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L’année dernière à Malmaison
21.05.2022 - 24.07.2022

You can check out any time you like
But you can never leave
The Eagles

Hotel Bukarest

Der Titel der Ausstellung, L’Année dernière à Malmaison, bezieht sich auf einen Film von Alain Resnais, der fast genauso heißt, nur eben in Marienbad spielt. Während Resnais damit auf das berühmte tschechische Kurbad anspielt, in dem Goethe die Marienbader Elegie schrieb und Wagner den Lohengrin und die Meistersinger entwarf, bezeichnet Malmaison ein Gebäude in Bukarest. Es wurde 1844 als Kavalleriekaserne gebaut und ob dieser Funktion zunächst Riders Barracks genannt. Als Napoleon III. einige Jahre später Truppen entsandte, um die rumänische Armee zu trainieren, erfolgte aus Dank die Umbenennung. Malmaison ist der Name eines Schlosses, das Josephine, die Frau Napoleons I., für beide als Liebesnest gekauft hatte. Napoleon schrieb ihr dahin unzählige Liebesbriefe. In einem davon spricht er sie als „Mio dolce amor“ an.

Thomas Zitzwitz hat diese Wendung zur Bezeichnung einer Arbeit aufgegriffen, die die Besucher im Eingang zur Ausstellung mit einem Duft empfängt (Mio dolce amor, 2022, Situation mit Geruch). Dieser Duft ist das Eau de Cologne, das Napoleon selbst benutzte und sich aus Köln, der Heimat des Malers Zitzwitz, an alle Orte der Welt bringen ließ. Diese komplexe Verweisstruktur wirft ein Schlaglicht auf eines der beiden großen Themen der Ausstellung, das die beiden Kuratoren Alex Radu und Thomas Zitzwitz als die Fähigkeit der Kunst bezeichnen, im Dialog mit dem Betrachter ein Narrativ zu entfalten, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, psychisches Innenleben und physische Außenwelt, Traum und Realität derart überlagern, dass sie ununterscheidbar werden wie die Gänge eines Labyrinthes. Das andere zentrale Thema ist der Orpheus-Mythos.

Die labyrinthische Verweisstruktur der Kunst finden die Kuratoren beispielhaft vorgeführt in den Filmen der Nouvelle Vague und den Texten des Nouveau Roman, etwa von Alain Resnais und Alain Robbe-Grillet, die 1961 zusammen den Film L’Année dernière à Marienbad drehten. In diesem Film halten sich ein Mann (M) und seine Frau (A) in einem Marienbader Luxushotel auf, wo A einen anderen Mann (X) trifft. Dieser behauptet, A und er hätten sich zuvor schon einmal in Marienbad getroffen und ausgemacht, sich binnen Jahresfrist wiederzusehen, um dann gemeinsam fortzugehen. A kann sich weder daran noch an X erinnern, der jedoch auf sie eindringt und Beweis um Beweis für seine Version der Geschichte vorlegt. Irrt sie sich? Oder irrt er sich? Verwechselt er sie wohlmöglich mit einer anderen Frau? M (ihr Mann) und X spielen um sie. Schließlich geht sie mit X fort. Was wahr ist und was falsch, was Traum ist oder Realität, bleibt völlig unklar. Nicht einmal Resnais, der Regisseur, und Robbe-Grillet, der Drehbuchautor, sind sich einig. Während der eine meint, A und X seien sich tatsächlich schon einmal in Marienbad begegnet, A habe das nur verdrängt, und X verfahre nun wie ein Psychologe, der ihr helfe, das Verdrängte wieder offenzulegen, geht der andere davon aus, dass X ihr die Geschehnisse nur suggeriert, um sie zu verführen. Vielleicht, so meinte ein zeitgenössischer Filmkritiker, ist aber auch alles nur ein Traum der Frau, die Elemente ihrer Psyche in Figuren aufstellt und in einer Erzählung verbindet: die Frau ist das Ich, der Ehemann ihr Überich und ihr Liebhaber das Es.

