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Aus dem fotografischen Bestand der Daros-Lateinamerika-Sammlung werden neun künstlerische Positionen der Öffentlichkeit präsentiert, die hierzulande meist unzulänglich oder gar nicht bekannt sind. Von straight photography bis zu inszenierten Bildern reicht das variationsreiche Spektrum der Künstler-Fotografen, die mit Werken aus den vergangenen zwei Jahrzehnten vertreten sind. Die Provenienz der Fotografen, deren künstlerisches Denken von der Fotografie als Medium bestimmt ist, erstreckt sich von Chile bis nach Mexiko und Kuba, ihre Altersgruppe umfasst annähernd drei Generationen.

La Mirada versteht sich nicht nur als «der Blick» der Fotokamera auf ein bestimmtes Sujet, sondern auch als die künstlerische Haltung und mentale Ausrichtung der neun Künstler-Fotografen, deren unterschiedliche Blickrichtungen auf die Fotografie dem interessierten Betrachter deutlich werden. Nicht zuletzt steht La Mirada auch für unseren europäischen Blick auf die Kunst Lateinamerikas.

Teil I - 25. Oktober 2002 bis 4. Januar 2003

Aus dem umfangreichen Œuvre des in New York ansässigen Brasilianers Vik Muniz (Jg. 1961) werden einige signifikante Werke gezeigt, die seine künstlerische Strategie veranschaulichen. Ob Sigmund Freud, Che Guevara, Spaghetti Marinara, ein Gemälde von Courbet oder die Kunst der nordamerikanischen Minimalisten: Voll geistreichen Witzes und sprudelnd erfindender Schaffenskraft fällt Muniz fröhlich plündernd in den Bilderfundus der Medien und der Kunstgeschichte ein, um mittels gekonnter Verfremdung des jeweiligen Sujets in seinen trompe-l’esprit-Bildern unsere Wahrnehmung auf die Probe zu stellen und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was ein Bild eigentlich ist.

Die in Rio de Janeiro beheimatete Rosângela Rennó (Jg. 1962) wiederbelebt in Vergessenheit geratene Fotos aus den unterschiedlichsten Alltagswelten. Politische und soziale Anliegen gehen in ihrem Werk einher mit gekonnter ästhetischer Transformation des von ihr künstlerisch bearbeiteten Bildmaterials. Cicatriz (Narbe) nennt sie ihre mehrteilige Arbeit, in welcher sie sich mit Fotos von Tätowierungen brasilianischer Strafgefangener aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, die sie in einem brasilianischen Gefängnis entdeckte. Rennós poetische Bilder oszillieren zwischen Schönheit, Schmerz und Sinnlichkeit. Ihre sensible Umsetzung des außergewöhnlichen Archivmaterials ist ganz der Idee menschlicher Würde verpflichtet.

Entre os olhos, o deserto (Zwischen den Augen, die Wüste) ist ein mit einem minimalistischen Soundtrack unterlegtes symphonisches Panorama des in Rio de Janeiro lebenden Brasilianers Miguel Rio Branco (Jg. 1946). In seiner umfangreichen Diaprojektion konfrontiert uns der Künstler mit einer opulenten, augenbetäubenden Bilderflut, die wie eine filmische epische Erzählung angelegt ist. Eine makellos und perfekt choreographierte Inszenierung entwickelt sich langsam vor unseren Augen und schlägt uns zusehends in ihren Bann, ohne dass wir die exakte Verknüpfung der einzelnen Bildabfolgen zu verstehen brauchen. Die schwelgerische Macht dieser dunklen und manchmal geheimnisvollen Bilder geht einher mit betörender Sinnlichkeit. Wir erleben eine konzentrierte Bildabfolge von großer existentieller Dichte, die, voller poetischer und emotionaler Kraft, mit ihren permanenten Wandlungen auch auf die Metamorphosen des Lebens verweist.

Maruch Sántiz Gómez (Jg. 1975) aus San Cristóbal de las Casas im mexikanischen Staat Chiapas ist eine Newcomerin im Bereich der Fotokunst. Die junge India beschäftigt sich erst seit wenigen Jahren im Rahmen eines größer angelegten Projektes mit Fotografie, mittels welcher sie alte Volksweisheiten erhaltend aufarbeitet und ästhetisch neu interpretiert. In ihren Creencias (traditionelle Sprüche und Weisheiten ihres Volksglaubens), einer umfangreichen Fotoserie, präsentiert sie einfache Gegenstände aus dem Alltagsleben, denen sie jeweils einen dazugehörigen Spruch in ihrer Muttersprache Tzotzil beigibt. Die Synthese von Text und dazugehörigem Bild hebt die dargestellten Objekte in eine rätselhaft poetische Sphäre. Auf bestechend klare und entwaffnend offene Weise bringt uns Maruch Sántiz Gómez, indem sie in die Rolle einer Anthropologin schlüpft, ihre Kultur so nahe wie dies kein Lehrbuch vermochte. Auch fordert sie uns damit spielerisch auf, uns Gedanken über unsere eigenen (kulturellen wie auch ganz persönlichen) Creencias zu machen: Aus neugierig amüsierten Voyeuren werden wir plötzlich zum Gegenstand unserer eigenen Betrachtungen.

