verformt sich dabei und lässt neue, nur bedingt steuerbare Formen, entstehen.

THEO BOETTGER: seine Arbeiten sind malerisch, sinnlich und von expressiver Vehemenz. Schauplatz enthemmter malerischer Aktionen entlädt sich mit ihnen die volle Dynamik eines künstlerischen Temperamentes, das sich über spontane Gesten mitteilt. Zwischen unverstellten Erlebnissen vor Ort und der kürzesten Verbindung zum eigenen Befinden entwickelt sich bei ihm eine produktive Grenzsituation, in der die soziale Psyche mit dem subjektiv-existenzbetonten Gestaltungsansatz gemeinsame Sache macht.

LISA JUNGHANSS: Scheinbar ist alles außer Kontrolle geraten. Doch keiner weiß warum. Die Lage scheint ausweglos. Es ist wie eine Flucht in eine Traumwelt. Oftmals zerbricht der Protagonist in seine verschiedenen Alter Egos. Es wird keine Lösungsmöglichkeit zwischen Wirklichkeit und Illusion angeboten. Mal scheint der Protagonist an seiner ausweglosen Situation zu zerbrechen, mal wandelt er darin herum. Sein manisch agitiertes Handeln wechselt mit depressivem, teilnahmslosen Dahindämmern. Sind seine selbstzerstörerischen Handlungen nur krankhafte Einbildungen? Junghanss Ansatz artikuliert Performance als Bemühen, das Reale darzustellen, wie es sich z.B. im Ekel, Horror, Begehren oder Traumatischen artikuliert. Dieses mit der Psychoanalyse von Lacan verbundene „Reale“ entzieht sich jeglicher Symbolisierung und macht sich vielmehr im konstitutiven Mangel für eine Symbolisierung bemerkbar: Entscheidender wird damit, was nicht dargestellt werden kann und was nicht im Bild ist Beim Rezipienten stellt sich ein Zustand der Wagheit oder Verunsicherung ein, da er mit Symptomen konfrontiert ist, die er nicht eindeutig zu interpretieren vermag.

JULIA OSCHATZ trifft mit den Ausbruchsaktionen ihrer stummen Clownsfigur einen kulturellen Autismus, der zur Kehrseite des falschen Glanzes einer massenmedial und konsumistisch übertünchten Unfreiheit in unseren Gesellschaften wird. Das seelisch abgründige Terrain, auf das sie sich so hinauswagt, ließe sich mit Ironie oder Kontrolle allenfalls fernhalten. Es ist eher eine Durchschlagung der Grenze der Ironie, ein "Facing the Fate".

CORNELIA RENZ: ihr Strich zeigt keinerlei Unregelmäßigkeiten. Die Konturen der dargestellten Gegenstände und Figuren sind von einer geradezu klassizistischen Härte, Klarheit und Eleganz; dies ist umso erstaunlicher, als die von der Künstlerin gewählten Motive durchaus zur Erregung Anlass gäben: In einem ob seiner Fülle verwirrenden Geflecht von Bildelementen mischen sich nackte Gestalten mit Darstellungen von Tieren und Gerippen, üppigen floralen und ornamentalen Mustern, geometrischen Konstruktionen und Schriftzügen zu absurden und teilweise erschreckenden Figurationen. Anlass zu Irritation gibt die Kombination eben dieser Szenen mit dem sachlichen Stil, in welchem sie vorgetragen werden. Dass das Phantastische so beiläufig nüchtern präsentiert wird, macht sie so verwirrend.

SOPHIA SCHAMA: ihre Bilder können als hybride Landschaften gelesen werden, Landschaften in denen der Mensch und sein Wirken auf die Natur inbegriffen sind. In dem Moment wo die Zerstörung den Zerstörer selbst in seinem Überleben bedroht, wird der Mensch zur Selbstpositionierung gegenüber der Natur herausgefordert. Die Natur steht den modernen Menschen als ein nicht von ihnen geschaffenes, da ‚draußen‘ gegenüber, dass dann gleichwohl von ihnen planvoll bearbeitet und beherrscht wird – während umgekehrt die Gesellschaft, obwohl Menschenwerk, menschlichen Gestaltungsbestrebungen fortwährend entgleitet, unkontrollierbar ist.

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Kontrollverlust
Kuratoren: Monique Förster, Dirk Teschner

Künstler: Antje Blumenstein, Theo Boettger, Lisa Junghanss, Julia Oschatz, Cornelia Renz, Sophia Schama