Vielleicht entspringt aber auch diese Interpretation nur einer allzu selbstverliebten patriarchalen Phantasie, die glaubt, die Kräfte, zwischen denen sich das Ich einer Frau aufspanne, seien ihr Ehemann und ihr Liebhaber und beide eigneten sich als Repräsentanten der psychologischen Grundkräfte Gesetz und Trieb – zumal der Film sich auch in seiner formalen Gestaltung jeder Eindeutigkeit entzieht, weil er die Handlung in endlosen Schleifen aus Kamerafahrten, Lichtwechseln und Wiederholungen in eine hypnotische Schwebe versetzt, die den Zuschauer wie ein Irrgarten gefangen nimmt. An diese Ästhetik schließt die zweite, unbetitelte Arbeit (2022) von Thomas Zitzwitz an, die in der Ausstellung vertreten ist. Die Malerei zeigt ein tief verwobenes Gewirr von grauen Flächen und Räumen, die ineinander und auseinander gefaltet zu sein scheinen und damit den Blick in ein Labyrinth von Schattierungen und Formen ziehen, in das er ein- und aus dem er auftauchen kann, aus dem es jedoch kein Entrinnen gibt, weil sich das eine unaufhörlich aus dem anderen entwickelt und wieder darin zurückfällt. Eine unendliche Geschichte, gespeist aus der Verlockung der Bilder und dem Begehren des Betrachters, sich in das Gewirr der Töne und Formen fallen zu lassen.

Das Prinzip der Faltung kehrt in den Arbeiten von Adelina Ivan wieder. In Deconstructed Square (2018) hat die Künstlerin ein Quadrat in immer neuen Faltungen aufgeschnitten und neu zusammengesetzt. Ihre Bewegungen folgen der immer gleichen Sequenz und realisieren damit das auch für Zitzwitz wichtige Prinzip von Differenz und Wiederholung, das der Falte als (metaphysisches) Ordnungs- oder besser Unordungsprinzip zugrunde liegt, wie Leibniz und Deleuze gezeigt haben. Die zweite, unbetitelte Arbeit folgt einem ähnlichen, wenngleich weniger geometrischen Prinzip der Faltung und scheint wie über einen Körper darübergelegt. Der Raum unter dem Tuch ist jedoch leer. Das Tuch besteht aus einem Memorytextil, das die ihm gegebene Form behält und so nur suggeriert, dass ein Körper darunter läge. Ich komme darauf zurück.

Gregor Hildebrandts Arbeit Letztes Jahr in Marienbad (2022) ist ebenfalls für die Ausstellung gemalt worden und bezieht sich in einer ähnlich komplizierten Verweisstruktur auf den Film von Resnais wie sich die Situation mit Geruch von Zitzwitz auf Malmaison bezieht. Es ist eines von zwei Bildern, die Hildebrandt gemalt hat. Dabei hat er sich vom Film und zwei Plakaten zum Film inspirieren lassen. Von einem dieser Plakate stammt auch die türkise Farbe des Bildes. Das besondere an Hildebrandts Malweise ist, dass er mit zwei Leinwänden arbeitet, die er mit einem Kleber bestreicht. Auf diesem Kleber malt er dann mit Fixativ, wobei die Vorlagen seinen malerischen Gestus inspirieren. Da das Fixativ farblos ist, sieht Hildebrandt jedoch nicht genau, was er malt. Er kann es nur an der Pinselgröße und Führung ungefähr abschätzen. Dort, wo er das Fixativ aufträgt, verliert das Klebeband seine Klebekraft. Im nächsten Arbeitsschritt wird das Videoband von der Kassette abgewickelt und auf die Leinwand geklebt. Später wird es wieder abgezogen. Dabei teilt es sich. Das Videoband hat zwei Seiten, auf einer ist das schwarze Magnetband, auf der anderen ein durchsichtiger Trägerfilm. Die schwarze Seite bleibt haften, die durchsichtige wird abgelöst. Mit einer Ausnahme: Dort, wo er mit seinem malerischen Gestus das Fixativ aufgetragen hat, löst sich auch die schwarze Seite des Bandes, weil kein Kleber sie hält. Das so abgelöste Band wird auf die zweite Leinwand übertragen. Dieses Übertragsbild ist in der Ausstellung zu sehen.