Die Santería, ein afro-kubanischer Kult, der eine synkretistische Mischform aus afrikanischem Yoruba-Kult und der christlich-katholischen Religion ist, bestimmt das ikonographische Bildrepertoire der Kubanerin Marta María Pérez Bravo (Jg. 1959), die in Monterrey, Mexiko, lebt. Doch sind ihre schwarzweißen Fotografien fern von jeder buchstäblichen Übertragung kultischen Geschehens in ein Bild. Die Künstlerin ist sich stets selbst Modell. In still konzentrierten, klaren und einfachen Bildfindungen von großer symbolischer und metaphorischer Kraft transzendiert sie das rein Kultische und thematisiert menschliche Grundbedingungen. Leiden, Gewalt, Tod, das Ausgeliefertsein an fremde, uns unbekannte Mächte sind ebenso präsent wie das Selbstbestimmtsein der Künstlerin in der Erforschung ihrer persönlichen Welten.

Teil II - 17. Januar bis 26. April 2003

Las aguas baldías (Die öden Wasser) nennt sich die Fotoserie des in Havanna lebenden Kubaners Manuel Piña (Jg. 1958). Der Malecón, die berühmte Mauer, die die Uferpromenade von Havanna säumt, ist schon immer Gegenstand romantisch-sentimentaler Projektionen für die Kubaner gewesen, wurde aber Anfang der 90er Jahre, als Piñas Fotoserie entstand, zum Inbegriff der Ausweglosigkeit. In Piñas dramatischer fotografischer Verdichtung verkörpert sich der Malecón sowohl als Monument der Ohnmacht und des Verfalls wie auch als Sinnbild möglicher Offenheit und Freiheit. Banaler, hässlicher Alltag stößt auf das Ebenbild der Ewigkeit. Der Malecón wird zu einer organischen, osmotisch durchlässigen Grenze zwischen Innen und Außen, die sich mental verschiebt, je nach den sich verändernden inneren und äußeren Horizonten des Betrachters, mit denen die wechselnden Horizontlinien des Wassers und des Malecón korrespondieren.

Ganz in Sepia getaucht sind die Porträts des Guatemalteken Luis González Palma (Jg. 1957), der zur Zeit in Córdoba, Argentinien, lebt. Frontal, unbewegt und stumm blicken uns die Dargestellten konzentriert an, mustern uns, und blicken doch gleichsam durch uns hindurch. In regungsloser Symmetrie schicken sie uns ihre undurchdringlichen Blicke entgegen, wirken gewaltig und monumental, aber auch voller melancholischer Poesie. Mitunter mit rätselhaften Accessoires versehen, wirken diese Wesen völlig der Realität entrückt, bar jeder spezifischen Individualität. Wie aus einer anderen, nicht stofflichen, uns fremden Welt treten uns diese Antlitze mit einer unglaublichen Präsenz gegenüber – schweigend, doch ohne uns anzuklagen.

Seit Jahrzehnten arbeitet die in Santiago, Chile, lebende Paz Errázuriz (Jg. 1944) an Fotoserien, die sich mit gesellschaftlichen Minderheiten befassen. In großen Werkblöcken widmete sie sich Themen wie dem Zirkusleben, Gauklern, den letzten verbliebenen Indianern ganz im Süden des Landes, Geistesgestörten, Insassen von Asylen, alten Frauen am Rande der Gesellschaft, Transvestiten zur Zeit der Militärdiktatur. Mit großem Gespür und Feingefühl begibt sie sich inmitten dieser Gruppen, um aus einem engen und vertrauensvollen Kontakt heraus eine Art Dokumentation der oft prekären Lebensumstände der von ihr Dargestellten zu entwickeln. Behutsam und von großer spürbarer Zuneigung geprägt ist der respektvolle und immer distanziert bleibende, aber die reale Drastik nicht verschleiernde Blick der Fotografin, der auch vor den Abgründen menschlicher Existenz nicht Halt macht.

Der Brasilianer Mario Cravo Neto (Jg. 1947) lebt in Salvador, Bahia, das für ihn eine unerschöpfliche Quelle fotografischer Bildgestaltung ist. Eine grundsätzlich spirituelle Geisteshaltung trifft in seiner Fotografie auf ausgereifte ästhetische Ausdruckskraft. Er beherrscht das Spektrum von hauchzarter Poesie bis hin zu existentiellen Themen wie Gewalt, Angst und Tod. Spielerisch findet er zu ungeahnten Kompositionen von großer symbolischer Macht und Wirkung. Menschliche Antlitze wechseln mit stilllebenhaften Sujets und rätselhaften Traumbildern, die ihr Geheimnis nie ganz preisgeben. Mario Cravo Netos Fotografien sind voller Anmut und Zärtlichkeit, Sinnlichkeit und Emotion, voll von Begehren und Sehnsucht.

Pressetext

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La Mirada - Zeitgenössische Fotokunst aus Lateinamerika

Teil I - 25. Oktober 2002 bis 4. Januar 2003
Vik Muniz, Rosangela Renno, Miguel Rio Branco, Maruch Santiz Gomez, Marta Maria Perez Bravo

Teil II - 17. Januar bis 26. April 2003
Manuel Pina, Luis Gonzalez Palma, Paz Errazuriz, Mario Cravo Neto