press release only in german

Der international renommierte Künstler Kutlug Ataman (geb. 1961 in Istanbul) begann seine Karriere als Filmemacher. Er absolvierte ein Filmstudium an der Pariser Sorbonne und der University of California in Los Angeles (UCLA) und erhielt für sein filmisches Schaffen inzwischen zahlreiche Preise und Anerkennungen. So gilt etwa sein erster Spielfilm "The Serpent’s Tale" (1993) unter Filmhistorikern als Beginn des Jungen Türkischen Films. Weltweit bekannt wurde Ataman aber mit dem Film "Lola + Billidikid" der erstmals 1999 am Internationalen Filmfestival Berlin gezeigt wurde und mehrfach prämiert wurde (darunter Auszeichnungen für den besten Film und die beste Regie). Mitte der neunziger Jahre begann Ataman in den Kunstkontext zu wechseln und mit Videoinstallationen zu arbeiten. Seine Filme waren unter anderem auf den Biennalen Istanbul (1997), Venedig(1999), Berlin (2000) und in Galerien und Museen in Europa und den USA zu sehen. Video bietet Ataman einerseits die Möglichkeit, die klassischen Formulierungen zu überschreiten und die historischen Diskussionen des Kinos weiterzuführen: Kann Realität erzeugt werden, was bedeutet Repräsentation im Gegensatz zu Präsentation, und was sind die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen dieser formalen Fragen? Als "demokratisches" und vergleichsweise billiges Medium ist es ein wichtiges Mittel, um einige dieser Diskussionen neu zu beleben. Auf der anderen Seite erlaubt Video ohne größeren Aufwand Individuen zu porträtieren, einem wesentlichen Anliegen des Künstlers.

In Atamans Arbeiten werden die Modelle individueller - in der Regel exzentrischer Existenzweisen in Erzählungen eingebettet. Er fokussiert dabei auf Themen wie Identität und Freiheit, eine bezeichnende Wahl im Kontext der schwierigen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Türkei. Vor dieser Folie erzählt er von individuellen Obsessionen, provokativen Grenzüberschreitungen und den multiplen Möglichkeiten des Seins. Die zeitliche Erzählstruktur wird dabei ausgesetzt und der Zuschauer aufgefordert, seine eigene Realität zu erzeugen. Formal setzt Ataman auf eine einfache Dokumentarästhetik: die Kamera ist statisch, die präsentierte Person im Bildzentrum - alles ist darauf konzentriert, wie diese sich präsentiert. Der Künstler arbeitet mit der Struktur, dem Format und der Geschichte des Dokumentar-films und adoptiert, manipuliert und travestiert einige der Konventionen und Formate des Genres. Er verwendet es letztlich als Rahmen um eine wirksame Verbindung zwischen faszinierenden persönlichen und geschichtlichen Themen und Ereignissen herzustellen.

Sein Schaffen steht damit auch für einen Paradigmenwechsel in der aktuellen Kunstproduktion. Das Vokabular der Institutionskritik wurde in letzter Zeit verstärkt abgelöst durch eine Kunst, die das Subjektive als Form nutzt, um individuelle und sozialpolitische Belange gleichermaßen zu artikulieren. Charakteristisch für diese Kunst ist ein Interesse am Persönlichen und Biographischen, das sich mit einem kritischen sozialen Engagement verbindet. In der verstärkten Thematisierung spezifischer Lebenswirklichkeiten wird auch eine Aufwertung des Lokalen - eine Gegenkraft zu den entfremdeten Tendenzen der Globalisierung - erkennbar.

Die drei gezeigten Arbeiten Semiha b. unplugged (1997), Women Who wear Wigs(1999) und Never My Soul (2001) verbindet die sensible Gratwanderung zwischen Dokumentation und Fiktion, zwischen Wahrheit und Selbsttäuschung und zwischen Erlebtem und Erfundenem.

Die legendäre Künstlerin Semiha Berksoy in Semiha b. unplugged (1997) ist nicht nur Opernsängerin, Schauspielerin und Malerin, sondern auch rebellische Zeugin des Wandels der Türkei zur modernen Ära. Vom frühen Frausein in einer männerdominierten Gesellschaft (gegen die sie als Femme Fatale und als Künstlerin rebellierte) über ihre Auftritte vor der höchsten politische Klasse in Deutschland und der Türkei (sie sang für Präsident Mustafa Kemal, den Gründer der Republik) erzählt ihr ununterbrochener Monolog, in dem sie an ihre Kindheit, ihre Eltern, ihre Liebschaften, ihre Ehe, ihre bekannten und unbekannten Freunde erinnert. Sie spricht über ihre Konzerte, über Mustafa Kemal und Berlin. Semiha schlüpft dabei in verschiedene Kostüme und spielt Teile ihrer Rollen nach. Nicht dokumentarisch, sondern tagebuchartig läßt der Künstler in dieser fast achtstündigen Videoinstallation die exzentrische Künstlerin ihre Geschichte entwickeln. Die Länge des Films erlaubt es dem Zuschauer nur schwer, den gesamten Film zu sehen. Er wird so vom Künstler gezwungen, eine Wahl zu treffen und seine eigene Geschichte zu konstruieren. Die Intensität der von Ataman verwendeten Bilder ist dabei so unglaublich eindringlich, dass sich ihr niemand entziehen kann.