In der Arbeit überlagern sich so verschiedene Schichten. Der Film ist nicht nur präsent, insofern er den Pinselgestus inspirierte, sondern tatsächlich auch materiell, und sein Material trägt den künstlerischen Gestus, der auf ihn antwortet oder in ein Bild übersetzt. Dabei antwortet dieser Gestus nicht nur auf den Film, sondern auch auf Plakate für den Film, also andere Interpretationen. Der Gegenstand, seine Interpretation durch andere und die Interpretation dieser durch den Künstler überlagern sich hier genauso, wie die verschiedenen Medien, in denen sie stattfinden, Film, Plakat und Bild. Wie in einem Palimpsest scheint das durch das andere hindurch. Dem Werk ist über sein Material und seine Entstehungsgeschichte so etwas wie Geist eingeschrieben und es erscheint dem Betrachter mithin fast wie ein lebendiges Wesen und d.h. traumhaft und unwirklich. Das Palimpsest-artige verbindet Hildebrandts Arbeit mit dem Bild P.O.V. (2020) von Henning Strassburger. Das auf den ersten Blick abstrakte, graue Gemälde ist entstanden, als Strassburger im ersten Lockdown die Farben ausgingen und er Reste zusammenmischen musste. Was vom Malen übrig war, ergab das Grau des Bildes. Das Bild ist im Grunde jedoch kein abstraktes Bild, sondern ein Bild, das aus vielen figurativen Details zusammengesetzt wurde, die allerdings aus der Proportion gefallen sind, etwa einer Zielscheibe oder einem Firmenlogo. Strassburger hat diese Details mit Tusche gezeichnet und in vielfacher Vergrößerung auf die Leinwand projiziert. Das abstrakte Bild ist also eigentlich ein konstruierter Raum. Dieser Raum öffnet sich dem Point of View des Betrachters, wie wir das aus Computerspielen oder Filmen kennen, deren Bildraum so gestaltet ist, als wären wir der Avatar im Spiel oder der Protagonist im Film. Die Fachbezeichnung dafür – P.O.V. – gibt dem Bild auch den Titel. Strassburger übersetzt damit die insbesondere im Lockdown gemachte Erfahrung, dass uns die Realität nur noch durch Bilder zugänglich war, die überdies noch durch unsere Interessen und unserer Blase – unserem Point of View – gefiltert waren und uns mithin ein völlig verzerrtes Bild der Welt lieferten. Unsere Weltsicht glich insofern einem für uns konstruierten Bildraum, mit sich überlagernden, grotesk verzerrten Bildfetzen, ohne Zusammenhang oder Ordnung. Nichtsdestotrotz ist dieser Bildraum für uns undurchdringlich. Es ist wie in einem Labyrinth voller Irrwege, von denen wir wissen, dass es Irrwege sind, aus denen wir aber nicht entkommen. Strassburger vergleicht die Undurchdringlichkeit dieses Bildraums auch mit einer Wand, an der sich unzählige Schichten von Tapeten befinden. Jeder Versuch, die Tapete abzureißen und zur Wand vorzudringen, fördert nur neue Tapeten zutage, die sich an ihren abgerissenen Rändern überschneiden.

Strassburger selbst sieht darin eine Nähe zu den Architekturmodellen von Philip Topolovac. Auch sie bezeugen eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Die Modelle sind deutschen Hochbunkern aus dem Zweiten Weltkrieg nachempfunden, deren Architekten scheinbar willkürlich die Merkmale historischer Architekturstile zu einem je individuellen Best-of der Baugeschichte verrührten. Die Zeiterfahrung, die sie damit ihren Benutzern bescheren, ist die eines stehenden Jetzt. Ihre Funktion als Bunker zum Schutz des Volkes eines „tausendjährigen Reiches“ im absoluten Krieg, verleiht diesem stehenden Jetzt eine fatalistische Note und eine archaische Dimension: Es ist die absolute Gegenwart eines totalen Kriegs bei gleichzeitiger Antizipation der Stärke wie des zwar fernen, aber doch unausweichlichen Untergangs. Das Pathos dieses Schwebezustandes wird jedoch durch die Größe und Profanität der Gebäude gebrochen, und dass Topolovac sie uns als Miniaturmodelle vorstellt, unterstreicht das. Bauten die Architekten ein Walhalla im Mietshausformat, zeigt er uns den Weltgeist in H0. Neben den Bunkern ist Topolovac mit einer zweiten Werkgruppe vertreten, den Aggregaten, einer Kombination aus Skulptur und Höllenmaschine.

