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DIE SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT ZEIGT ERSTMALS IM WESTEN DIE SPEKTAKULÄRE CHINESISCHE SKULPTURENGRUPPE „HOF FÜR DIE PACHTEINNAHME“

Parallel zum Ehrengast-Auftritt Chinas bei der Frankfurter Buchmesse 2009 zeigt die Schirn erstmals im Westen überhaupt die spektakuläre chinesische Skulpturengruppe Hof für die Pachteinnahme (chin.: Shouzuyuan). Das aus über 100 lebensgroßen Figuren bestehende Ensemble zählt zu den wichtigsten Werken der modernen chinesischen Kunst und ist fest im kollektiven Gedächtnis Chinas verankert. 1965 von Lehrern und Absolventen der Kunstakademie Sichuan als ortsspezifische Installation in Dayi geschaffen, wurde die Figurengruppe bald zu einem Musterkunstwerk der ab 1966 eingeleiteten Kulturrevolution erklärt. Von mehreren Varianten, die in den darauf folgenden Jahren angefertigt und überall im Land ausgestellt wurden, ist eine einzige bis heute erhalten geblieben. Sie wurde 1974–1978 mit hohem Aufwand als mobile Reisefassung aus verkupfertem Fiberglas realisiert und befindet sich im Kunstmuseum der Kunstakademie Sichuan in der zentralchinesischen Stadt Chongqing. In einer dramatischen Szenenfolge, die traditionelle chinesische, sowjetische und westliche Stilelemente zusammenführt, stellt das Figurenensemble die erbarmungslose Ausbeutung der Landbevölkerung durch einen reichen Grundbesitzer der vorkommunistischen Ära dar. Mit dem Ende der Kulturrevolution weitgehend in Vergessenheit geraten, wurde das Werk in den letzten Jahren wiederholt von jungen chinesischen Künstlern aufgegriffen und fand Eingang in die aktuellen Diskussionen zur zeitgenössischen Kunst in China.

Die Ausstellung wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Den Transport und die Logistik unterstützt die Schenker Deutschland AG.

Der Hof für die Pachteinnahme ist ein einzigartiges Ensemble aus insgesamt 114 lebensgroßen Trockenlehmskulpturen. Es entstand 1965 als ortsspezifische Installation in dem zur Gedenkstätte umgewandelten ehemaligen Anwesen des berüchtigten Feudalherrn Liu Wencai (1881–1949) im Landkreis Dayi in der chinesischen Provinz Sichuan. Lehrer und Absolventen der Bildhauerklasse der Kunstakademie Sichuan in Chongqing waren über das Kultusministerium der Provinz beauftragt worden, in Dayi ein repräsentatives Werk zu schaffen, das an die Ausbeutung der Pachtbauern durch den ortsansässigen Grundbesitzer in der Zeit vor der Machtübernahme durch die Kommunistische Partei 1949 erinnern sollte. In Zusammenarbeit mit lokalen Volkskünstlern entwickelte die Arbeitsgruppe innerhalb von wenigen Monaten eine monumentale narrative Komposition. Sie schildert in sieben, zum Teil auf überlieferte Ereignisse zurückgehenden Szenen wie Den Pachtzins abliefern, Zuviel verlangt und Flammen des Zorns die Situation der Landbevölkerung zur Zeit der chinesischen Republik (1911–1949). Müde, geschundene Bauern schleppen Säcke voller Getreide heran oder flehen verzweifelt um eine Stundung ihrer Pacht, die zu zahlen sie nicht in der Lage sind, während die betrügerischen Handlanger des Grundbesitzers auf brutale Weise die Pacht eintreiben, Familien auseinanderreißen und Einzelne hinter Gitter sperren. Die Darstellung endet mit dem wütenden Aufbegehren der Bauern als Hinweis auf ihre Bereitschaft zum Klassenkampf.

Wie die gesamte Kunstproduktion des neuen kommunistischen Chinas stand das Projekt unter dem eindeutigen Primat des Politischen. Eine theoretische Grundlage bildeten dabei Mao Zedongs „Reden bei der Aussprache in Yan’an über Literatur und Kunst“ von 1942. Darin hatte er seine Konzeption einer revolutionären chinesischen Kunst für das Volk formuliert. Unter Berufung auf die marxistische Kunsttheorie forderte Mao eine politisch orientierte Kunst im Dienste der Volksmassen, deren Aufgabe es sei, die Errungenschaften der proletarischen Klasse abzubilden und zu rühmen. Um diese Ansprüche erfüllen zu können, sollten Künstler mit Arbeitern, Bauern und Soldaten leben und von ihnen lernen. Die „Reden“ galten 1965 nach wie vor als richtungsweisend. Innerhalb eines klar definierten ideologischen Rahmens entstanden, stellt der Hof für die Pachteinnahme in der Geschichte der chinesischen Kunst allerdings ein Novum dar: Die Skulpturengruppe führt unterschiedliche künstlerische Traditionslinien auf beispiellose Weise zusammen. Stilelemente der klassischen und sozialrealistischen europäischen Bildhauerei verbinden sich mit der Formensprache des sowjetisch geprägten sozialistischen Realismus’. Darüber hinaus besann man sich an der Akademie in Chongqing zu jener Zeit auf eine besondere Form der chinesischen Skulpturtradition: die buddhistische Steinbildhauerei im Höhlentempel von Dazu aus der Zeit der Song-Dynastie (960–1279). Ebenso maßgeblich war ein intensiver Austausch der Künstler mit der lokalen Landbevölkerung, die nicht nur als authentische Quelle und Studienobjekt, sondern auch als kritisches Korrektiv in den Entstehungsprozess involviert war.