Für Women Who Wear Wigs (1999) interviewte Ataman vier türkische Frauen über ihre Erfahrungen im Tragen einer Perücke. Die erste Frau, Melek Ulagay, war ein Mitglied der linksgerichteten Organisation und versucht ihre Identität zu verbergen. Die Perücke hilft ihr dabei. Aataman filmt mit einer Handkamera, aber nie ihr Gesicht. Die zweite Frau ist die Journalistin Nevval Sevindi, die eine Perücke trägt, weil sie ihre Haare nach einer Chemotherapie verloren hat. Die Perücke erlaubt ihr eine positives Selbstbild zu haben. Die dritte Frau "Woman X" ist eine muslimische Studentin, der das Tragen des Kopftuches an der Universität untersagt ist. Die Perücke erlaubt ihr gleichzeitig zwei Traditionen zu folgen, ihrer religiösen und der der türkischen Gesellschaft. Sie wird überhaupt nicht gezeigt. Die vierte Frau ist Demet Demir, eine Transsexuelle und politische Aktivistin, die eine Perücke trägt, um einerseits ihren hormonellen Haarausfall zu kaschieren und weiter als Prostituierte arbeiten zu können. Jedes der vier Portraits beginnt als persönliche Antwort auf existierende gesellschaftliche Bedingungen und wird dann immer stärker zur individuellen Selbstmythologie.

War Semiha b. die Travestie eines Dokumentarfilms, so ist Women Who Wear Wigs die Travestie einer Fernsehwochenschau. Die Installation besteht aus vier separaten Videoprojektionen auf vier Leinwänden, bei der die Frauen gleichzeitg ihre konkurrierenden und widersprüchlichen Realitäten vortragen und den Betracher zwingen, von einer Leinwand zur nächsten zu springen (im Unterschied zum passiven Konsum im Kino). Über ihre beeindruckenden Erzählungen rufen sie nicht nur traumatische Erlebnisse ihres persönlichen Lebens in Erinnerung, ihre Geschichten stehen auch für ein Land, das sich im profunden gesellschaftlichen und politischen Umbruch befindet.

Die dritte Arbeit Never My Soul 2000 erzählt Geschichten aus dem Leben einer transsexuellen türkischen Prostituierten und Dialysepatientin. Sie wurde aufgefordert, gleichzeitig in die Rolle eines berühmten türkischen Kinostars zu schlüpfen und sich selbst zu spielen. Die Transsexuelle erzählt Geschichten aus ihrem Leben - einem Alptraum von Mißbrauch, Verachtung, Verfolgung. Die Gewalt und die Vergewaltigungen der Kindheit, die Beziehungen zu den Kunden, die erlittenen Er- niedrigungen: alles wird transkribiert in einer meergrüne Stimmung, die gleichzeitig an frühe Fassbinderfilme und die Rohheit der gefilmten Bilder eines Andy Warhol erinnert. In sechs verschiedenen Räumen sieht man verschiedene Teile ihres Lebens, beim Telefonieren, in Gesprächen, beim Sex. Ataman schnitt ein Interview über ein reales Leben mit einer fiktionalisierten Version dieses Lebens, die von der selben Person gespielt wurde, zusammen und entwickelte damit die Methode von Women Who Wear Wigs weiter.

Die letzte Arbeit dieser Serie, die der Künstler als Einheit betrachtet, ist "The Four Seasons of Veronika". Sie kann in dieser Ausstellung leider nicht gezeigt werden. Diesmal geht es um die Travestie eines Gartenprogramms. Sie handelt von einer Engländerin, die ein Jahr lang über ihre Liebe zu Blumenzwiebeln spricht. Die Videoinstallation besteht aus vier Leinwänden, jede stützt die andere, so dass alle umstürzen würden, wenn eine entfernt würde - vergleichbar den Jahreszeiten. Ataman erzeugt so eine zirkuläre Struktur, in der eine Frau mit ihrer Obsession gefangen ist. Sie ist dazu verurteilt, endlos über eine reine Blumenzwiebel zu erzählen, die die Hoffnung auf eine Blume enthält, aber nur die Hoffnung. Christine Kintisch