Ein Beispiel dafür, wie sich in den Werken, die Radu und Zitzwitz versammelt haben, Traum und Realität, Psyche und Physis in einer labyrinthischen Verweisstruktur überlagern, ist die Arbeit The Beast von Dumitru Gorzo. Gorzo unterhält seit einigen Jahren ein Atelier-Projekt namens The Continuous Studio, in das Leute kommen können, um mit ihm zu sprechen und zu arbeiten und in dem er die Gespräche, Stimmungen und Gefühle im Sinne einer Peinture automatique in Bilder übersetzt, die das, was Freud das Unbewusste nannte, möglichst unzensiert und unkontrolliert auf die Leinwand bringt. The Beast entstand kurz nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, die alle, die im Studio anwesend waren, nicht zuletzt deshalb halb verrückt machte, weil dieser brutale Angriffs- und Vernichtungskrieg der Vorstellung von der Roten Armee als Befreiungsarmee widersprach, die ihnen in den rumänischen Schulen anerzogen worden war und die sie – wider besseren Wissens – nie so ganz abgelegt hatten. So spiegeln sich in den Monsterfratzen die Angst und der Schrecken vor dem Krieg. Zugleich werden diese Gefühle jedoch von ihnen gebannt, weil sie das Furchtbare als etwas zeigen, das – obzwar es auf den ersten Blick erschreckt – auf den zweiten lächerlich erscheint, weil es uns in einer Gestalt gegenübertritt, die grotesk und fantastisch ist. Gorzos Biest ist ein unmögliches Ungeheuer, ein zweiköpfiges Monster ohne Anfang und Ende, das den Schrecken verjagt, indem es ihn künstlerisch verwandelt.

Damit verbindet Gorzos Arbeit die surrealistische Kunst einer Écriture oder eben Peinture automatique mit dem mittelalterlichen Bestiarium und den Dämonen, wie wir sie aus den Verzierungen der Kirchen kennen. Diese Dinge besitzen ihre magischen Fähigkeiten, weil es Sachen sind, die zugleich Bedeutung haben. Sie gehören dem gleichen Zwischenbereich an, wie die Sprache des Unbewussten, der Bilder und der Metaphern. Es ist auch die Sprache des Mythos. Der Altertumsforscher Georg Friedrich Creuzer schreibt dazu in seiner Symbolik und Mythologie der alten Völker: „Der Mythos ist wild gewachsen, die Natur aber trennet und unterscheidet nicht, wie der Begriff und die Reflexion sondern und unterscheiden. Sie wirket und bildet in fließenden Übergängen. Daher durchdringen jene mythischen Elemente eines das andere, im Großen wie im Kleinen. Jene Äste und Zweige haben ihre Verastungen und Verzweigungen, und das Ganze steht vor uns als ein einziger großer Baum, aus Einer Wurzel erwachsen, aber nach allen Seiten hin verbreitet mit unzähligen Blättern, Blüten und Früchten.“

Die Sprache des Mythos ähnelt der Sprache des Unbewussten. Beide ordnen und unterscheiden nicht wie der Logos, sondern sie bilden „fließende Übergänge“, das eine entfaltet sich aus dem anderen, wie die Falten in Zitzwitz‘ Bildern. Diese Sprachen erzeugen ein labyrinthisches Geäst wie die Filme und Texte Resnais‘ und Robbe-Grillets. Sie funktionieren wie ein Scharnier zwischen Traum und Realität, Psyche und Physis, Bild und Sprache.

Was das heißt, lässt sich etwa an Alicja Kwades Arbeit Ein Monat (Februar 2020) (2021) beobachten. Kwade hat die Stunden des Monats Februar festgehalten, indem sie die Zeigerstellung einer Uhr aufzeichnete. Dazu hat sie kleine Uhrzeiger, wie sie zur Fertigung von Taschenuhren verwendet werden, auf ein Papier geklebt. In ihrer Darstellung wird die Regelmäßigkeit des Zeitverlaufs auf der Uhr jedoch dadurch unterbrochen, dass ihre eigene Erfahrung der Zeit die Darstellung beeinflusste. Manche Stunden sind in die Länge gezogen, andere verdichtet. Mithin wird ein Widerspruch zwischen dem Vergehen und dem Messen der Zeit sichtbar. Denn Zeit ist uns nur durch Veränderung erfahrbar. Diese Erfahrungen sind jedoch höchst subjektiv und perspektivisch. Die Uhr abstrahiert davon, indem sie das Vergehen der Zeit einem Uhrwerk unterstellt und so das unaufhörliche Fließen kleinster und verzweigtester Veränderungen einer logischen Ordnung unterwirft ¬– so, als würde man den Baum, von dem Creuzer oben spricht, in gleichmäßige Stücke zersägen oder schreddern und die Späne dann neu zusammensetzen. Erfahrene und gemessene Zeit verhalten sich zueinander wie ein blühender Baum zu einer Spanplatte. Indem Kwade das reglementierte Vergehen der Zeit in ein Bild der individuellen Erfahrung von Zeit zurückübersetzt, hebt sie diese Absonderung auf und schließt die Zeit wieder an die Lebenswelt an. Die Sprache, die ihre Arbeit dabei spricht, ist eine Sprache des Bildes. Sie ist insofern der Sprache des Unbewussten oder des Mythos vergleichbar, als sie in jener Zwischenschicht angesiedelt ist, die sich zwischen den Dingen und dem Logos aufspannt, weil die Dinge, wie der Philosoph Hans Blumenberg schreibt, hier Bedeutung haben, diese Bedeutung aber noch nicht in den Begriff überführt bzw. darauf abstrahiert worden ist. Kwade erreicht diese Sprache, indem sie die logische Bezeichnung der Zeit in Bilder ihrer Erfahrung zurückübersetzt.

