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Sammeln bedeutet ein ständiges Vorwärts- und Rückwärtsgehen. Sammeln bedeutet Geschichte zu setzen, zu verarbeiten, zu erneuern.

Die Ausstellung “L’air du temps – collection printemps/été 2004” verbindet die neuesten Sammlungsankäufe mit älteren Werken aus der Sammlung des migros museum für gegenwartskunst. In der Geschichte der Ankäufe stand nicht nur die Präsentation eines Werkes im Vordergrund, sondern auch das Primat der Idee und des sich daraus ergebende Prozesses. Aufgrund dessen entwickelte sich das Bedürfnis, sowohl gesellschaftlichen Fragen gerecht zu werden, als auch soziale Verantwortung zu übernehmen – ganz im Sinne des Gründers der Migros, Gottlieb Duttweiler. Dank einer progressiven Ankaufspolitik während der 1990er Jahre besitzt die Sammlung heute zahlreiche wichtige Werke schweizerischer wie internationaler Künstler. Vielen dieser Arbeiten ist ein partizipatorisches Moment eigen und bilden neben den Arbeiten älterer Positionen der Minimal oder Concept Art den Diskurs innerhalb der zeitgenössischen Kunst. Die Einbindung der Sammlung in ein lebendiges Umfeld, die eine gegenwärtige Kunstproduktion berührt und sich an ein aufgeschlossenes Publikum richtet, sind die aktuellen Anliegen der Konzeption.

!EPHEMISMEN!

Abgewetzte Gartenliegen, kleine Tische und Gemälde, feine geometrische Gebilde aus Holz bilden die Protagonisten in Cathy Wilkes’ Installationen. Den Objekten sieht man den Gebrauch und die damit zusammenhängende Geschichte an. Formal erinnert der Installation an die Kunst der 1920er und 1930er Jahre und an einen ungebrochenen Fortschrittsglauben – Our Misfortune (2001) zielt jedoch nicht ab, durch Abstraktion das Ideal einer reinen, entkörperlichten Intellektualität zu illustrieren, sondern auch, eine Sensibilität für Zerbrechliches zu vermitteln und Mehrdeutigkeit zuzulassen. Enzo Cucchis Senza Titolo (1985/86) sucht nach Möglichkeiten, in seinem künstlerischen Schaffen – welches in der Tradition der Pintura Metafisica steht – die Einheit von Individuum und Welt herzustellen. Auf fünf armierten Zementplatten wird ein mystischer Kreis dargestellt, fragmentarisch darin eingraviert ein Mensch. Urs Fischer gibt dem Besucher die Möglichkeit, eine Narration über sein Werk entstehen zu lassen. Die Skulptur Glaskatzensex – Transparent Tale (2000) baut eine Architektur aus Glaswänden nach, manche mit Silikonhäuten behängt, die von den Wänden des vorherigen Ausstellungsraumes abgezogen wurden. In ihr ist das titelgebende Objekt verborgen: eine Katze aus Glas. Im Zentrum der fragilen Zeichnung von Kerstin Kartscher steht die Eisläuferin (2002), eine Art Feengestalt, die in ihrer Einsamkeit immer den gleichen Kreis auf dem See läuft – in die umliegende Berglandschaft schreibt sich der Schriftzug “endless” ein. Ebenfalls ein beklemmendes Gefühl lösen die Nîmes Balconies (1994) von Juan Muñoz aus – zerquetschte, nicht mehr betretbare Balkone, Sinnbilder für Räume, die sich zwischen Öffentlichkeit und geschützter Häuslichkeit bewegen. Auf Zeitungspapier malte der Künstler Paul Thek seine Bilder, welche sowohl in ihrer materiellen Beständigkeit als auch in ihrer kühlen Fragmenthaftigkeit einem Wechselspiel zwischen momenthafter Intensivierung und zeitlosen Vanitas-Ästhetik gleichen. Bojangles in Flames (1974) zeigt das Alter Ego Theks, Bo Jangles, bei seinem tragischen Märtyrer-Tod, während Caterpillar in Storm of Leaves (1975) skizzenhaft eine Raupe auf ihrem Weg in einen Laubhaufen zeigt. Ugo Rondinones Installation The Heart is a Lonely Hunter (1997) pendelt zwischen verführerischem Naturromantizismus und narkotisierender Depression. Die Wirkung der Negativ-Tuschelandschaften, die an Kupferstiche des 19. Jahrhunderts erinnern, werden durch die leise Musik im Hintergrund verstärkt. Wie ein Modellbausatz auf Basis eines quadratischen Rasters wächst die Installation Lattenwald (2002) von Kerim Seiler in den Raum und versperrt dem Besucher den Weg durch die hohen und engen Holzverstrebungen. In einer Vitrine liegen glorifizierend eine Motorsäge, Schutzbrille, halbleere Bierflasche, Brot und Käse. Alles Objekte, die zusammen einen Attributenkreis der Maskulinität ergeben. Sie sind Spuren der Handwerker, bezeugen aber auch die Allgegenwart des Künstlers.