Neben ihrem beachtlichen Umfang waren es zweifellos die vermeintliche – durch die Ausstattung mit realen Werkzeugen und Geräten aus dem bäuerlichen Alltag untermauerte – Authentizität und unmittelbare Ausdruckskraft der Installation, die ihren sensationellen Erfolg begründet haben. Nach der Eröffnung setzte sofort ein regelrechter Besucheransturm ein, wobei es Berichten zufolge immer wieder zu hoch emotionalen Szenen gekommen sein muss. Ein Teil der Besuchergruppen war zwar organisiert, doch vielen Menschen war es auch ein echtes Bedürfnis, die Figuren zu sehen, sodass sie oft lange Fußmärsche auf sich nahmen. Aufgrund der überwältigenden Resonanz sowohl bei der Landbevölkerung als auch unter hochrangigen Offiziellen fand noch 1965 in Peking eine Ausstellung mit Kopien von 40 der 114 Figuren statt, die in drei Monaten von einer halben Million Menschen gesehen wurde. Schon während der laufenden Arbeiten in Dayi waren erste Artikel in der Presse erschienen, 1966 wurden ein 35-minütiger Dokumentarfilm sowie eine Schallplatte herausgebracht. Innerhalb kürzester Zeit war der Hof für die Pachteinnahme landesweit bekannt.

Die weitreichende Erfolgsgeschichte des Werks ist untrennbar verbunden mit dem Beginn der chinesischen Kulturrevolution im Frühjahr 1966, als sich das politische und kulturelle Klima im Land schlagartig radikalisierte. Auf Betreiben von Mao Zedongs Ehefrau Jiang Qing, die in das neu gegründete Zentralkomitee der Kulturrevolution berufen und mit der direkten Kontrolle über die Kultur betraut worden war, wurde der Hof für die Pachteinnahme zu einem verbindlichen Musterkunstwerk erklärt, an dem sich bildende Künstler orientieren sollten. Gleichzeitig kam jedoch auch Kritik an dem Ensemble auf, da es den neu formulierten Richtlinien der Kunstproduktion – die ausdrücklich eine Fokussierung auf positive Helden und heroische Charaktere verlangten – nicht in vollem Umfang entsprach. So wurden in den darauf folgenden Jahren zahlreiche Varianten der Skulpturengruppe angefertigt und überall im Land ausgestellt, allerdings mit einer drastisch modifizierten und an die neuen ideologischen Anforderungen angepassten Schlusssequenz. Begleitet war dies von einer intensiven politischen und propagandistischen Textproduktion.

Mittels reich illustrierter Kataloge, die in zahlreichen Sprachen und sogar im Westen publiziert wurden, erregte das Werk auch außerhalb Chinas früh Aufmerksamkeit. Nicht zuletzt in Deutschland: Dort wurde es im Kontext der 68er-Bewegung als herausragendes Beispiel für eine authentische revolutionäre Kunst rezipiert. Immer wieder gab es Bemühungen, das Werk auch im Westen auszustellen. So versuchte 1972 Harald Szeemann als Kurator der documenta 5, eines der Figurensets nach Kassel zu holen, um es dem internationalen Kunstpublikum zu präsentieren. Dies war jedoch aus politischen und finanziellen Gründen nicht möglich. 1999 plante er gemeinsam mit dem in den USA lebenden chinesischen Künstler Cai Guo-Ciang, die Skulpturengruppe auf der Biennale von Venedig zu zeigen. Als dies ebenso misslang, realisierte Cai stattdessen eine auf den Hof für die Pachteinnahme rekurrierende Arbeit, mit der er den Goldenen Löwen gewann. In China entzündete sich daraufhin ein Konflikt um die Urheberrechte an dem Werk, der zum Ausgangspunkt einer weitreichenden Debatte um aktuell bedeutende Fragen nach der Position des Künstlers und der Freiheit von Kunst im heutigen China sowie nach dem Verhältnis der chinesischen zur westlichen Kunstwelt wurde. Seitdem hat der Hof für die Pachteinnahme auch andere junge Künstler zu Neuauflagen inspiriert.

Die Ausstellung „Kunst für Millionen. 100 Skulpturen der Mao-Zeit“ richtet das Augenmerk auf eine Periode der chinesischen Kunst, die innerhalb wie auch außerhalb Chinas bislang kaum kritisch aufgearbeitet worden ist. Die visuelle Kultur der Mao-Zeit – und insbesondere die Periode der chinesischen Kulturrevolution – ist aber nicht nur für die Entwicklung der chinesischen Kultur im 20. Jahrhundert, sondern auch für das Verständnis der zeitgenössischen chinesischen Kunst in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzen. In diesem Sinne möchte die Ausstellung anhand eines herausragenden Werks – und dessen bewegter und bewegender Geschichte von 1965 bis heute – die Diskussion eröffnen und einen Beitrag zur Erforschung dieser weitgehend unbearbeiteten Thematik leisten.

Kuratorin: Esther Schlicht (Schirn)

KATALOG: Kunst für Millionen. 100 Skulpturen der Mao-Zeit – Art for the Millions. 100 Sculptures from the Mao Era. Herausgegeben von Esther Schlicht und Max Hollein. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Feng Bin, Christof Büttner, Martina Köppel-Yang, Esther Schlicht und einem Gespräch mit Reiner Kallhardt. Deutsch-englische Ausgabe, ca. 176 Seiten, ca. 190 Abbildungen, Hirmer Verlag, München 2009, ISBN 978-3-7774-2231-2.

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Kunst für Millionen
100 Skulpturen der Mao-Zeit
Kuratorin: Esther Schlicht