In dieser Sprache erzählen, wie Radu und Zitzwitz sagen, die Arbeiten in der Ausstellung. Die Geschichte, die Kwade erzählt, ist eine Befreiungsgeschichte. Denn indem Kwade die Erfahrung der Zeit an ihre Lebenswelt wieder anschließt, bricht sie den Absolutismus der Wirklichkeit, wie ihn jeder kennt, der schon mal von einem Termin zum anderen gehetzt ist oder einen Zug verpasst hat – und eröffnet einen kleinen Freiraum, in dem nicht das Diktat der Uhr, sondern das individuelle Empfinden und Erleben den Verlauf der Zeit bestimmen. Und indem sie dafür eine gemeinsame Sprache mit dem Betrachter findet, in der sie ihm davon erzählen kann, eröffnet sie auch ihm die Möglichkeit, aus dem Absolutismus der Wirklichkeit in die Lebenswelt auszubrechen und auf seine eigene Erfahrung der Zeit wieder aufmerksam zu werden. Und das wirkt befreiend: Kwades Zeigerstellung nachvollziehend, durchschreiten wir unsere eigene kleine Insel einer Zeit, die nicht uns bestimmt, sondern die wir selbst bestimmen.

Olivia Berckemeyers Arbeiten sprechen dieselbe Sprache, sie erzählen jedoch andere Geschichten. Das Berliner Fenster (2018) ist das Bild einer Sehnsucht ohne Aussicht. Die Arbeit bezieht sich auf eine architektonische Besonderheit von Berliner Wohnungen, die darin besteht, dass als Hauptaufenthaltsraum lange Zeit ein Zimmer diente, das nur ein kleines Fenster zum Innenhof hatte. Als Friedrich Engels 1893 den Arbeiterführer Wilhelm Liebknecht in der Kantstraße besucht hatte, schrieb er dazu in einem Brief: „Hier in Berlin hat man das ‚Berliner Zimmer‘ erfunden, mit kaum einer Spur von Fenster, und darin verbringen die Berliner den größten Teil ihrer Zeit. Nach vorn hinaus gehen das Eßzimmer (die gute Stube, die nur bei großen Anlässen benutzt wird) und der Salon (noch vornehmer und noch seltener benutzt), die Schlafzimmer nach dem Hof.“

Engels missfiel das Berliner Zimmer sehr. Er nannte es weiter: „diese in der ganzen anderen übrigen Welt unmögliche Herberge der Finsternis, der stickigen Luft, & des sich darin behaglich fühlenden Berliner Philistertums.“ Berckemeyer löst das Berliner Fenster aus seiner historischen und sozialen Verortung und verwandelt dieses Requisit der Kleinbürgerlichkeit und des 19. Jahrhunderts in ein Fossil, mit überzeitlicher und existenzieller Bedeutung. Das gelingt ihr, indem sie ihr Modell des Fensters mit Wachs beträufelt und davon einen Aluminiumabguss macht. Der tropfende Wachs verbindet das Fenster mit tropfenden Kerzenstöcken gotischer Kathedralen genauso wie mit der „Kerzentropfsentimentalität von verräucherten Kneipen der siebziger Jahre“ oder den Gebilden aus Tropfstein, die man in den entsprechenden Höhlen bewundern kann, die mitunter Millionen von Jahren alt sind. Mithin überlagern sich im Berliner Fenster mehrere Zeitschichten. Der Aluminiumabguss gibt diesen überzeitlichen Artefakt Dauerhaftigkeit. Als dauerhaftes und überzeitliches Fossil streift es auch seine klassenspezifische Bedeutung ab und verwandelt sich in das existenzielle Bild einer Sehnsucht ohne Aussicht auf Erfüllung, die sich zu unterschiedlichen Zeiten je anders aktualisiert, im Grunde aber immer gleich bleibt. Das verbindet das Berliner Fenster mit dem Mythos. Es ist ein mythologisches Fossil, das von der „ewigen Wiederkunft“ (Nietzsche) oder „zeitlosen Immer-Gegenwart“ (Thomas Mann) des Unglücks erzählt.