!POLITISMEN!

Fabrice Gygi thematisiert in seinem Werk Bureau de Vote (2001) den Präsidentschaftswahlkampf zwischen Al Gore und George W. Bush – die Wahlkabine als trügerischen Heilsort. Die Videoarbeit An Oval Office Tour with President George W. Bush (2003) von Christoph Büchel entführt schliesslich auf touristische Art und Weise den Besucher auf einen Rundgang durch das Büro von George W. Bush. Eine wichtige Arbeit gegen eine „uniforme“ Weltsicht stammt von Alighiero E Boetti, der sich in seinen Arbeiten immer wieder der Kartographie und dem Untersuchen derer Veränderung, Auflösung und Verschiebung gewidmet hat. Der Künstler verbrachte mehrere Jahre in Afghanistan, wo er die „Mappa“ von immer anderen Frauen sticken liess. Ihre Stick-Handschrift erhebt so jede Mappa (1983) zu einem Einzelstück und impliziert die vielfältigen Ansichten, die über unsere Welt herrschen. In der Videoinstallation Small Things End, Great Things Endure (2001) der Künstlerin Mathilde ter Heijne wird das Thema der kollektiven Schuld aufgegriffen. Uwe Johnsons Roman “Jahrestage” bildet dafür die Grundlage. Gesine Cresspahl, deren Mutter den freiwilligen Opfertod wählt, da sie die Mitschuld an den nationalsozialistischen Greueltaten nicht vergessen kann, leidet unter den gleichen Mitschuldgefühlen aufgrund der Ereignisse des Vietnamkriegs. Ter Heijne erfindet einen neuen Schluss für den Roman: Sie lässt Gesine – gespielt von der Künstlerin – die Tat wiederholen.

!FREEDOM OF DECONSTRUCTION!

Sprache spielt in Ed Ruschas Werk eine zentrale Rolle. Die verbalen Elemente verweisen auf moralische Codes und tradierte Wertvorstellungen – Heaven & Hell (1988). Zwischen Kitsch und guten Geschmack pendelt auch das Bild Westward Ho (1986). Rote Zensurstreifen markieren die Abwesenheit vormals dominierender sprachlichen Elemente. Somit treten sprachliche Erinnerungsspuren auf, womit sich jedoch bereits wieder ein narratives Moment anknüpft. Monica Bonvicinis Arbeiten sind radikal – A Romance (2003) besteht aus massiven Stahlträgern, die drei Segmente aus Panzerglas einfassen, auf welchen fragmentarisch die Definition von Freuds Agoraphobie geschrieben ist. Die Arbeit rebelliert nicht nur gegen die gesellschaftliche und politische Situation, sondern auch gegen eine Architektur, die von Männern für Männer geschaffen wurde. In Learning to Live Within a Confined Space (1978) untersucht Stephen Willats die Bedingungen des sozialen Wohnungsbaus und dessen einengender Wirkung auf seine Bewohner. Über Gespräche und fotografische Dokumentationen versucht er, die Möglichkeiten des Individuellen in den Vordergrund zu rücken und auzuloten, wo die Eigenheiten und die Freiheiten des Einzelnen liegen. Emmanuelle Antilles Radiant Spirits (2000) verführt den Besucher in eine mehrdimensionale und voyeuristische Videoinstallation, deren Atmosphäre auf den ersten Blick als verstörend und dekadent erscheint – und sich bald als bieder-bürgerliche, erotische Fantasiewelt entpuppt. Der Film Secrets for Sale (2003) von Elodie Pong oszilliert ebenfalls zwischen Voyeurismus und Extrovertiertheit. Die Künstlerin kaufte für eine auszuhandelnde Geldsumme Geheimnisse von Fremden, die anschliessend auf Video aufgezeichnet wurden – ein Striptease der Seele. Die Arbeit Indifference (1994) von Marlene Dumas zeigt eine Gesellschaft in surrealer Umgebung, die sich von allen Hemmungen befreit hat. Sylvie Fleury ist bekannt für ihre fetischisierte Sammelwut von Luxusobjekten. In den Jahren 1997/98 verschrieb sich Fleury den Radkappen klassischer amerikanischen Limousinen. Was die Welt der Kosmetik und Mode an Begehren und Wünschen in Frauen freisetzen kann, findet – laut Fleury – seine Entsprechung für die Männer in der Welt des Automobils. Ihre Arbeit She-Devil on Wheels (1997/1998) zeigt die Radkappen als potentes Statussymbol. Pressetext