Ein mythologisches Fossil zu sein, das trifft auch auf die zweite Arbeit zu, mit der Berckemeyer vertreten ist, Frozen Blue Ship (2019). Berckemeyer bezieht sich damit auf die Endurance, mit der Ernest Shackleton 1914 versuchte, die Antarktis zu durchqueren. Das Schiff blieb im Packeis stecken. Die Besatzung saß fast ein Jahr fest und kämpfte um das Überleben. Nach knapp einem Jahr konnte sie sich befreien, das Schiff aber sank. Berckemeyers Modell des Schiffes verwandelt auch diese individuelle Geschichte des Scheiterns und des drohenden Untergangs in eine existenzielle Erzählung. Das Frozen Blue Ship fungiert dabei als etwas, das Blumenberg ein Leitfossil nennt, es ist ein sedimentiertes Artefakt unserer Kultur, das unsere Neugierde auf ein bestimmtes Wissen lenkt. Dieses Wissen ist nicht theoretischer, sondern archaischer oder mythologischer Natur. Es betrifft, wie Thomas Mann einst über den Mythos und die Psyche schrieb: „das zeitlose Schema, die fromme Formel, in die das Leben eingeht, indem es aus dem Unbewussten seine Züge reproduziert“. Und dieses Schema ist der Untergang, das Scheitern aller Ambitionen und die Einsicht, dass sein Glück preisen muss, wer mit dem Leben davongekommen ist.

Eine archaische Sprache des Unbewussten sprechen auch die Arbeiten von Mircea Suciu The fish, that cannot cheat (2021) und Still life with Caterpillar (2022). Suciu sagt, dass er versuche, seine Angststörung in Bilder zu übersetzen, die diese gleichsam artikulieren wie behandeln. So ist der Fisch für ihn nicht nur ein Symbol der Angst, in der man wie in einem tiefen Wasser ertrinken kann, sondern ein Symbol der Befreiung, weil er (in der Angst) schwimmen kann. Sucius Bilder sind wie Moodboards angelegt, die weißen Trennlinien zitieren den Splitscreen aus dem von ihm bewunderten Kino der 1960er Jahre. Seine Malweise orientiert sich oft an alten Meistern. So zitiert der untere Teil von Still Life with Caterpillar ein Stillleben von Pieter Gerritsz van Roestraeten, der Fisch ist im Stile Soutines oder Courbets gemalt. Suciu versteht das als Veredelung und Überwindung. Die Vorlage für den Fisch war ein Werbefoto. Indem er diese Vorlage im Stile alter Meister auf die Leinwand überträgt, wertet er sie auf, veredelt sie zur Kunst. Durch diese Veredlung wird das, was der Fisch symbolisiert, etwa die Angst, zugleich ein Stück weit überwunden, weil ihr Symbol in eine höhere Sphäre überführt wird. Die Auseinandersetzung mit alten Meistern leitet diese Überwindung in einer Art und Weise an, die ihr Struktur und Halt gibt. Therapeutisches Malen. Zugleich erzeugt auch sie jene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und eine Palimpsest-artige Überlagerung der Zeiten, Stile und Medien, die diese Ausstellung auszeichnet. Louisa Clement ist mit drei Arbeiten vertreten. Die Fotos dt1 und dt2 (2021, 2022) werfen einen tiefen Blick in die Unterwelt des Soltau, genauer gesagt auf den Grund des Dethlinger Teiches, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg unzählige Waffen und Bomben entsorgt worden sind, zunächst von den Deutschen, dann von den Alliierten. Nach Kriegsende wurde der Teich einfach zugeschüttet. Die Waffen verrotteten und setzten ihre Giftstoffe in das Grundwasser frei. Das ließ sich irgendwann nicht mehr ignorieren und das verdrängte Erbe des Krieges musste gehoben werden. Clement begleitete die Freilegung fotografisch und schafft so ein künstlerisches Zeugnis der Aufarbeitung. Das verbindet ihre Arbeit mit Resnais‘ Interpretation seines Filmes, der die Gespräche von X und A als therapeutischen Versuch ansah, das Verdrängte wieder zutage zu fördern. Kommunikation ist auch das Thema der dritten Arbeit von Clement. Die VR-Arbeit Aporias (2019) zeigt drei Figuren. Es sind Chatbots, die allerdings nicht, wie es eigentlich gedacht ist, mit Menschen reden, sondern miteinander. Einer ist ein Standard-Chatbot, einer redet wie ein Mensch, ein dritter lügt. Die Kommunikation gerät so in eine endlose Schleife von Gesprächen, in der sich Aussagen wiederholen und verschieben, ohne zu einem Ziel zu gelangen.

Ziellose Wiederholung und Variation in der Kommunikation sind auch Gegenstand einer Arbeit von Ambra Viviani, die eine Reihe von Fotos ausstellt, die sich wie ein Bild-Chat lesen lassen. Dabei entsteht zunächst der Eindruck, als antworteten die Bilder aufeinander, insofern sich Dinge entsprechen oder wiederholen. Bei genauerem Hinsehen erkennen wir jedoch, dass das nicht zutrifft. Was auf den ersten Blick gleich aussah, ist doch verschieden. Was sich zu wiederholen schien, ist doch etwas anderes. Es gibt keinen Dialog, sondern nur gegeneinander gerichtete Monologe, die die Teilnehmer immer tiefer in ein Labyrinth der Nachrichten führen, aus dem sie nicht entkommen.

Wie aber ist ein Ausgang aus dem medial vermittelten Labyrinth unserer Kommunikation möglich? Auf diese Frage antwortet Vivianis zweite Arbeit, eine von der Decke herabhängende Hand. Die Arbeit erinnert an die Rechte-Hand-Methode, die es erlaubt, einfachere Irrgärten zu verlassen, in dem man beim Durchlaufen mit einer Hand immer Kontakt zur Wand hält. So gelangt man entweder zum Ausgang oder zum Startpunkt zurück – und kann einen anderen Weg versuchen. Mit der Verwendung der Hand wechseln wir das Medium und den Zugang zur Welt, vom Auge zur Hand, von der Sicht- zur Tastwahrnehmung. Dieser Wechsel beschäftigt Viviani in vielen Arbeiten. Mit ihm ist die Frage verbunden, ob wir uns nicht generell besser in der Welt zurechtfinden könnten, wenn wir sie weniger mit dem Sehsinn und mehr mit anderen Sinnen wahrnehmen würden. In der hier ausgestellten Arbeit ist das der Tastsinn. Die Hand, die Viviani von der Decke hängen lässt, verweist auf den Tastsinn als – wie schon die Sensualisten sagten – wahreren Sinn für die Wahrnehmung der Welt. Mit der Handspanne, die die Plastik nachempfindet, verweist sie überdies auf ein dem Menschen gemäßes Maß. Die Kritik an einer medial verfremdeten, in ihren uneindeutigen Zeichen unverständlichen und immer weniger handhabbaren Welt, verbindet ihre Arbeiten mit dem Bild P.O.V. von Strassburger. Die einzelnen Positionen in der Ausstellung weben ein Labyrinth, in dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, psychisches Innenleben und physische Außenwelt, Traum und Realität derart überlagern, dass sie ununterscheidbar werden. Sie erzählen Geschichten in der Sprache der Dinge mit Bedeutung, des Bildes, des Mythos und des Unbewussten und sie sind durch zwei Ordnungen verbunden. Die eine Ordnung ist die der Hängung, die andere ist die des Mythos.

Die Ordnung der Hängung stellt abstraktere Positionen auf der einen Wand konkreteren Positionen auf der anderen Wand gegenüber. Beide werden durch die Installation von Haleh Redjaian zusammengehalten, die dünne Fäden von den Wänden zum Boden spannt und damit den Eindruck einer Verbindung, eines Zusammengehalten-Werdens erzeugt. Ihr gelingt das, weil auch die abstrakteste Installation eine psychische Wirkung auf ihre Betrachter hat. Wassily Kandinsky schreibt dazu in seinem Buch Concerning the Spiritual in Art: “Here the individual is placed not outside the artwork or in front of it but inside the artwork, and totally immersed in it. Such an artificial environment can create a powerful subconscious effect on the spectator, who becomes a visitor to, if not a prisoner of, the artwork.”

Wie groß dieser Effekt davon sein kann, wissen wir nicht nur aus Museumsbesuchen, sondern auch aus den Gefängniszellen, die Alphonse Laurencic im spanischen Bürgerkrieg gebaut hat, um die Insassen zu foltern, denn er orientierte sich in der Gestaltung der Zellen an den Arbeiten von Kandinsky, Dali und dem Bauhaus. Die neuere Geschichte des Ausstellungshauses als Gefängnis der Securitate hätte Anlass gegeben, daran anzuschließen. Redjaians Arbeit tut das jedoch nicht, sondern vermittelt durch ihre ausgewogene Komposition und durch die gespannten Fäden eine völlig andere Wirkung, nämlich die der Ruhe und der Vereinigung dessen, was auseinanderstrebt. Die Arbeit ist ein Garten in der Mitte des Labyrinths.

Sie erschöpft sich jedoch nicht in der stabilisierenden, vermittelnden Funktion, sondern schafft in der Kommunikation mit dem Gebäude (und insbesondere den Aufgangstreppen) einen Durchgangsraum. Sie provoziert uns, durch eine der Türen aus dem Raum heraus und – da der nächste Raum leer ist – durch die andere Tür wieder hineinzugehen und noch einmal durch die Ausstellung zu gehen. Diese sehen wir nun ein zweites Mal, aber eben anders. So inszeniert die Installation die thematischen Grundfiguren der Schleife und der Wiederholung als Bewegung der Besucher durch den Raum. Was aber sehen wir, wenn wir wiederholt durch die Ausstellung gehen, deren einzelne Positionen zu uns in der Sprache des Mythos und des Unbewussten sprechen? Gibt es einen Mythos, der sie verbindet? Ich glaube, dass das der Fall ist und ich glaube, dass dieser Mythos der Orpheus-Mythos ist, insbesondere der Teil, in dem Orpheus in die Unterwelt hinabsteigt, um seine Frau Eurydike wieder herauszuführen. Für den Film ist diese Verbindung verschiedentlich ausgemacht worden, weil sie schon der Eingangsmonolog nahelegt. Als X das Hotel betritt, redet er, als stiege er, gleich Orpheus, in die Unterwelt hinab: „Once again - I walk on, once again, down these corridors, through these halls. these galleries. in this structure - of another century, this enormous, luxurious, baroque, lugubrious hotel - where corridors succeed endless corridors - silent deserted corridors overloaded with a dim, cold ornamentation of woodwork, stucco, mouldings, marble, black mirrors ... "

Das Hotel erscheint dann als Hölle oder Hades, und A als Eurydike, die von ihm aus der Unterwelt hinaufgeführt werden soll. Dem entspricht auch die Interpretation Resnais‘, der meint, X rede mit A wie ein Psychologe, der das Verdrängte wieder zutage befördere. Die Hölle wäre dann das Unbewusste.
Beides finden wir in der Ausstellung wieder. Viele Positionen zeigen uns die Psyche als einen Abgrund, den sie zum Sprechen bringen, und indem der Ausstellungsraum diese Abgründe versammelt, gleicht er der Unterwelt. Das schwarze Tuch in Adelina Ivans zweiter, unbetitelter Arbeit, gleicht dann einem Totentuch und wir können nun erkennen, warum es wichtig ist, dass der Raum unter dem Leichentuch leer ist: Ivan hat ihn für uns freigehalten. An der Wand hängt unser Totenbett.

Anders als im Mythos stiegen wir in Malmaison jedoch nicht in den Hades hinab, sondern zu ihm hinauf – so, als würden wir ihn wie Orpheus und Eurydike verlassen. Damit wird eine besondere Verschiebung in der Wiederholung des Mythos deutlich. Das große Rätsel im Orpheus-Mythos ist die Frage, wieso Orpheus sich umblickt, als er, Eurydike voranschreitend, mit ihr hinaufsteigt. Schließlich war ihm genau das von Hades und Persephone verboten worden. Eurydike könne mit ihm die Unterwelt verlassen, sagten sie, sofern er ihr immer voranschritte, sich aber nie nach ihr umdrehte. Doch Orpheus hält sich nicht daran, er blickt sich um und Eurydike verschwindet.

Im Mythos gibt es keine zweite Chance. Orpheus kann nicht zurückgehen und es noch einmal versuchen. In L’année dernière à Malmaison ist das anders. Wir steigen gleich Orpheus und Eurydike hinauf, aber kommen nicht ans Tageslicht, sondern in die Unterwelt hinab. Wie Resnais mit dem Marienbader Hotel haben Radu und Zitzwitz die Hölle auf die Erde gehoben. Anders als A im Film können wir ihr aber nicht entkommen. Es gibt keinen Liebhaber, der uns hinausführte, sondern nur verschiedene Variationen des Untergrundes. Und die Türen, die uns hinauszuführen versprechen, führen uns wieder hinein. Es ist wie im Hotel California, der großen Katabasis der Eagles: “You can check out any time you like, but you can never leave.”

Der Hades ist immer und überall, denn er ist kein physischer Ort, als welcher er uns im Mythos erscheint, sondern das innere Ausland tief in uns drin. Unser Herz der Finsternis. Zuweilen leuchtet jedoch auch dort die Schönheit, und die Schönheit ist ein Versprechen des Glücks.
Björn Vedder